„Es gibt so viele Gründe, zu vergessen“: Achim Benning, zehn Jahre lang Burgtheaterdirektor, über Wiener Journalismus, Wiener Packelei, Wiener Politik und die vorsätzliche Wiener Amnesie. Ein Gespräch.
In einer „autobiografischen Notiz“ schreiben Sie unter anderem: „Ich wollte nicht Schauspieler werden; ich wollte nicht Regisseur werden; ich wollte nicht Burgtheaterdirektor werden.“ Alles, was Sie nicht werden wollten, ist eingetreten. Kurz: ein verpfuschtes Leben.
Ja, in gewisser Weise ist alles schiefgegangen.
Im Ernst: Das ist doch eine Kavalkade der Koketterie.
Natürlich klingt das nach Koketterie und Interviewnummer. Aber als ich von der Schule abging, wollte ich mich der Literatur widmen, Lektor, Verlagswesen, das war mein Ziel, und meine Biografie ist mir irgendwie dazwischengekommen.
Angefangen mit dem Schauspieler, der Sie, so will’s die von Ihnen ins Land gesetzte Fama, nur deshalb wurden, weil Sie einen Freund zur Aufnahmeprüfung im Reinhardt-Seminar begleiten wollten. Und ganz zufälligerweise hatten Sie auch ein bisschen was zwecks Vortrag vorbereitet – oder wie muss man sich das vorstellen?
Den St. Just aus „Dantons Tod“ konnte ich noch von Schulzeiten auswendig – und ich bin durch diese Aufnahmeprüfung gekommen, originellerweise ist der Freund, den ich nur begleiten sollte, durchgefallen. Der war später Verlagschef bei Langen Müller. Auf seine Art auch eine gescheiterte Existenz.
Apropos gescheiterte Existenzen: Wenn man sich die Jahrgangslisten der Reinhardt-Seminaristen anschaut – da gibt es beispielsweise in Ihrem Jahrgang einige wenige große Namen, Elisabeth Orth, Nikolaus Paryla, der weit überwiegende Teil Ihrer damaligen Kollegen ist allerdings heute völlig unbekannt.
Scheint offenbar etwas Wahres dran zu sein an dem alten Witz: Eine Mutter hatte zwei Söhne. Der eine ging zur See, der andere ans Reinhardt-Seminar – von beiden hat man nie wieder etwas gehört.
Werfen wir einen Blick auf die Anfänge Ihrer Biografie: geboren 1935 in Magdeburg, Schulabschluss 1955 in Braunschweig. Dazwischen lag Mitte der Fünfziger schon längst die Zonengrenze. Wie kamen Sie vom Osten Deutschlands in den Westen?
Wir haben bis 1947 in Stendal in der Altmark gelebt und sind dann vor Gründung der DDR über die grüne Grenze, da konnte man noch relativ einfach rüber, selbst wenn man von den Russen erwischt wurde, hieß es schlimmstenfalls Kartoffeln schälen, dann durfte man weitergehen; das war nicht so dramatisch wie später.
Hatte dieses Weggehen politische Gründe?
Mein Vater kam aus englischer Kriegsgefangenschaft, war Leutnant oder so etwas in der Wehrmacht gewesen, und die wurden in der Ostzone grundsätzlich eingelocht. Darauf hat er keine Lust gehabt. Er war Ingenieur bei der Bahn, fand also auch im Westen leicht Arbeit, das war die ganze Geschichte.
Ihr familiäres Umfeld war nicht unbedingt eines, in dem geisteswissenschaftliche Studien üblicherweise gezielt gefördert wurden. Wie kam Ihre Idee ins Spiel, sich mit Germanistik oder Philosophie zu beschäftigen?
Das hat sich entwickelt. Man lebt ja nicht nur in den eigenen vier Wänden. Mein Vater hielt es übrigens für ziemlich daneben, dass ich dann auch noch zum Theater gegangen bin, der hat in Braunschweig sein Theaterabonnement gekündigt, um nicht alle 14 Tage an die verfehlte Entscheidung seines Sohnes erinnert zu werden.
