Meteorologen tun es. Wirtschaftswissenschaftler tun es. Weltuntergangspropheten tun es. Astrologen tun es. Trendforscher tun es. Und alle behaupten, sie können es: Sie sagen vorher. Der Blick in die Zukunft oder: wie das ist, wenn alles falsch ist.
Ich prophezeie: Das Jahr 2001 bringt die große Trendwende in der Wirtschaftspolitik; der neue US-Präsident, Bill Gates, erklärt in seiner Rede zum Amtsantritt, die freie Marktwirtschaft habe versagt; die USA verstaatlichen Coca-Cola, McDonald’s und Microsoft, die EU beschließt ein Verbot von Privateigentum. August 2010: Die Polkappen schmelzen, der Atlantik kocht; Seefisch blau an allen Stränden. 3. November 2020, vier Uhr nachmittags: kein Nebel in London.
Sie glauben mir nicht? Warum glauben Sie all den anderen, die Sie Tag für Tag mit ihren Vorhersagen traktieren?
Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Wo sind die Zeiten, da düstere Priester in tierischen Eingeweiden wühlten, um herauszufinden, was kommen werde? Da delphische und andere Orakel mit ihren dubiosen Sprüchen das Fatum mehr verdeckten als enthüllten? Da das, was werden würde, noch Gegenstand der Metaphysik und nicht eines kühl berechneten Kalküls gewesen ist?
Längst haben unsere Propheten die Därme gegen Bits und Bytes getauscht, Kristallkugeln gegen Bildschirme, Beschwörungsformeln gegen mathematische Modelle. Was einst der intuitiven Kraft eines Einzelnen, ganz und gar subjektiv, vorbehalten blieb, kommt heute als objektives Faktum daher, auf das sich Menschen, Völker, ganze Staatssysteme stützen. Die Zukunft hat, so will es scheinen, keine Zukunft mehr, weil sie Vergangenheit ist, noch ehe sie beginnt.
Nackt und bloß liegt sie vor uns, analysiert und disputiert, in unzähligen Prognosen, Projektionen und Szenarien apodiktisch festgelegt. „So wird sie und nicht anders!“, klingt es uns im Ohr. Doch wird sie so? Ist am Ende der Bauchinhalt von Opfertieren gar nicht so viel weniger zuverlässig als das, was im Gekröse unserer High-Tech-Maschinen rumort?
„Ich mach‘ das G’schäft seit fast 30 Jahren, warum’s manchmal falsch ist, das liegt in der Natur.“ Peter Sabo rührt abgeklärt in seiner Kaffeetasse. Die Karten, die er aufschlägt, will er in die Zukunft blicken, zeigen kein Kreuz, kein Herz, weder Buben noch Könige, nur Tief- und Hochdruckzonen, und doch gilt sein Beruf als kaum seriöser denn Wahrsagerei. Sein „G’schäft“: Meteorologe in der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik auf der Wiener Hohen Warte. „Ich kann mich erinnern, das war Mitte der Siebziger, zu Ostern, ich war für die mittelfristige Prognose am Gründonnerstag zuständig, da haben wir Südwestströmung vorhergesagt, Warmluft, auf der Alpensüdseite Regen, bacherlwarm. Und am Sonntag ist in Österreich eine Hucke Schnee gelegen.“ Immerhin: „So etwas kann heute nicht mehr passieren.“
Schließlich habe sich einiges zum Besseren verändert: „Bis Ende der Siebziger sind wir im Blindflug gestartet. Da hat’s diverse Faustregeln gegeben, und mit denen hat man π mal Daumen prognostiziert.“ Heute könne man für jeden Punkt von Europa Zahlenmaterial abrufen: „Wir haben zum Beispiel für die nächsten zehn Tage Frühtemperatur, Höchsttemperatur, Wind, Niederschlag, alles Mögliche.“
