Wenn ein Belgier Seite an Seite mit einem Franzosen den Wilden Westen erobert: 75 Jahre Lucky Luke – von der Entdeckung des »poor lonesome cowboy« in einer Brüsseler Zimmerfrau, einem Popeye ohne Dosenspinat und von Helden, die tot sind und doch nicht sterben dürfen. Geschichte und Gegenwart eines Welterfolgs.
Wie viel Europa steckt im Wilden Westen? Kein Zweifel, niemand wird bestreiten, dass es sich dabei zuvörderst um einen originär US-amerikanischen Mythos handelt, schon allein des Austragungsorts wegen. Genauso wenig lässt sich freilich der Beitrag übersehen, den Europa zu Pflege und Ausschmückung dieses Mythos geleistet hat. Nicht genug, dass es primär selbstredend Zuwanderermassen aus Europa waren und nicht die schon Ortsansässigen, welche die „Frontier“, die Grenze zwischen Eroberer- und Indigenenland, mit rücksichtsloser Vehemenz vom Osten her immer weiter Richtung Pazifik trieben; es waren auch immer wieder Europäer, die, noch während sich ebendieses begab, eifrig an der Mystifizierung – und Romantisierung – jener brutalen Verdrängung und ihrer nicht weniger brutalen Begleiterscheinungen bastelten.
Was mit dem heute weithin vergessenen Friedrich Gerstäcker (1816- 1872) und Romanen wie „Die Regulatoren von Arkansas“ und „Die Flusspiraten des Mississippi“ begann, setzte sich über Karl May bis zu den Italowestern eines Sergio Leone oder Sergio Corbucci fort. Und noch in den 2010ern strickte der Wiener Filmregisseur Andreas Prochaska in die gestreng alpine Gebirgswelt seines „Finsteren Tals“ wie selbstverständlich Westernelemente ein.
Kein Wunder, dass auch in Sachen Comic der Blick der alten Welt alsbald begehrlich auf die Mythen der neuen gerichtet war. Und mehr als das: Kann der Comic in unserem modernen Sinn durchaus als US-amerikanische Erfindung gelten, so blieb daselbst eine wie oberflächlich oder tiefgründig auch immer gestaltete Beschäftigung mit der eigenen Geschichte im Comic vergleichsweise Randerscheinung, während sie diesseits des Atlantiks auffallend früh bei Zeichnern wie in der Leserschaft auf reges Interesse stieß.
Tim im Indianerland. Als der französische Comicpionier Christophe seine „Famille Fenouillard“ 1889 auf Weltreise schickte, machte diese ganz selbstverständlich auch bei den Sioux Station. 1931 trieb der Belgier Hergé seinen Tim samt Struppi in die USA und also unvermeidlich auch ins Indianerland. 1937 schließlich griff der Italiener Rino Albertarelli für das Magazin „Topolino“, die italienische Ausgabe der „Micky Maus“, die reale Figur des Trappers Kit Carson auf, um ein auffallend düsteres Bild eines noch ziemlich wilden Westens zu entwerfen. Den europäischen Western-Comic-Boom richtig ins Rollen brachte freilich ein Import – und kollateral der Zweite Weltkrieg: 1939 bezieht das belgische Comicmagazin „Spirou“ erste Folgen der Serie „Red Ryder“ aus den USA. Als nach der Besetzung Belgiens durch Nazi-Deutschland die Lieferungen über den Atlantik ausbleiben, nimmt „Spirou“-Mitarbeiter Joseph Gillain alias Jijé kurzerhand selbst den Stift zur Hand und spinnt auf seine Weise die begonnene „Red Ryder“-Episode weiter.
Jijé wird es auch sein, der 1954, nach längerem Nordamerika-Aufenthalt, gleichfalls für „Spirou“ eine eigene – und höchst erfolgreiche – Westernserie entwickelt: „Jerry Spring“, von „Spirou“-Verleger Jean Dupuis gleichsam als seriöses Gegenstück zu den eher heiter getönten Western-Abenteuern vorgesehen, die seit 1946 in seinem Blatt für rege Nachfrage sorgen. Und deren Held heißt – Lucky Luke.
Bierernst am Rio Grande. Western zum Lachen? Das ist in jenen Tagen alles andere als comme il faut. Zwischen Mississippi und Rio Grande haben einzig und allein Entschlossenheit, womöglich Leidenschaft, stets jedoch – und usuell wortwörtlich – tödlicher Ernst zu regieren. Und wie nicht: Was soll schon lustig sein, wo’s doch im Niemandsland zwischen Tapferkeit und Barbarei primär um Heldentod, Schwerverbrechen, Rache und Vergeltung geht?
Gut möglich, dass es ein gutes Stück Unbekümmertheit, um nicht zu sagen Unbedarftheit, brauchte, um sich gerade in diesem Umfeld an Humoristischem zu versuchen. Und die bringt der junge Mann aus dem belgischen Courtrai, der sich 1946 anschickt, die bis dahin gehabte Westernwelt via Comic aus den Angeln zu heben, offenkundig mit. Maurice de Bévère heißt er mit bürgerlichem Namen, Morris nennt er sich, ist 22 Jahre alt, zeichnerisch weitgehend Autodidakt und hat sich seine Expertise in Sachen Wilder Westen in den Lichtspieltheatern seiner Kindheit in den 1930ern zusammengeschaut.