Ihr Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte haben Sie in München begonnen – und als Ort für die zwei erlaubten Auslandssemester ausgerechnet Wien gewählt. Wieso Wien? Das war doch damals universitär keineswegs eine auch nur halbwegs angesehene Destination.
Das lag an der Stadt. Ich kannte Österreich noch nicht, plötzlich bin ich draufgekommen, dass ein erheblicher Teil deutschsprachiger Literatur österreichische Literatur ist, und das hat mich interessiert. Wie furchtbar die Wiener Universität damals war, das wusste ich nicht. Für mich völlig unbegreiflich: dass die guten alten Nazis mit den frischen Remigranten herzinniglich zusammenarbeiteten. Die saßen gemeinsam in der Wiener Dramaturgie und hielten Händchen. Hans Niederführ, der schon 1938 die „Entjudung“ des Reinhardt-Seminars nach Berlin gemeldet hatte, der trat plötzlich als Urpriester von Reinhardt auf. Der Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann, der über Reinhardt die fürchterlichsten Sachen von sich gegeben hatte, bei dem dissertierte der vormalige Reinhardt-Assistent und nachmalige Burgtheaterdirektor Ernst Haeusserman über Max Reinhardt. Das war für mich so was von exotisch, dass die überhaupt miteinander geredet haben nach dem, was da passiert war, das hab ich nicht kapiert.
Manchmal hab ich mir gesagt: So schlimm können die gar nicht gewesen sein, sonst würde der mit dem ja nicht verkehren. Das war ein Irrtum. Es war eben diese grausliche Mischluft, wie der Anton Kuh das einmal genannt hat. Das ist, glaube ich, eine wienerische Spezialität. Diese Luft, die weht, nein, die wabert bis heute durch die Stadt.
Können Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Wien erinnern?
Insgesamt hat mich Wien sehr beeindruckt, das war meine erste Weltstadt, die sich damals auch noch in so einer Sonderisolationslage befand. Ich war kaum angekommen, da war der Ungarnaufstand, wir hatten bis ins Reinhardt-Seminar hinein Ungarn. Ich fand das toll, wie die Österreicher die Ungarn aufgenommen haben. Das ist ja nie wieder passiert, schon 1968 mit der Tschechoslowakei nicht mehr; und heute haben wir das absolute Gegenteil, heute gibt man sich in Wien so, als sei hier die Welthauptstadt der Fremdenfeindlichkeit.
Wie fühlten Sie sich damals als Deutscher in einem Land, zu dessen wichtigsten identitätsstiftenden Symbolen bis heute ein völlig bedeutungsloser Fußballsieg über Deutschland in einer für Deutschland wie Österreich bedeutungslosen Weltmeisterschaft gehört?
Es gab Ressentiments, in der Straßenbahn, wenn man da als Piefke erkannt wurde – am Burgtheater gab’s das nicht. Im Reinhardt-Seminar auch nicht. Ich hab mir oft gedacht, dass die Wiener den Nazis in Wahrheit gar nicht das Nazi-Sein übel nahmen, sondern dass sie den Eintopf nach Wien gebracht haben. Der Faschismus war nicht das Schlimme, das Schlimme war der Eintopf. Was die fressen, das ist ja furchtbar.
Sie sind frisch vom Reinhardt-Seminar weg ans erste Haus am Platz engagiert worden. Wie hat man sich das Burgtheater anno 1959 vorzustellen, wie kann man das heute jemandem erklären?
Eins vorweg: Das Burgtheater kann man schon seit 230 Jahren nicht erklären. Uns kam das damals maßlos antiquiert vor, aber man war der Meinung, man muss das zur Kenntnis nehmen. Die Situation war insofern anders, als es damals viel stärker um die Literatur, um den Text ging. Das war nicht so ein Theater-Theater wie heute, wo man sagt, ich hab das einmal in Bochum gesehen und einmal in Stixneusiedl, jetzt muss ich auch noch in Wien sehen, wie das inszeniert wird. Damals wollte man die Stücke kennenlernen. Das war eine andere Grundhaltung, die aus der Wirklichkeit kam, keine Theater-Theater-Haltung. Manche Vorstellungen waren interessant, manche furchtbar, manche Schauspieler hat man bewundert, andere nicht. Und ansonsten kann man mit Egon Friedell sagen: Das Burgtheater ist ein Monument des österreichischen Schwachsinns. Aber ein Monument eben.