Datenlieferant ist der „wahrscheinlich größte zivile Rechner der Welt“, der in Reading bei London Messwerte in Vorhersagen verwandelt. Peter Sabo: „Bei uns kommen die Daten rein, und dann folgt die Arbeit des Meteorologen. Manchmal glaubt man alles, manchmal nicht. Es gibt empirische Regeln, die man gegen alle Modelle einfließen läßt.“ Nüchterne Bilanz aus drei Dezennien Wettervorhersagen: „Über die richtigen Prognosen soll man sich wundern – und über die falschen nicht ärgern.“
Ein schwacher Trost? „Es gab Untersuchungen, da hat man überprüft, was wäre, wenn es 100-prozentige Wetterprognosen für 40, 50 Tage gäbe. Da ist man draufgekommen, dass das ganze Wirtschaftsgefüge zusammenbräche.“ Wieso? „Nehmen wir an, man wüsste, im Jänner fällt in den Südalpen kein Schnee – wer fährt denn dort noch hin? Andererseits: Westösterreich wird zugeschneit – die würden den Ansturm nicht aushalten.“ Also: „Seien wir froh, dass man nicht alles weiß.“
Matthias Horx hat keine Termine frei. Nein, ein Treffen sei nicht möglich, aber ich könne ihm meine Fragen schicken, bescheidet mir der deutsche Trendforscher. Wenig später schält sich mein hochnotpeinliches Verhörskonzept aus dem Faxgerät seines Waldviertler Feriendomizils: Keine Zeit für eine Begegnung – ist das ein Trend, Herr Horx? Nach zwei Tagen Bedenkfrist die Antwort: „In der Tat sind Zeit und Zeitsouveränität wichtige Kategorien des individuellen Lebens der Zukunft. Ich habe zwei kleine Kinder und will denen trotz Power-Job so viel Zeit widmen wie möglich. Da müssen manchmal Journalisten – leider – hintanstehen. Sorry!“ No problem.
Der vormalige Journalist und Science-fiction-Autor Jahrgang 1955 gehört gemeinsam mit John Naisbitt und Faith Popcorn zu einer Spezies, die der deutsche Wirtschaftsjournalist Holger Rust vor wenigen Monaten in seinem „Anti-Trendbuch“ mitleidlos abkanzelte: „Trendforscher erzählen Dinge von gestern und verkaufen sie den Managern als neue Errungenschaften.“
Matthias Horx seinerseits hält für Rust ein dürres „Wadlbeißer“ bereit. Und im Übrigen sei es „bei Trend- und Zukunftsforschern genauso wie bei guten oder schlechten Journalisten“: „Entweder sie schreiben Unsinn – oder eben nicht.“ Kein Unsinn jedenfalls ist ganz bestimmt, was Horx über unser aller Morgen zu sagen hat; schließlich folgt er in seiner Methodik „den Gesetzen der Informationsverdichtung und den Grundregeln der Soziologie“. Im Übrigen könne er nicht „irren“, denn er sage ja nicht „die Wiederkehr der Beatles für den 1. März 1999 voraus oder so etwas“, bei seiner Arbeit gehe es vielmehr um die „Diagnose von gesellschaftlichen Strömungen, Stilentwicklungen, Befindlichkeiten, Lebenstypen, ökonomischen und sozialen Evolutionen“; und da sei es allenfalls möglich, dass er „die Relevanz bestimmter Strömungen“ falsch einschätze, sie falsch gewichte.
Also finden wir uns damit ab, dass „unsere Arbeitswelt zunehmend von Deregulierung und ,Neuer Selbständigkeit‘ geprägt“ sein wird, dass das „egoistische Ausleben der eigenen Individualität“ unser Fatum ist. Matthias Horx sagt es, und Matthias Horx irrt nicht. Und wenn dennoch alles anders kommt, dann hat er nur ein bisserl falsch gewichtet.
