Holleri du dödl di! Wie aus dem gescheiterten »Stern«-Cartoonisten Loriot der Retter des deutschen Humor-Abendlands wurde – und warum er bis heute nicht seinesgleichen hat. Zum 100. Geburtstag.
Es geschieht Anfang der 1950er. Ein junger Absolvent der Hamburger Landeskunstschule dient der Zeitschrift „Stern“ eine Cartoonserie an. „Auf den Hund gekommen“ soll sie heißen und ihren Witz aus der Verkehrung des Mensch-Tier-Verhältnisses beziehen: Hier sind es die Hunde, die sich zum eigenen Pläsier Menschen halten, Gassi gehen inklusive. Nach sieben Folgen wird die Serie eingestellt: Protestschreibende Leser sehen die „Krone der Schöpfung“ in ihrer Würde bedroht.
Zehn Jahre später endet eine Kolumnenserie desselben, nun nicht mehr ganz so jungen Landeskunstschulabsolventen, veröffentlicht in der Zeitschrift „Quick“, abermals im Lesereklat. Das freilich erst nach gut 100 Folgen, die ihrem Autor und seinem Schaffen Zuschreibungen wie „Brechpulver“, „Geschreibsel“ oder „bodenlose Geschmacklosigkeit“ eingebracht haben (erstmals komplett nachzulesen in einer dieser Tage bei Diogenes erschienenen Sammlung).
Ein weiteres knappes Jahrzehnt später wird derselbe notorische Störenfried sogar die deutsche Dezemberbesinnlichkeit via Bildschirm mit einem Sankt-Nikolaus-Gedichtlein aufscheuchen, in dem er nicht nur eine Förstersfrau ihren Gatten kaltherzig massakrieren lässt, sondern auch noch seine Filetierung zwecks späteren Verzehrs ins schummrige Adventlicht rückt. Heimtückischer Mord plus Kannibalismus als vorweihnachtliches Divertissement: Was Wunder, dass glaubwürdiger Überlieferung nach derlei Unverschämtheit bis in den Deutschen Bundestag zum Thema wird. Und dieser Bürgerschreck von ehedem soll derselbe Cartoonist, Autor, Regisseur, Film- und Fernsehschauspieler sein, der dieser Tage, anlässlich seines 100. Geburtstags, quer durch alle medialen Kanälen als – leider, leider mittlerweile verstorbener – Retter des deutschen Humor-Abendlands gefeiert wird? Der Gottseibeiuns von gestern, zur Devotionalie im nicht gerade reich bestückten Komödianten-Herrgottswinkel deutscher Stuben entrückt?
Ja, von Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow ist die Rede, besser bekannt unter dem Kürzel Loriot. Dass er ein Nachkomme mecklenburgischen Uradels ist, mit Familienwurzeln bis ins frühe 13. Jahrhundert, mag dazu beigetragen haben, die Ehrbarkeit des anfangs durchaus misstrauisch verfolgten Schelms im Lauf der Jahrzehnte außer Streit zu stellen. Ein anderes: seine äußere Erscheinung, die ab Ende der 1960er auf deutschen TV-Bildschirmen regelmäßig sichtbar wird – die eines soignierten Herrn, adrett bis in die Bügelfalten. Schließlich, in jenen Tagen darf noch als verbindlich gelten: Wer Krawatte trägt, kann kein schlechter Mensch sein. Und schon gar kein Rebell, der sich gegen wohlgepflegte Konventionen stellt.
Per Sie.Tatsächlich tut er das auch nie. Sein Witz, egal ob in seinen Cartoons, später in seinen Trick- oder Realfilmszenen, macht sichtbar, aber er urteilt nicht. Die beiden Herren, die gemeinsam in einer Badewanne sitzen und aufs Ernsthafteste – selbstverständlich per Sie – darüber disputieren, wer denn nun wie warmes Wasser einlassen darf („Die Ente bleibt draußen“); das Ehepaar, das sich nicht und nicht darauf verständigen kann, wie die Kochdauer eines Frühstückseis korrekt zu messen sei („Eine Hausfrau hat das im Gefühl“); die Jodelschülerin, die sich aus dem Erwerb eines Jodeldiploms („Holleri du dödl di“) berufliche Eigenständigkeit erhofft: Sie alle werden keinen Augenblick denunziert, nie der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Absurdität ihres Tuns, ihr Aneinander-Vorbeireden, ihre sinnentleerten Alltagsrituale, all das fällt qua Wiedererkennen auf uns zurück: Nicht ihre, unsere Lächerlichkeit steht bei Loriot zur Disposition – und auch die seiner selbst. Schließlich: „Das Komische ist man selber“, wird er zeit seines Lebens nicht müde zu betonen.
Besonders auffallend: die Kompromisslosigkeit, ja Unerbittlichkeit, die vielfach seinem Humor eignet. Hinter der melancholischen Miene seines Knollennasenmännchens, hinter Wortwitz und Situationskomik seiner Dialoge klafft der Abgrund von Beziehungen, deren Partner einander nichts zu sagen haben, einer Konsumgesellschaft, der Konsum alles und Gesellschaft nichts ist, einer politischen Klasse, deren Rede über Gerede nicht hinauskommt.
Dieses Tragische im Komischen wird durch keine finale Versöhnlichkeitspointe aufgelöst, die Katharsis bleibt verwehrt, Pardon wird nicht gegeben. Also mündet, nur ein Beispiel von vielen, die Frühstücksei-Debatte nicht in ein Friede-Freude-Eierkuchen-Ende, sondern in eine nur mühsam unterdrückte Morddrohung des Ehemanns gegen seine Frau: „Morgen bringe ich sie um!“ Und nein, das ist kein Scherz, das ist in diesem Augenblick ernster gemeint, als uns lieb sein kann.
Erst in seinen – späten – Kinoerfolgen, „Ödipussi“ (1988) und „Pappa ante portas“ (1991) wird sich Loriot, wohl den (vermeintlichen) Gesetzmäßigkeiten des Filmgeschäfts gehorchend, dem Happy-End-Primat nicht mehr verwehren. Doch selbst da praktiziert er über weite Strecken ungebrochen das, was einer der wenigen Geistesverwandten unter seiner Zeitgenossenschaft, der Dichter Robert Gernhardt, einmal „Zuckergusskomik“ genannt hat: außen das Süße, das es uns erlaubt, mit größtem Vergnügen die bittere Pille zu schlucken, die uns da verabreicht wird.
Nein, mit Loriot ist nicht zu spaßen. Er nimmt sich, seine Arbeit, seine Figuren und sein Publikum auf eine Art ernst wie selten jemand in deutschsprachigen Unterhaltungslanden: in einer Radikalität, die eher an Beckett und Kafka erinnert als an hiesigen Jux und Trallala. Freilich, es ist eine Radikalität, die nicht aus der Verzweiflung oder aus Abscheu, sondern aus reiner Menschenliebe kommt: Liebe zu einer Kreatur in all ihrer Fehlerhaftigkeit, in all ihrem Scheitern – und in all ihrer Fähigkeit, beides zu erkennen. Lustig? Nicht immer. Komisch? Jedenfalls.
Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 11. November 2023