Zen im Dachgeschoß: „Ich machen besser“

Zwei Monate können eine lange Zeit sein. Vor allem zwei Monate in einer neuen Wohnung. Zumal wenn diese Wohnung allzu neu, will sagen: erst halbfertig ist. Wie eine schiefe Eingangstür mein Leben veränderte oder: Zen und die Kunst, ein Dachgeschoß zu besiedeln.


Es muss was Wunderbares sein, Elektriker zu werden. Nehmen wir zum Beispiel Heinz S. Gelassen, in sich ruhend steht er, vielleicht Mitte 20, vor meiner neuen Therme. Nichts scheint ihn zu beunruhigen, wie er da so in den elektronischen Eingeweiden jenes Gerätes wühlt, das mir heute noch Warmwasser und in ein paar Monaten ein geheiztes Zimmer bescheren soll. Einfach bewundernswert, diese Sicherheit, mit der er hier an einem Kabel zupft, da den Spannungsprüfer anlegt, wo unsereiner vor Leitungen, Drähten, Schaltkreisen längst die Therme nicht mehr sähe.

Selbst jetzt, da er ins anliegende Badezimmer strebt, den Installateur zu konsultieren, der hier dafür sorgen will, den alsbald strömen sollenden Warmwasserfluss in die rechten Armaturen zu lenken, ist S. noch immer ganz und gar Herr der Lage: Nur wer sich seiner Sache gewiss ist, kann die Größe besitzen, andere an seinen Entscheidungen teilhaben zu lassen.

Zu zweit blicken sie alsbald meiner Therme ins elektronische Gekröse, zupfen hier an einem Kabel, legen da den Spannungsprüfer an, lauschend, sinnend, eins werdend mit dem Herzschlag der nur scheinbar toten Apparatur, durch deren metallene Adern der Wechselstrom des elektrischen Lebens pulst.

„Koarl, wos stinkt do?“ höre ich da unvermittelt Heinz S. dem Installateur zuraunen, und tatsächlich breitet sich im Raum ein zarter Hauch von schmurgelnden Kabeln aus. Doch selbst jetzt, im Augenblick dräuender Gefahr, verlässt keinen der beiden Handwerks-Souveräne die Gelassenheit der Könnerschaft: Bar jedes Zitterns oder Zagens schließen sie den Thermenkörper, wenden sich behände dem Ausgang zu und verlassen, ein entschiedenes „Mitn Woarmwossa wird’s heite nix mehr“ auf den Lippen, die Stätte ihrer Tätigkeit.


Unser Leben ist kurz, begrenzt, wie die Blasen an der Oberfläche des Flusses. Es ist wichtig, die Dinge vom Standpunkt des Flusses aus zu betrachten, nicht nur von jenem der Blase. (Taisen Deshimaru, 1914 bis 1982)


Zugegeben: Vor zwei Monaten habe ich die ganze Thermen-Angelegenheit noch anders gesehen. Vor zwei Monaten war ich noch durchaus geneigt, der Einstellung des eilig herbeigerufenen Thermen-Servicetechnikers zu folgen: Der konstatierte kalt, die Therme sei „abgebrannt“, und nannte das Wirken von Heinz S. und seines Installateurskollegen Karl H. herzlos einen „Pfusch“.

Vor zwei Monaten hielt ich es auch noch – vorsichtig formuliert – für bemerkenswert, dass eben jener H., wie er freimütig bekannte, ohne langes Fragen einen Schaltkreis aus der Therme entfernt hatte. Warum? Er habe schlicht nicht gewusst, „wofür ma den braucht“. Zwei Monate freilich können eine lange Zeit sein. Vor allem zwei Monate in einer neuen Wohnung. Zumal wenn diese neue Wohnung allzu neu, will sagen: erst halbfertig ist.


Wenn ihr euch der Ausatmung übergebt und euch von der Einatmung anfüllen laßt, in einem harmonischen Kommen und Gehen, bleibt nichts als ein Zafu unter dem Himmel, das Gewicht einer Flamme. (Koun Ejo, 1198 bis 1280)


Meine neue Eingangstür veränderte mein Leben. Sie ist eine schöne Tür: dezentes Grau, Schnalle und Knauf aus gebürstetem Edelstahl, ein winziger Spion als Ausguck ins Treppenhaus. Sie ist das, was man gemeinhin eine Sicherheitstür nennt: starke Türblätter, eine Mechanik, die mit dem eigentlichen Riegel des Schlosses eine Reihe von metallenen Zapfen an allen Seiten in den Türrahmen versenkt. Genauer gesagt: versenken sollte, denn meine Eingangstür hängt schief in ihrem Rahmen, und also können die Zapfen nicht in die für sie vorgesehenen Ausnehmungen einrasten, und also ist das einzig Sichere an meiner Sicherheitstür, dass sie sich sicher nicht versperren lässt.