Ein lauer Wind rauscht durch die Bäume des Laxenburger Parks. Besuch bei Wolfgang Lutz im Internationalen Institut für Angewandte Systemanalysen, kurz IIASA. Wieso wird man Prognostiker, Herr Lutz? „Das hat mich seit der Mittelschule interessiert. Damals, Mitte der Siebziger, ist der ,Club of Rome‘ mit den ,Grenzen des Wachstums‘ aufgetreten.“ Ach ja, die „Grenzen des Wachstums“: nicht gerade ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Zukunftsforschung. „Das Problem war“, meint Lutz, „dass man versucht hat, die ganze Welt in ein Modell zu packen, ohne auf regionale Unterschiede einzugehen. Man hat beispielsweise gedacht, immer, wenn das Wirtschaftswachstum um soundsoviel Prozent steigt, heißt das, dass die Fruchtbarkeit um soundsoviel zurückgeht, was einfach nicht stimmt. Das Modell hat eine Eigendynamik entwickelt und Sachen projiziert, die völlig von der Realität abgehoben haben.“
Die Verfeinerung der Prognosetechnik lässt mittlerweile manches Katastrophenszenario der Vergangenheit reichlich skurril erscheinen. Auch in Lutz‘ Spezialgebiet, der Bevölkerungswissenschaft: Alle 35 Jahre eine Verdopplung der Weltbevölkerung, hieß die gängige Annahme in den Siebzigerjahren. Davon ist heute keine Rede mehr. Wolfgang Lutz: „Derzeit haben wir rund 5,8 Milliarden Menschen, eine Verdopplung wären also 11,6 Milliarden. Zwei Drittel der von uns durchgerechneten Varianten bis zum Jahr 2100 liegen unter diesem Wert.“
Bis zur nächsten Korrektur? „Das Gefährliche ist die veröffentlichte Meinung. Es ist modisch, in eine bestimmte Richtung zu denken, sodass es sozusagen alle Experten auf einmal erwischt. Deshalb halte ich nicht viel von großen Ad-hoc-Annahmen, dass die Mikroelektronik diesen oder jenen Einfluss haben wird und so weiter; das sind sehr oberflächliche Antworten, die stark beeinflusst sind von Zeitströmungen, da muss man sehr vorsichtig sein.“ Das beste Mittel gegen Fehleinschätzungen: „Ein Dialog, der auch die Dissidenten hereinnimmt. Eine andere Methode sehe ich nicht. Aber das geschieht selten genug.“
„Der letzte Krieg wird der Bänkeabräumer sein. Er wird nicht lange dauern. So viel Feuer und so viel Eisen hat noch kein Mensch gesehen.“ Dem niederbayrischen Hirten und Mühlsteinschleifer Mathias Lang, Mühlhiasl genannt, schreibt man diese Prophezeiung eines Dritten Weltkriegs zu. Und wen grämt es schon, dass die Weissagungen des Mühlhiasl, irgendwann zwischen 1780 und 1825 angeblich getroffen, erst gut 100 Jahre später schriftlich fixiert wurden?
Der Mühlhiasl zählt wie der 1959 verstorbene Brunnenbauer Alois Irlmaier aus Freilassing zu jenen mysteriösen Figuren, deren düstere Visionen im Schatten der sogenannten Jahrtausendwende wieder im Schwange sind. So auch die kryptischen Überlieferungen des französischen Renaissanceastrologen Michel de Notredame, vulgo Nostradamus, der seine Prophezeiungen weitsichtigerweise so verklausulierte, dass ganze Generationen von Apologeten sich von deren jeweils endgültiger Entschlüsselung bestens nähren konnten. Nicht zu vergessen die vielstrapazierte „dritte Botschaft von Fatima“, die vom Papst so streng geheimgehalten wird, dass jeder, der nur will, sie publiziert.
All das und noch mehr hat der Geologe und vormalige Anti-Zwentendorf-Aktivist Alexander Tollmann zu einem Weissagungskompendium gefügt: „Das Weltenjahr geht zur Neige“ hat er das 500-Seiten-Werk betitelt, das ihn schnell in heimische Bestsellerlisten katapultierte. Wen wundert’s, erfährt doch der Leser ganz genau, wie und wann das sein wird, das Ende unserer Zivilisation. Und Hand aufs Herz: Wer möchte das nicht wissen? Die Apokalypse nach Tollmann: erst ein kurzer Dritter Weltkrieg, dann ein „Impact“, ein Kometeneinschlag, mit allem, was dazugehört, das Ganze in der zweiten Hälfte nächsten Jahres. Die Welt steht also auf keinen Fall mehr lang; und was tut einer, der das glaubt, in der knappen Zeit, die ihm noch bleibt? „Ich mache das wie der Luther“, gibt Tollmann zu Protokoll. „Der hat gesagt: ,Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, so würde ich doch heute mein Apfelbäumchen pflanzen.‘ Der hat ja selbst zweimal den Weltuntergang prophezeit und zweimal erlebt, wie das ist, wenn alles falsch ist; also ist es am besten, wenn man weitertut wie sonst.“