Sie sind recht früh ins nächste Berufsfeld gewechselt: zur Regie.
Direktor Haeusserman wusste, dass ich Regie führen wollte, und der hat dann den schönen Satz gesagt: Warum denn? Ist doch gar nicht nötig! Damals herrschte nämlich die Auffassung, ein Schauspieler wird nur dann Regisseur, wenn er kein Bein zur Erde kriegt. Sonst gibt es keinen Grund.
Sie haben sich aber durchgesetzt.
Ich habe alle Nasen lang gesagt, ich geh weg, hab dann auch am Salzburger Landestheater inszeniert, in Braunschweig. Und da hat der Haeusserman sich eine kleine Revolte vom Hals geschafft, indem er ein Studio zugelassen hat, in dem ich inszenieren durfte, „Ivanov“, unter abenteuerlichen Umständen.
Was hat Sie an der Regiearbeit interessiert?
Sie müssen bedenken: Es ist nicht einfach, in diesem Land als erwachsener Mensch Schauspieler zu sein. Die Abhängigkeiten sind auch bei Leuten, die es sehr weit gebracht haben, sehr groß. Das hat mich gestört. Nicht zuletzt in meinem Verhältnis zu Stücken, in meiner Beziehung zur Literatur mich da allen möglichen Überlegungen unterwerfen zu müssen. Das hat mir nicht behagt, nicht weil ich so eitel oder bockig war, aber ich hatte andere Vorstellungen, und die musste ich unterdrücken.
Nächste ungewollte Karrierestation: die Burgtheaterdirektion. Wie hat man sich eine Bestellung wider Ihren Willen vorzustellen?
Wir hatten damals im Ensemble ein ziemlich dickes Papier erarbeitet, in dem wir für sämtliche Bereiche Vorstellungen definiert haben, was sich ändern muss. Daran war eine Reihe von Leuten beteiligt, ich war halt ein bisschen mehr tätig als die anderen, was die Formulierungen und was die Komposition dieses Konzepts betraf. Und das ist insofern aufgefallen, als es das einzige Konzept war.
Ich weiß schon, jeder sagt, dass er sich nicht beworben hat, deshalb hat es keinen Sinn, wenn ich das auch sage. Ich habe mich aber tatsächlich nicht beworben, die Idee entstand aus den Gesprächen rund um dieses Konzept mit Bundestheater-Generalsekretär Robert Jungbluth. Es gab ja eine ganze Reihe von Kandidaten für die Nachfolge des scheidenden Burgtheaterdirektors Klingenberg: Boy Gobert stand angeblich vor der Tür, mit dem hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis, aber er hat gesagt, er wollte das gar nicht. Die fatalste Geschichte, die ich aber erst relativ spät erfahren habe, war ja, dass Thomas Bernhard ganz versessen darauf war, Burgtheaterdirektor zu werden. Was ich damals nicht wusste, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß: dass da schon alles ausverhandelt war.
Als Unterrichtsminister Sinowatz dann aber mich bestellte, galt ich den meisten als Notlösung. In einer Zeitung hat einer geschrieben: Jeder, den man auf der Straße angehalten und aufgefordert hätte, Burgtheaterdirektor zu werden, wäre die bessere Lösung gewesen. Das hab ich mir gemerkt.
Sie stehen auch sonst im Geruch, ein angespanntes Verhältnis zu den Medien zu unterhalten. Sind Sie zu empfindlich?
Meine Haltung ist die: Die Medien sind das eine, das Theater ist das andere. Diese Vermanschung, die da laufend stattfindet und die in Wien besonders intensiv ist, habe ich immer abgelehnt, jede Packelei. Und es wurden mir genug angeboten, bis hin zu Stückverträgen mit schreibenden Kritikern, die sagten, das muss ja nicht gespielt werden, aber es wäre nett, wenn man da ein Auftragshonorar bekäme . . .
Klingt nach Klischee aus dem Schundroman. Gab’s das tatsächlich?
Na sicher. Wir hatten nicht einmal einen Pressereferenten. Ich war der Meinung, dass das Theater aus sich heraus zu wirken hat und nicht durch die Öffentlichkeitsarbeit und das Remmidemmi rundherum.