Den meisten mag es in einem solchen Falle naheliegend scheinen, beim zuständigen Bauherrn das zu monieren, was sie – vermeintlich mit gutem Grund – für einen Schaden halten. Nicht anders dachte ich, noch nicht teilhaftig geworden jener Handwerker-Weihen, die da folgen sollten.

In meinem Falle ist der Bauherr eine Bauherrin, in Personalunion auch Architektin des Dachgeschoßausbaus, den ich seit Anfang Juli bewohne. Ihr klagte ich meine Eingangstürennot, sie wiederum alarmierte den Türlieferanten, der zusagte, einen Monteur vorbeizuschicken; der kam tatsächlich, und zwar – mittlerweile weiß ich diese Gunst zu schätzen – nur eine gute Stunde zu spät, uns einen ersten Einblick in die Gnade tieferer Welteinsicht zu gewähren.

Ganz Konzentration blickte er scharf auf die Tür, dann auf deren Rahmen, schließlich auf den Spalt, der sich zwischen beiden scherenartig öffnet, um endlich mit einer fast jenseitig anmutenden, keinen Widerspruch duldenden Macht zu dekretieren: „Des san net mehr als fünf Millimeter, des is in der Toleranz.“ Sprach’s, drehte sich um und ging.

Im Dunkeln blieb bedauerlicherweise, was sich die Architektin in jenem Augenblicke dachte. Mir jedenfalls wurde jener in seiner Erkenntniskraft schier übermenschliche Türmonteur zum Ursprung eines neuen Blicks aufs Leben. Hatte ich mich vielleicht bisher, gleichnishaft gesprochen, zu sehr damit aufgehalten, Tag für Tag schiefe Türen ins Lot bringen zu wollen, statt mich an ihrem Anderssein zu erfreuen? Ihr Anderssein als Chance zu begreifen, neue Einsichten zu gewinnen in Wesen und Wirken der Welt? War ich womöglich, allzu sehr fixiert auf rechte Winkel, an der schiefen Schönheit des Kosmos vorbeigegangen? Und wer von uns wird auf versperrbaren Türen bestehen, wo sich doch jeder im Grunde seines Herzens nach mehr Offenheit unter den Menschen sehnt?


„Nun haben wir doch wohl das Schlimmste hinter uns“, sagte ich zum Meister, als er eines Tages den Übergang zu neuen Übungen ankündigte. „Bei uns rät man“, erwiderte er, „wer 100 Meilen zu laufen hat, solle 90 als die Hälfte ansehen.“ (Eugen Herrigel, 1884 bis 1955)


Allmählich begann ich, die vielen dem herkömmlichen Realitätsverständnis nach eher im Irrealen angesiedelt scheinenden Handwerkerbegegnungen der nächsten Tage als das zu begreifen, was sie ganz offensichtlich waren: Lektionen auf einem Weg der Läuterung, der mich in meinem Dachgeschoß zu einem besseren Ich geleiten sollte.

Der Installateur, der den Brausekopf der Dusche in Nabelhöhe fixierte; der Tischler, der einen Griff so an einer Schranktür anbrachte, dass der sich bei jedem Öffnen unvermeidlich in die anliegende Zimmerwand bohrt; der Maler, der ein Stück Wand zu bemalen, der Gipser, der fertig zu vergipsen vergaß: Das konnte kein Zufall, das mussten Mitglieder einer geheimen Bruderschaft sein, ausgesandt, mir den Blick für das zu öffnen, was wirklich wesentlich sein mag.


Während man übt, darf man nichts erreichen wollen, was es auch sei.(Taisen Deshimaru, 1914 bis 1982)


Blicken wir Klaus K. über die Schulter. Klaus K., Tischler seines Zeichens, weiß, dass das kleine Glasbord, das er soeben über der Küchenarbeitsfläche montiert, in der Gipswand nicht genug Halt finden wird. Klaus K. weiß, dass das Bord bei der ersten Belastung nachgeben und sich nach unten senken, womöglich ausbrechen wird. Klaus K. weiß, dass sein Auftraggeber dann bei seinem Tischlerdienstherrn anrufen wird, um eine Behebung des Schadens zu urgieren. Klaus K. weiß, dass er abermals kommen, das mangelhaft montierte Bord abnehmen und ein anderes, besser zu fixierendes in die Wand wird schrauben müssen. Klaus K. weiß, dass all das für alle Beteiligten, für ihn, seinen Dienstherrn und den Auftraggeber, mit beträchtlichem Mehraufwand verbunden sein wird. Und trotz allem: Klaus K. montiert weiter, unbeirrbar, unerschütterlich.