Was wäre eine Konjunkturprognose ohne ihre Korrektur? Zeitungen hätten jedes Jahr etliche Schlagzeilen weniger, Finanzpolitiker keine Ausreden mehr, ein grauenvoller Zustand. Doch keine Sorge, so weit wird’s nicht kommen. „Wir haben geschaut, wie weit liegen wir daneben“, erzählt Markus Marterbauer, Konjunkturprognostiker am Institut für Wirtschaftsforschung, kurz Wifo. Ergebnis: „In der Herbstprognose, die ist für die Budgeterstellung wichtig, haben wir rund einen halben Prozentpunkt plus/minus. Das ist relativ viel, ein halbes Prozent vom Bruttoinlandsprodukt bedeutet bei den Steuereinnahmen ein paar Milliarden.“
Wie kommt’s dazu? „Wir sind zu wenig von der Dynamik der Prozesse überzeugt, die wir beobachten. Im Aufschwung sind wir zu wenig optimistisch und in der Rezession zu wenig pessimistisch. Man hat die Tendenz, das ein bisserl zu planieren.“ Und: „Die größten Probleme treten an den Wendepunkten auf. Wenn man in einer Entwicklung drinnen ist, kann nicht mehr viel passieren.“
Andererseits verändert gerade die Konjunkturprognose jene Zukunft, die sie nur zu beschreiben vorgibt. „Wir wissen, dass die Frage, ob Unternehmer investieren, sehr stark von den Erwartungen der Unternehmer bestimmt wird. Und diese Erwartungen werden von uns auch produziert. Ein anderer Aspekt ist, dass die Konjunkturprognose von der Wirtschaftspolitik zum Anlass genommen wird, Handlungen zu setzen. Wir prognostizieren beispielsweise eine Rezession, die Wirtschaftspolitik sagt, wir wollen nicht, dass die Arbeitslosigkeit um die 20.000, die das Wifo vorhersagt, steigt, und wir werden deshalb eine Gegenmaßnahme setzen. Wir fordern die Wirtschaftspolitik heraus, etwas zu tun, damit nicht eintritt, was wir prognostizieren. In diesem Sinn können Fehlprognosen sogar günstig sein.“
Und wie steht’s um den Einfluss der Parteipolitik? Die Konjunktur – das ist doch bester Propagandastoff. „Direkte Einflussnahmen habe ich noch nicht erlebt.“ Nachsatz: „Allerdings ist es vielleicht so, dass man überlegt, womit man hinausgeht. Wir würden vor einem Wahltermin wahrscheinlich versuchen, möglichst wenige Angriffsflächen zu bieten.“ Aber das hat Markus Marterbauer, sagt er, nicht gesagt.
Ein Tipp für alle, die selbst Hand an die Zukunft legen wollen: Der Cartoonist Scott Adams, der seit knapp zehn Jahren mit der von ihm geschaffenen Figur „Dilbert“ US-amerikanischen Zeitungslesern zeigt, wie lustig das Angestelltenleben in tristen Großraumbüros ist, dieser Scott Adams hat kürzlich einen nützlichen Ratgeber für angehende Futurologen vorgelegt; „Dilbert Future“ (Verlag Moderne Industrie, Landsberg am Lech) heißt der Band, in dem Adams nicht nur sage und schreibe 65 Prophezeiungen bietet, sondern auch seine Methodik detailliert erklärt.
„Manche glauben, durch das Fortschreiben aktueller Trends die künftige Entwicklung vorhersagen zu können“, erläutert Adams. „Das ist ein Trugschluss. Würden Sie dieses Verfahren auf einen Welpen anwenden, kämen Sie zu dem Schluss, dass der kleine Hund immer größer wird, bis er eines Tages – in einem Anfall unkontrollierter Glückseligkeit – mit seinem wedelnden Schwanz ein mittleres Ballungsgebiet von der Landkarte wischt.“ Bange Zwischenfrage: Wie viele solcher Riesenköter mögen wohl heute durch die wissenschaftliche Welt hecheln?
Adams ist um eine methodische Alternative nicht verlegen: „Es gibt Dinge im Leben, die als unveränderliche Gesetze der menschlichen Natur bezeichnet werden können.“ Als da wären? „Dummheit, Egoismus, Geilheit. Durch das Studium dieser Gesetze und mit Anwendung von ein bisschen Logik kann man die Zukunft größtenteils korrekt vorhersagen.“ Als Beispiel – Prophezeiung 50: „In der Zukunft werden immer mehr Menschen die Nachrichten wegen ihrer Irrelevanz bewusst ignorieren.“ – „Nicht in der Zukunft, sondern heute schon“, hält Matthias Horx faxfröhlich dagegen. Wenn das Scott Adams wüsste!
