„Ich glaube, wir müssen uns öfter in Krisen begeben, in Unabwägbarkeiten. Wetterwechsel.“ Andrea Breth über ihre Arbeit, die Geisterbahn, das Rauchen und ihr diesjähriges Salzburger Festspiel-Projekt.
Andrea Breth, zur Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich vor einigen Wochen versucht, den 2004 in der Edition Burgtheater herausgegebenen Band über Ihre Arbeit, „Der Augenblick der Liebe“, zu bekommen. Im Burgtheater hat man in einer Art Abstellkammer danach gefahndet, alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Eine anschließend aufgesuchte Buchhändlerin konnte sich noch schwach erinnern, sie habe den Band vor einigen Monaten verramscht. Vom Regieliebling der Burg in kaum vier Jahren zum abverkauften Restposten: Wie fühlt man sich in einer Theaterbranche, in der die Regie- und Schauspielkollektionen so nonchalant gewechselt werden wie die T-Shirts bei C&A?
Klarerweise ist auch das Theater Moden unterworfen. Das ganze System hat sich insofern verändert, dass Menschen, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen, vom Feuilleton hochgeschossen werden; an das Feuilleton hängen sich die Intendanten dran, und dann geht das seinen Gang. Plötzlich ist man selbst in einem Aktenordner abgelegt, und der heißt in meinem Fall „altmodisch“. Und altmodisch ist offensichtlich das, was sich noch um den Text bemüht, sich nicht vor den Text schiebt. Heute hat man das Gefühl, je mehr man sein eigenes Tagebuch auf die Bühne hievt, desto interessanter ist es. Oder wenn man nur Teilaspekte eines Werks berücksichtigt und alles andere weglässt. Das versteh ich nicht. Und ich will es auch nicht verstehen, nicht weil ich arrogant bin, sondern weil ich Wichtigeres zu tun habe.
War die Arbeit am „Zerbrochenen Krug“, 1990, unter Peymann, Ihre erste Begegnung mit Wien?
Nein, ich hatte ja, was niemand weiß, sowohl einen Wiener Großvater als auch einen Wiener Vater. Das Witzige ist: Ich wohne jetzt im dritten Bezirk, und um die Ecke war ich schon als Kind, da hat mein Großvater gewohnt. Ich war oft hier, der Prater, die Geisterbahn, das waren meine ersten großen angstvollen Erlebnisse. Ich war auch in der Volksoper, ich kann mich noch erinnern, dass ich es unglaublich fand, als da der Vorhang aufging, und dass ich wahnsinnige Angst hatte. Später hab ich eine Weile überlegt, in Wien Theaterwissenschaft zu studieren, aber nachdem ich mich mit Berliner und Wiener Theaterwissenschaftlern unterhalten hatte, war mir klar, dass das eines der unsinnigsten Studien ist, die man angehen kann. Für das Theater ist es so überflüssig wie ein Kropf. Aber rein arbeitsmäßig fand meine erste Begegnung mit Wien unter Claus Peymann statt.
Welches Bild von Wien haben Sie aus Ihrer Kindheit?
In meiner Kindheit fand ich Wien sehr düster, bedrohlich. Es gab noch viel mehr Kriegsschäden, als ich es aus meinem Heimatort, Darmstadt, kannte; in Darmstadt wurde zwar scheußlich, aber unglaublich intensiv gebaut, die Straßen waren in Ordnung – hier in Wien empfand ich alles sehr beunruhigend. Und als ich viele Jahre später wiederkam, da hatte sich die Stadt immens verändert, sie ist viel offener geworden, außerordentlich anziehend, verführerisch schön, das ist richtig gefährlich, weil man plötzlich bleiben will.
Ist das so schlimm?
Das ist in unserem Beruf insofern gefährlich, weil man unter Umständen zu bequem wird. Wenn man das Gefühl hat, dass das Publikum einen mag, das ist außerordentlich genussvoll, ich möchte das nicht missen, aber es wird dann höchste Zeit, dass man auch wieder einmal einen kälteren Wind um die Nase bekommt, sich einer anderen Herausforderung stellt.