Früher wäre ich geneigt gewesen, Klaus K. für einen dumpfen Ignoranten zu halten. Heute ahne ich: Für Klaus K. zählt nur das Hier und Jetzt, die unmittelbare Gegenwart. Hier ist das Bord, da ist die Wand, jetzt wird gebohrt, geschraubt, befestigt, mit welchem Erfolg, ist nicht weiter von Belang. Klaus K. folgt seiner Mission mit größter Akribie, völlig ergeben einem Werk, das nur wir ahnungslosen Abendländer, stets auf den vordergründigen Endzweck bedacht, für sinnlos halten: Ob das Bord irgendwann herunterfällt oder auch nicht, ist gleichgültig, nur auf die Gesinnung kommt es an, den unbedingten und ganz und gar konzentrierten Willen, die Mission zu erfüllen. Die Montage eines Küchenbords als meditative Übung: Wer wollte da Klaus K. mit ungebührlichen Bord-Festigkeitsforderungen aus seiner inneren Versenkung reißen?

So störe ich ihn auch nicht weiter, als er eine Mikrowelle mit Nirosta-Front statt der bestellten weißen in meinen Hochschrank fügt. Ich lehne mich zurück, genieße die Behendigkeit der Griffe, der Handreichungen, versinke selber von Minute zu Minute mehr in mich und fühle plötzlich, wie alle Sorgen, aller Kummer von mir abfallen, jeder Gedanke an wackelnde Borde, abgebrannte Thermen in Nichts zerstiebt.

Dass ich, vom Trommeln einer Schlagbohrmaschine in der Nachbarwohnung aufgescheucht, einen bedauerlichen Rückfall in mittlerweile überwunden geglaubte Zeiten der Zweckfixiertheit erlitt und alsbald tatsächlich die Behebung des Bord-Problems samt Tausch der Mikrowelle forderte, sei hier einbekannt. Tröstlich genug, dass beides bis dato ohne jede Folge blieb.


Wenn der Geist zu vagabundieren beginnt, folgt ihm nicht, wenn er sich irgendwo aufhalten möchte, setzt euch dort nicht fest, und euer Geist wird von selbst einverstanden sein, nicht mehr zu vagabundieren und sich aufhalten zu wollen. So werdet ihr erreichen, einen Geist zu haben, der in einem Zustand der Nichtverfestigung bleibt. (Hyakujo Ekai, 720 bis 814)


Klaus K. ist kein Einzelfall. Das bestätigt mir seit Wochen jeder, kaum kommt die Sprache auf einschlägige Erlebnisse. Wobei schmerzhafterweise zu bemerken ist, dass nur die wenigsten ihre Begegnungen mit heimischen Professionisten dafür nützen, wofür sie meiner Einsicht nach vor allem taugen – für Einkehr und Selbstreflexion. In der Mehrheit dominiert der Ärger über das, was viele oberflächlich für Schlampereien halten, der Verdruss über Unverlässlichkeit, Unpünktlichkeit und sonstige Unannehmlichkeiten aller Art. Nicht zu vergessen die angeblich so überhöhten Stundensätze.

In Wahrheit freilich zieht das eine unvermeidlich das andere nach sich: Genau dieser Ärger kann nämlich, richtig kanalisiert, unvergleichlich wirksames Movens der inneren Reinigung sein. Wie viel erfährt man über sich selbst angesichts einer wackelnden Zimmerwand? Was alles drängt aus dem bis dato dumpf Unterbewussten ans Licht, bemerkt man, dass in der einen oder anderen Steckdose kein Strom fließt? Und wen schlüge es nicht in seinen Bann, endlich das Tier im Selbst zu sehen, wenn unvermittelt und unerklärlich das Wasser der Dusche versiegt? Jetzt einmal überschlagsmäßig gerechnet: Wie viele Stunden konventioneller Selbsterfahrung würde es brauchen, Vergleichbares zutage zu fördern? Und was würde wohl ein Therapeut dafür kassieren?


Nicht gefesselt zu sein, weder von der Gesellschaft, noch vom Ego, das ist _ denke ich _ die wahre Freiheit. Diese Freiheit, das ist die Nichtangst erfassen. (Kodo Sawaki, 1880 bis 1965)


Fast hätte Tadeusz alles zerstört. Eines Tages stand er vor der noch immer schief in ihrem Rahmen hängenden Eingangstür und begehrte Einlass: Er solle jene Mängel beheben, die einige Handwerker unbehobenermaßen hinterlassen haben, gab er in gebrochenem Deutsch zu verstehen und machte sich auch ohne weitere Umstände an die Arbeit.