Ein bisschen naiv.
In der heutigen Zeit völlig undenkbar. Auch nicht richtig. Ich brüste mich nicht damit. Überdies habe ich allerdings insofern Unsinn getrieben, dass ich bei der Verleihung der Kainz-Medaille gesagt habe, es sei fraglich, ob es ehrenhaft ist, eine Auszeichnung von Wiener Kulturjournalisten entgegenzunehmen. Mehr hab ich nicht gebraucht. Diese Attacke wurde zunächst total totgeschwiegen. Kein Mensch hat gesagt, was fällt dem ein, ist der nicht ganz dicht – aber das kam natürlich im Lauf der Jahre alles zurück.
Den Hauptpart in den Attacken gegen Sie übernahm die „Kronen Zeitung“. Gab es dazu eine Vorgeschichte?
Es gab einen konkreten Anlass. Ich habe ja gleich zu Beginn B. K. Tragelehn und Einar Schleef aus der DDR, vom Berliner Ensemble geholt. Die sollten „Schloss Wetterstein“ von Wedekind machen, mit Sylvia Manas und Gerd Böckmann. Kaum in Österreich, hat Schleef einen blöden Brief an DDR-Staatschef Honecker geschrieben, Absender Burgtheater: Wenn der nicht umgehend diese und jene Bedingungen erfülle, dann komme er, Schleef, nicht zurück. Wir haben uns insofern darüber geärgert, weil Schleef ja Tragelehn desavouiert hat, das war für den sehr unangenehm. Die DDR-Künstleragentur hat sofort gesagt: Jetzt darf der das nicht mehr machen – der Anfang vom Ende dieser Produktion. Aber in der „Kronen Zeitung“ stand, das alles sei passiert, weil die Manas und der Böckmann so empört waren über die politische DDR-Infiltration in Gestalt von Tragelehn und Schleef, dass sie sofort aus Wien abgereist seien.
Daraufhin habe ich einen Herrn von der „Kronen Zeitung“ eingeladen in die Direktion, dazu noch einen Vertreter der Finanzprokuratur sowie Manas und Böckmann. Keine Rede von Abreise, keine Rede davon, dass die beiden über irgendeine DDR-Infiltration empört gewesen wären. Aber das hat dem Herrn von der „Kronen Zeitung“ überhaupt nicht imponiert. Ich habe gefragt: Wollen Sie das nicht widerrufen? Hat er erwidert: Nein. Und hat mir dort klipp und klar gesagt: Sie werden sich noch wundern – wenn Sie weiterhin Leute aus dem Osten engagieren, können Sie was erleben. Er hat mir ganz konkret und vor Zeugen gedroht.
Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie weit die Hysterie gegangen ist. Ich wurde ja auch beschuldigt, dass ich das westdeutsche „Fäkalientheater“ nach Wien bringe. Mir wurde vorgeworfen, ich führe ein Regime wie ČSSR-Staatspräsident Husák und simuliere nur die Freundlichkeit zu den tschechischen Dissidenten. Das war wirklich krankhaft.
Wie ist eigentlich der Kontakt zu Václav Havel entstanden?
Ich hatte, als ich designiert wurde, angekündigt, ich will Musils „Schwärmer“ spielen, dadurch bin ich mit dem Rowohlt Verlag ins Gespräch gekommen, und die vertraten auch den Havel. Außerdem haben wir gesagt: Wenn es schon diesen kuriosen Terminus gibt, das Burgtheater sei das erste Theater deutscher Zunge – das wurde ja immer noch dahergequatscht -, dann gehört die DDR dazu. Und es müssen uns darüber hinaus auch sonst die Leute im Osten interessieren, die dort den Mund nicht aufmachen können.
Daraus entwickelte sich, dass Havel unser Hausautor wurde und er selbst das Burgtheater als sein Muttertheater bezeichnet. Die österreichische Obrigkeit hat das sehr unterstützt. Ein Problem gab es hingegen in der Öffentlichkeit: Laut einer Umfrage des Fessel-Instituts wandte sich eine Mehrheit der Bevölkerung dagegen, sich um diese Leute zu kümmern, Österreich sei neutral und würde nur den Zorn der Kommunisten auf sich ziehen, wenn man sich unnötigerweise mit diesen Leuten befasst. Und die vielen heutigen Freunde des Havel und die vielen angeblichen Förderer der Dissidenten, die waren uns allen damals nicht bekannt.