Haben Sie Angst vor so viel Nähe?
Es geht doch um die Frage: Wie verhält sich ein Theatermacher zu seinem Publikum? Dasselbe gilt für Schauspieler, wenn dann plötzlich so Sätze kommen wie: Das kann ich meinem Publikum nicht antun. Da ist es höchste Zeit, dass man eine Ortsveränderung macht. Ich glaube, wir müssen uns öfter in Krisen begeben, in Unabwägbarkeiten. Wetterwechsel.
Könnte denn nicht gerade ein sehr gutes Verhältnis zum Publikum die Basis sein, auf der man leichter etwas riskieren kann?
Ich kann das nur von mir sagen: Ich war acht Jahre hier, ich habe das Bedürfnis, mich jetzt ein bisschen mehr ins Ausland zu bewegen. Was nicht heißt, dass ich in Wien nicht mehr Theater machen will, aber ich will mich nicht mehr so fest binden, weil meine Interessen auch woanders hingehen. Mein Ausflug vergangenes Jahr zu den Salzburger Festspielen, meine Begegnung mit den Sängern und vor allem mit Daniel Barenboim, das war eine ungeheure Bereicherung. Und es wäre ziemlich dumm, würde ich das nicht weitermachen. Es wächst eine Generation von Sängern heran, die können nicht nur wunderbar singen, die können auch spielen, und das ergibt für mich eine Art Vollendung.
Da wäre es logisch, nicht nur Gespräche mit dem künftigen Burgtheaterdirektor, Matthias Hartmann, zu führen, sondern auch mit dem künftigen Staatsoperndirektor, Dominic Meyer.
Da hat es kein einziges Gespräch gegeben. Es ist ein Problem, dass die Opernintendanten immer glauben, man hat so wahnsinnig viel Zeit, sitzt zu Hause und wartet auf einen Anruf. Das ist bei mir mitnichten der Fall, wer was von mir will, muss sich tummeln. Und außerdem: Auf Teufel komm raus Oper zu machen unter Bedingungen, dass die Sänger eigentlich nicht da sind, sondern dass man als Regisseur mit Stand-bys arbeiten muss, und das Ganze auch noch in vier Wochen, das mach ich nicht, das kann ich nicht, das will ich nicht. Insofern bin ich unpraktisch.
Nicht pflegeleicht.
Nein. Wenn ich dann einmal arbeite, dann schon. Davor nicht.
Sie wurden lange Zeit als Bachler-Nachfolgerin an der Burg gehandelt. Haben Sie jemals ernsthaft daran gedacht, den Posten des Burgtheaterdirektors anzustreben?
Einen Augenblick schon. Aber wissen Sie, das ist ein Schiff, das ist derartig groß . . . Und so wie ich arbeite, mit einer solchen Ausschließlichkeit, könnte ich das gar nicht tun. Allein die Anzahl der Produktionen, die man da auf die Beine stellen muss; ob das nun so viele sein müssen, ist natürlich auch eine Frage, aber wenn es halt 24 sind, dann müssen Sie 24 Produktionen stemmen, und dazu wäre ich gar nicht in der Lage, weil mir so wenig gefällt. Das andere ist meine Krankheit: Manisch-depressiv zu sein und ein so riesiges Theater zu leiten, das geht nicht.
Also all die Spekulationen rund um Sie während der Bachler-Nachfolge-Diskussion . . .
Die sind nicht von mir ausgegangen. Das meiste, was so geredet wird, stimmt nicht.
Wir leben in einer seltsam widersprüchlichen Zeit: Da breiten immer mehr vor allem Junge in größter Offenheit im Internet privateste Privatheiten aus, und gleichzeitig sind wir nach wie vor umzingelt von Tabus. Stichwort psychische Krankheiten: Von denen erfährt die Öffentlichkeit bestenfalls nach dem überraschenden Tod der Betroffenen wie etwa bei Marie Zimmermann – oder wenn ein Unternehmen scheitert wie Ihre „Wallenstein“-Produktion. Sie sind mittlerweile mit Ihrer Krankheit an die Öffentlichkeit gegangen. Den meisten anderen gelingt es kaum, das Schweigen zu brechen.