Mängel? Welche Mängel? Mittlerweile waren sie mir richtig ans Herz gewachsen, die offenen Fugen zwischen Wand und Fensterrahmen, die verbeulte Blechabdeckung an der Terrassentür, die niemals verspachtelten und ausgemalten Gipswand-Stücke, die ihr untergrundiges Grün geheimnisvoll aus mancher Ecke schimmern ließen. Was gab es da zu beheben? Längst hatte mich ihre spröde Schönheit ganz für sie eingenommen, eine Schönheit fernab der glatten Perfektion, die nun ihren Einzug halten wollte.

Denn Tadeusz war nicht aufzuhalten. Erbarmungslos rührte er Spachtelmasse an, füllte hier eine Lücke, verfugte da einen Spalt, nicht ohne davor zum Schutz des Bodens feinsäuberlich Papier ausgelegt, nicht zu bemalende Stellen abgeklebt zu haben. Und die Geschwindigkeit, die kalte Präzision, nicht zu vergessen der nicht zu übersehende Erfolg, mit dem all das geschah, entlarvte ihn als das, was er, kaum wage ich’s zu sagen, tatsächlich war: Nein, das konnte nicht die Handschrift eines heimischen Professionisten sein, hier war – horribile dictu – ein Pfuscher am Werk.

Und nicht allein, dass er die ihm übertragenen Aufgaben in atembenehmendem Tempo erledigte! Auch was ihm sonst noch zweifelhaft schien, wurde kompromissloser Korrektur unterworfen. Die Kinderzimmerleuchte, die ich nur mittels offenem Kabel vom Stromauslass weg in die Mitte der Decke verlegt hatte? „Das nicht gut“, meinte Tadeusz knapp. „Ich machen besser.“ Schon war die Decke aufgeschrämt und der Stromauslass dort, wo er von vornherein hätte sein sollen. Und er hätte wohl auch noch die Wohnzimmerwände festgedübelt, die Wiener Innenausbau-Spezialisten unbefestigt hinterlassen hatten, wäre ich ihm nicht in den Arm gefallen: Das sollte doch besser die heimische Handwerkerschaft beheben – auf dass mir so lang wie irgendmöglich der längst gewohnte Zauber der Unvollkommenheit bliebe.


Zazen ist, im Leben den Tod anschauen, es ist, lebend in seinen Sarg steigen und die Lösung für das Problem des Todes zu finden. Diejenigen, die dieses grundlegende Problem lösen, können das wahre Glück im Leben finden. (Taisen Deshimaru, 1914 bis 1982)


Die finale Erleuchtung kam, als das Licht ausging. Das Licht einer Küchenleuchte, die ich im heimischen Fachhandel erstanden und im Augustschweiße meines Angesichts in die Betondecke gedübelt hatte. Erst tat sie auch tatsächlich, was von ihr zu erwarten war: Sie tauchte den seit Wochen allabendlich im Dunkel versinkenden Küchentisch in gleißend-weiße Halogenhelligkeit. Doch wenig später: ein erstes Flackern, dann nur mehr Blinken, schließlich Finsternis.

Und im Schummer der Stadtnacht zogen sie noch einmal an mir vorüber, die geheimnisvollen Gestalten, teils persönlich, teils nur aus Erzählungen bekannt: der Elektriker, der das von ihm angesägte Gasrohr, angesägt, wie es war, hinter einer Steckdose verbarg; die Maurer, die überschüssigen Zement via Klosett entsorgten; der Installateur, der eine Duschtasse montierte, wo kein Abfluß war.

Und ich fühlte mich frei, frei wie noch nie. Was konnte mir schon noch passieren? Zwei Monate und zwei Dutzend Handwerkerbesuche hatten mich sicher gemacht, fast möchte ich sagen, unverwundbar: Wer das übersteht, braucht nichts im Leben mehr zu fürchten.

Und wenn auch die Glaswand für die Dusche noch immer nicht steht, wo sie stehen soll, wenn auch die Tür zur Terrasse noch immer klemmt, wenn auch der Elektriker noch immer außerstande ist, die von ihm selbst installierte Entlüftung in Gang zu setzen, genauso, wie er an der Gegensprechanlage scheitert, wen kümmert’s?

Gelassen sitze ich in meinem Dachgeschoß, ganz der Gegenwart hingegeben, eins mit dem Hier und Jetzt. Was morgen sein wird, grämt mich nicht, was gestern war, ist längst von mir abgefallen. Ich sitze da, so wie es der Zen-Meister Taisen Deshimaru einmal empfohlen haben soll – ohne Ziel und ohne Streben nach Nutzen. Wer diese Übung nach zwei Wiener Handwerkermonaten nicht beherrscht, dem ist nicht zu helfen.


„Die Presse“, „Spectrum“, 2. September 2000

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