Wie sind Sie zu den Stücken gekommen?
Das hat der Rowohlt Verlag über Skandinavien arrangiert. Die Manuskripte wurden rausgeschmuggelt. Und sonst haben wir telefoniert, Havel durfte ja nicht kommen. Als ich einmal hingefahren bin, da musste ich erfinden, dass ich mir eine Opernaufführung anschauen will, um einen Vorwand zu haben, nach Prag zu reisen. Das war eine richtige Geheimdienstnummer. Wir haben uns an der Moldau getroffen, in einer Baracke, da hat ein Radio so laut gespielt, dass man nur auf ganz kurze Distanz miteinander reden konnte, vor der Tür saß die Polizei. Später, als Havel schon Präsident war, habe ich ihn in seinem Sommersitz bei Prag besucht, vor dem Eingang wieder die Polizei, und da hat er gesagt: Na ja, es hat sich nichts geändert, vor meiner Tür steht immerzu die Polizei. Aber hier in Wien weiß davon ja kaum einer was. Das einzige Buch über die Wiener Havel-Pflege ist in New York erschienen.
Haben Sie eine Vermutung, warum?
Das hat vielen nicht gepasst, aus verschiedensten Gründen nicht. Es war politisches Theater, tatsächlich politisch, es ging ja nicht nur um Havel, es gab auch das Engagement von Pavel Kohout und Pavel Landovsky, das Engagement des Jürgen Hentsch, eines Schauspielers, den wir nur durch den DDR-Anwalt Vogel aus der DDR herausbekamen. Wir waren da ziemlich aktiv, tatsächlich politisch, nicht nur in Pressekonferenzen und durch inszenierte Skandälchen. Dazu kam, dass es beispielsweise vielen in der ÖVP später peinlich gewesen ist, dass sie uns den „Hort des Linksfaschismus“ genannt haben. Es ist auch den wilden Anhängern von Thomas Bernhard peinlich, dass er Burgtheaterdirektor werden wollte. Es gibt so viele Gründe, zu vergessen . . .
Im Herbst 1984 gastierten Peymanns Bochumer in Wien mit Bernhards „Der Schein trügt“, da ist Bernhard durch den Bühneneingang hereingeschlichen, ich hab ihn zufälligerweise erwischt, hab ihn begrüßt und gesagt: Wann kommen Sie endlich wieder durch die Vordertür rein. Hat er gesagt: Ja, komm ich eh, ich weiß ja, Sie können nix dafür. Dass er nicht Burgtheaterdirektor wurde.
Zu den Eigentümlichkeiten Ihrer Burgtheaterdirektion gehört es, dass Sie jahrelang als linkslinker Gottseibeiuns gehandelt wurden, und kaum stand als Ihr Nachfolger Claus Peymann fest, mutierten Sie in der öffentlichen Wahrnehmung zum stockkonservativen Bestandswahrer eines Uralt-Burgtheaters. Wie haben Sie diesen Perspektivenwechsel erlebt?
Das verstehe ich bis heute nicht. Es war irre, jenseits jeder künstlerischen, ästhetischen Frage, es ist für mich bis heute unbegreiflich, dass dieselben Leute, die uns als links verteufelt haben, total umgeschwenkt sind und uns zu Reaktionären erklärten. Da haben wir es vielleicht mit dem Phänomen zu tun, das die Germanistin Konstanze Fliedl vorsätzliche Amnesie nennt. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen . . .
Ich bitte darum.