Weil sie Nachteile dadurch befürchten. Wenn jemand in einem sogenannten bürgerlichen Beruf steht und es kommt raus, dass er eine psychische Krankheit hat, dann muss er damit rechnen, dass er den Job verliert. Ich hab das mehrfach in der Klinik erlebt, die wahnsinnige Angst davor, dass das rauskommt. Die Ärzte schreiben dann auch eine vollkommen andere Abteilung hin als die, in der ihre Patienten tatsächlich sind. Ich denke, dass sich die Mediziner selber mehr äußern müssten, die finden das alle richtig, aber es ändert sich nichts. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie voll die Kliniken sind, unglaublich. Im Sozialmedizinischen Zentrum Ost sind sie über Monate ausgebucht.
Das Entsetzliche ist ja: Nicht nur dass die Krankheit selbst in keiner Weise lustig ist, sind auch noch die Folgen fatal. Das hört nicht auf in dem Moment, wo man die Klinik verlässt, dann fangen die tatsächlichen Probleme an, nämlich wie die anderen Menschen auf einen reagieren, wie sich die Lebensverhältnisse verändern. Das ist für den Kranken eine ziemlich krasse Zumutung.
Die für Sie und Ihre Arbeit vielleicht häufigste Zuschreibung ist das Wort „Ernst“, näher charakterisiert mit strengen Attributen wie „unerbittlich“ und „heilig“. Das klingt nach Respekt, den man Ihnen und Ihren Inszenierungen entgegenbringt. Nach Wärme, Zuneigung klingt es nicht. Ist das ein Image, mit dem Sie gut leben können?
Das will ich überhaupt nicht. Ich will keine Glaswand zwischen Bühne und Publikum haben. Ich habe ganz naive Wünsche: Ich möchte den Menschen etwas erzählen, ich will, dass sie lachen, dass sie weinen, dass sie all das, was sie im Alltag nicht haben können, halt dann im Theater erleben. Heilig? Um Gottes willen! Andererseits: Die Bühne ist für mich schon ein heiliger Ort, es stört mich wahnsinnig, wenn Sponsoren die Bühne betreten dürfen – dieser Event-Scheibenkleister, das sind Dinge, die gehen zu weit. Aber sonst? Natürlich, wenn man einen Dichter in der Hand hat . . . ich kann ja nicht eine Unterhaltungsgeschichte machen aus „Don Karlos“. Vielleicht ist das manchmal ein bisschen anstrengend, kann sein.
Muss Theater anstrengend sein?
Schaun Sie, zum Beispiel die Romane von Dostojewski sind doch eine Zumutung; nehmen Sie „Verbrechen und Strafe“, das ich für die Salzburger Festspiele vorbereite: Wenn man sich damit wirklich beschäftigt, ist das in höchster Weise anstrengend. Ich verteidige das auch, weil ich den Eindruck habe, dass das mehr und mehr aus der Gesellschaft verschwindet und dass Anstrengung in gewisser Weise notwendig ist. Ich halte auch Philosophie für wichtig, jede Art von Nachdenken, und ich finde auch eine gewisse Bildung wichtig, insofern, dass wir nicht unsere eigene Kultur so wegschmeißen. Aber: Würde ich eine gute Komödie in die Finger kriegen, hätte ich große Lust, sie zu inszenieren. Nur: Die meisten sind nicht so wahnsinnig gut.
Welche gefallen Ihnen?
Wenn ich sie kennen würde . . . Ich habe vor vielen Jahren einen Ayckbourn gemacht, „Schöne Bescherung“.
Dafür sind Sie sofort geprügelt worden.
Aber wie! Das war in Bochum, das hätten wir vormittags, nachmittags und abends spielen können, eine unglaublich komplizierte Inszenierung, aber den Leuten hat es gefallen; das war so etwas, wo die Kritiker aus allen Wolken gefallen sind. Und dann hieß es: Wie kann sich so jemand wie ich an so einem Kram vergreifen?
Wie halten Sie es selbst mit der Unterhaltung? Nach einem langen Probentag wird es doch einen Moment geben, der nach Zerstreuung ruft. Was tun Sie dann?