Gerda Rogers verdient als Astrologin ihr täglich Brot. „Ich glaube, mein Skorpion-Aszendent ist für meinen Hang zum Mystischen verantwortlich. Mein Sternbild, der Steinbock, ist ja durch und durch realistisch. Und dadurch kann ich die Sachen auch realistisch rüberbringen.“ Neben der Hörerschaft ihrer sonntäglichen Ö3-Astro-Show „Sternstunden“ versorgt Rogers eine bunte Klientel in ihrer Linzer Praxis. Und weil alles so kompliziert ist in einer von Umweltgraus, Globalisierungsängsten und Untergangsszenarien aller Art gebeutelten Wendewelt, tut sich neuerdings im ökonomischen Bereich für die rührige Astrologenautodidaktin ein riesiges Aufgabenfeld auf: Unternehmenshoroskope. „Es kommen Wirtschaftsleute, die sagen: Sie, meine Firma rennt eh, aber wer weiß, was in zwei Jahren ist. Das wird sehr ernst genommen.“
Kaum zu glauben. Frau Rogers – ganz Steinbock – sieht die Sache pragmatisch: „Ein Unternehmen kann das absetzen von der Steuer. Das ist genauso, als ob Sie zu einem Firmenberater gehen, das wird anerkannt.“ Und im Übrigen: „Man gibt für so viel Blödsinn Geld aus, da kann man sich einmal hinsetzen für 600 Schilling und sich das eigene Schicksal sagen lassen.“
Machen wir die Probe aufs Exempel: Was, Frau Rogers, können Sie mir über ein Unternehmen sagen, das am 3. Juli 1848 geboren wurde? Frau Rogers bittet sich eine halbe Stunde Horoskopberechnungszeit aus, dann präsentiert sie telefonisch den Befund: „Das ist ein Unternehmen im Sternzeichen Krebs, eine traditionsreiche Firma.“ Was niemanden erstaunen wird. „Die Firma muss mit Aktualitäten zu tun haben.“ Richtig. „Eine Firma, die heute auf Expansionskurs ist, es gibt finanziell sehr gute Chancen.“ Das hört man als Angestellter dieser Firma gern. Weniger gern freilich, dass zur Nutzung dieser Chancen „große Veränderungen, auch personelle“ nötig seien. Um welches Unternehmen es sich handle, will Gerda Rogers schließlich wissen. Um die „Presse“, Frau Rogers. Bilanzen, Geschäftsabschlüsse, Krisen, Glück und Unglück, alles findet sich am Firmament: Nur Namen stehen – scheint es – noch nicht in den Sternen.
Rosa war eine junge Frau, als sie sich von einer Wahrsagerin die Zukunft weisen ließ: ein hartes, entbehrungsreiches Leben, dann und wann auch Glück, ein hohes Alter, 68 Jahre. Rosas Leben wurde, wie das so vieler anderer ihrer Generation, hart und entbehrungsreich, durchsetzt von kurzen Strähnen Glücks; und als ihr 68. Geburtstag nahte, verfiel sie, die schon viele Jahre ein „Das erleb‘ ich eh nicht mehr“ vor sich her getragen hatte, in tiefes Grübeln: War ihr Ende nun gekommen? An ihrem 69. Geburtstag beschloss sie, einem Gedächtnisfehler aufgesessen zu sein, die Wahrsagerin musste wohl 78 gesagt haben. Doch auch der 79. Geburtstag verstrich, und Rosa lebte immer noch.
Mit 89 schließlich löschte sie die Prophezeiung ihres Todesjahres aus dem Kanon ihrer Erzählungen und beließ es fortan bei dem vorhergesagten hohen Alter, das in der Tat nun nicht mehr zu bestreiten war. Zwei Tage nach dem 150er der „Presse“ wird Rosa 91. Sie wird den Journalisten-Enkel schelten, der so viel Unwahres über sie – noch dazu in der Zeitung! – berichtet. Und vielleicht hat sich der manches tatsächlich nur so in seiner Erinnerung zurechtgelegt. Jenes „Das erleb‘ ich eh nicht mehr“ jedenfalls ist seltener geworden. Und was die Zukunft bringt, grämt Rosa nicht mehr sehr. Wichtig ist doch einzig, dass man eine hat.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 4. Juli 1998