Ich hatte einen Termin bei Bundestheater-Generalsekretär Jungbluth, es ging um meinen Regievertrag für das Burgtheater, den ich ja nach meinem Ausscheiden aus der Direktion erhielt. Jungbluth war immer gern ein bisschen indiskret und las mir einen Brief des damaligen Präsidenten der Gesellschaft der Freunde des Burgtheaters vor, der auch zu meiner Zeit der Präsident war. In diesem Brief, an Peymann gerichtet, lobte er Peymann in höchsten Tönen, dass endlich Humanität in das Burgtheater eingezogen sei, und er bewundere über die Maßen Peymanns Inszenierung von Gorkis „Die Mutter“. Peymann hatte den Brief empört an Jungbluth weitergeleitet, weil er „Die Mutter“ ja gar nicht inszeniert hatte. Ich wiederum war völlig verblüfft: Es war derselbe Mann, der meine „Sommergäste“ als kommunistisches Machwerk bezeichnet hatte – wie konnte der ein tatsächlich kommunistisches Stück wie „Die Mutter“ loben? Sicher, ich hatte diese Gesellschaft der Freunde des Burgtheaters zur Hälfte aus den Premieren rausgeschmissen. Die hatten ja vor meiner Zeit fast alle Premierenkarten gehabt. Peymann hat dann aber auch noch den Rest rausgeworfen. Und bösartige Sachen dazugesagt. Und dann redet der Herr Präsident von Humanität? Robert Jungbluth hat mich aufgeklärt: Du hast das falsch gemacht, hat er gesagt, du hast die kritisiert, das darf man nicht als Piefke in Wien; du musst ihnen in die Goschen brunzen, dann schlürfen sie noch deinen Urin. Und ich habe den Verdacht, da ist was dran.
Wie geht’s Ihnen damit, wenn Peymann heute in Wien jedem, der es hören will, erzählt, das Burgtheater sei vor seiner Ankunft in der Steinzeit verhaftet gewesen, aus der erst er es erlöst hat?
Früher hat mich das geschmerzt. Zwischendurch war ich erstaunt, wenn Leute mich angesprochen haben, weil sie bei Burgtheaterführungen in der Peymann-Zeit erzählt bekamen, dass da vorher nur ein paar alte Leute dringesessen sind. Wobei ich ergänzen muss, dass ich mit Peymann, als ich in seiner Zeit an der Burg inszenierte, immer gut konnte. Was immer der von mir gehalten hat oder ich von ihm, die Zusammenarbeit war absolut in Ordnung, Besetzung, Stückwahl. Nur beim „Professor Bernhardi“ gab es das Bestreben der Direktion, dass Peymann mit Professor Bernhardi gleichgesetzt wird als leidender Freigeist in Österreich, was wir irgendwie verhindert haben.
Wie oft gehen Sie jetzt ins Theater?
Zu wenig. Regelmäßig eigentlich nur, wenn ich von Studenten eingeladen werde. Im Übrigen lese ich lieber. Aber ich weiß, dass heute genauso gutes und auch schlechtes Theater gemacht wird wie früher.
Kein bisschen Verbitterung?
Ich habe keinerlei Grant oder einen Hochmut der Greise gegenüber denen, die noch nicht vergreist sind. Man muss wissen, wann die eigene Zeit vorbei ist. Mir sind diese Berufsjugendlichen, die 80-jährigen deutschen Avantgardisten, nie geheuer gewesen. Wenn man alt ist, ist man alt. Aus. Gerade das Theater ist zeitgebunden, es gibt nichts Blöderes als den Begriff „zeitlos“. Wenn man aus der Zeit fällt, und das tut man irgendwann, soll man das nicht kaschieren. Ich habe alles abgelehnt, arbeite nicht mehr für das Theater.
Dass Ihre drei Kinder Ihnen in Ihrer laut Eigendefinition missglückten Karriere gefolgt wären, haben Sie ja erfolgreich verhindert.
Die haben gesehen, was das heißt, haben ganz andere Dinge gemacht, Rechtsanwalt, Politikwissenschaft, Geschichte, meinen Umweg über das Reinhardt-Seminar haben sie ausgelassen. Hätte ich auch schlimm gefunden. Für das Familienleben ist das ja mehr als schwierig.
Sie allerdings sind seit bald einem halben Jahrhundert mit derselben Frau verheiratet.
Mir wurde auch von Leuten, die es wissen müssen, versichert, ich sei der einzige Burgtheaterdirektor, der mitten in seiner Direktionszeit ein Kind gekriegt hat. Wenn das kein Erfolg ist . . .
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 16. Jänner 2010