Ich höre Musik. Oder ich schaue mir einen Film an.
Welche Filme zum Beispiel?
Ich muss gestehen, das hat dann meistens mit etwas zu tun, was in Zukunft auf mich zukommt; die sind oft auch eher anstrengend, diese Filme. Derzeit beispielsweise sehe ich viel von Tarkowskij und von Sokourow. Sokourow ist rasend anstrengend, weil minutenlang scheinbar nichts passiert.
Die Salzburger Festspiele halten es neuerdings mit Generalthemen. Nach der „Nachtseite der Vernunft“ ist heuer Biblisches dran: „Denn stark wie die Liebe ist der Tod“. Und sie inszenieren eine eigene Dramatisierung von Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“.
Bei Dostojewski hat immaterielle Liebe sehr viel mit Leiden zu tun. Mit Mitleiden, nicht mit Mitleid. Das ist ja in diesem riesigen Werk unter vielem anderen ein Thema, das sich zwischen Raskolnikow und Sonja darstellt. Ansonsten liegt die Liebe hier merkwürdigerweise nur bei den Frauen, die Männer sind desinteressiert oder unfähig.
Wobei es in „Verbrechen und Strafe“ ja im Kern darum geht, einen überzogenen Rationalismus durch Liebe zu überwinden.
Nach ewig langer Zeit. Es ist übrigens interessant, dass Dostojewski das eigentlich gar nicht so schreiben wollte, das war eine Konzession an den Verleger. Es war eine ernsthafte Überlegung Dostojewskis, dass sich Raskolnikow umbringt. Das war aber wohl aus verkaufstechnischen Gründen nicht möglich.
Sie kennen die Ljubimow-Bearbeitung?
Ich kenne alle Bearbeitungen. Sämtliche Filme. Aber das Wesentliche ist: Ich habe den Roman sehr, sehr oft und seit Jahren gelesen.
Wie viele Seiten von 800 sind in Ihrer Fassung übrig geblieben?
Ich sage das einmal so: Ich bin der Meinung, dass ein Festival etwas anderes ist als ein Repertoiretheater, und es besteht aus meiner Sicht keine Notwendigkeit, einen Zweieinhalb-Stunden-Abend draus zu machen. Im Moment bin ich auf einer Lesezeit von dreieinhalb Stunden, das bedeutet, wenn der Text inszeniert wird, rund sechs Stunden Spielzeit. Das halte ich für legitim. Wenn Sie nur den Plot erzählen, ist das ja grausam langweilig, nicht mehr als ein schlechter Krimi. Aber deshalb hat Dostojewski das ja nicht geschrieben. Was ich so aufregend finde, sind die unterschiedlichen Philosophien, die da vorkommen. Und die muss man wenigstens zum Teil erhalten.
Andrea Breth, wir haben jetzt rund eine Stunde hier im Kaffeehaus verbracht, in dieser Zeit haben Sie immerhin vier Zigaretten geraucht; was werden Sie tun, wenn sich die EU-weiten Nichtrauchergesetze bis in unsere Breiten herumsprechen?
Ich war vor Kurzem in Italien, und da hat ein guter Freund von mir ein Restaurant gefunden, wo man rauchen darf. Man muss jetzt halt irgendwelche Hintertüren aufmachen, wie früher beim Alkoholverbot, das sich ja auch, wie wir wissen, nicht so rasend lang gehalten hat. Neulich war ich in Berlin, da habe ich gemeinsam mit Freunden beschlossen, einen Beiselführer für Raucher zu gestalten. Hier in Wien habe ich im Übrigen den Vorteil, dass ich zu Hause bleiben kann.
Ihr Lebensmittelpunkt bleibt also Wien?
Ja. Ich finde die Stadt schön. Bin schnell am Flughafen. Das ist doch gut.
Und wann dürfen wir uns auf eine nächste Breth-Inszenierung in Wien freuen?
Den Termin gibt es, aber das lassen wir noch.
Dann wünsche ich noch eine genussreiche fünfte Zigarette.
Vielen Dank. Schmeckt gut.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 28. Juni 2008