Was ihm noch zur Charakterisierung seines Protagonisten fehlt, liefert ihm nach eigenem Bekunden seine Zimmerfrau: „Ich lebte damals in einem möblierten Zimmer in Brüssel. Meine Vermieterin rauchte Kette und sang immer dieses Lied: ,Je suis seule ce soir‘.“ Und wenn da jemand, eine Zigarette im Mund, davon trällert, des Abends einsam zu sein, dann ist es naturgemäß nicht mehr weit zum kettenrauchenden „poor lonesome cowboy“, der am Ende jedes Abenteuers, von eigener Einsamkeit singend, ins Abendrot reitet . . .
Im Ernst und jenseits aller Anekdoten: 1946, in seinem ersten Abenteuer, „Arizona 1880“, demnächst gemeinsam mit dem zweiten zum 75. Geburtstag der Serie in Album 100 vereinigt, raucht Lucky Luke noch nicht, er singt auch kein Lied – da spielt er final auf einer Mundharmonika. Doch ins Abendrot reitet er schon hier – und von aller davor entfalteten Turbulenz allein gelassen ist er ebenfalls.
Auch etliche weitere Grundbestandteile des nachmaligen Longsellers sind bereits vorgeformt: Lukes Pferd hört auf den Namen Jolly Jumper und verfügt über schon damals überpferdliche Qualitäten; Lukes Hut ist weiß, Lukes Hemd ist gelb, sein Halstuch rot, seine Schießfertigkeit beachtlich, wenngleich bei Weitem noch nicht so, dass er – wie späterhin notorisch – schneller schösse als sein Schatten. Doch sonst?
„Ich hatte damals keinen Stil“, gesteht Morris später. Und: Nebst den frühen Arbeiten von Hergé und dem Werk Walt Disneys habe ihn nicht zuletzt Max Fleischers Popeye beeinflusst. Das sieht man seinem frühen Lucky Luke auch an: Angesichts jener untersetzten Physiognomie, des rundlichen Kopfs, die Morris seinem Helden anfangs gibt, würde es keinen wundern, wenn auch dieser in Bedrängnis auf die Rettung durch Dosenspinat vertrauen müsste.
Tut er nie in dem Dreivierteljahrhundert seiner bisherigen Geschichte. Was fast wundernimmt: Bezüge, Querverweise, Zitate kreuz und quer durch Comic- und sonstige Kulturgeschichte werden nämlich bald konstitutives Merkmal seiner Abenteuer sein – wie sich Morris gleichermaßen früh im größten Fundus an Fantastischem, Abs trusem, unwirklich Scheinendem bedient, den diese Welt zu bieten hat: der Wirklichkeit. Weder der Saloonbesitzer Roy Bean, der sich in einem Städtchen am Rio Pecos zum Friedensrichter aufwirft („Der Richter“, 1957/58) ist Erfindung noch das Dampfschiff-Wettrennen auf dem Mississippi („Am Mississippi“, 1959). Nicht einmal der Erdölrausch, der schon 1859 das Städtchen Titusville zur Wiege des Erdölzeitalters machte („Im Schatten der Bohrtürme“, 1960). Und, und, und.
Die realen Daltons. Ja selbst die Brüder Dalton, längst mit Jolly Jumper und dem trotteligen Köter Rantanplan weithin selbstverständlicher Bestandteil unseres Kulturbewusstseins, sind keineswegs Ergebnis einer allzu üppig wuchernden Imagination: Allerdings ist ihr reales Banditenvorbild, die Brüder Bob, Grat, Bill und Emmett Dalton, nicht ganz so amüsant wie Morris‘ Pendant, das als tollpatschigste Verbrecherbande aller Comiczeiten in die Geschichte der neunten Kunst eingegangen ist.
Das freilich haben wir in erster Linie nicht Morris selbst, sondern seinem besten Szenaristen zu verdanken: René Goscinny. Während einer sechsjährigen Informationsreise durch die USA, mit der Morris seine Amerika-Expertise über Hollywood-Klischees hinaus verbreitern will, trifft der Belgier Ende der 1940er in New York auf den drei Jahre jüngeren Franzosen, der ab Mitte der 1950er – und noch bevor er gemeinsam mit Uderzo und „Asterix“ zu Weltruhm aufsteigt – die Geschicke der „Lucky Luke“-Serie mitbestimmt. Dazu gehört nicht zuletzt, einen Kniff entdeckt zu haben, wie den Daltons nach ihrem frühen Serientod („Die Gesetzlosen“, 1951/52) eine elegante – und nicht zuletzt von der Leserschaft geforderte – Wiederauferstehung zu verschaffen wäre: Indem er nämlich deren nicht weniger tollpatschige Cousins an ihre Stelle treten lässt („Vetternwirtschaft“, 1957/58).
Mehr als 20 Jahre lang sorgt die Zusammenarbeit von Morris und Goscinny für prächtigste Ergebnisse. Dann, 1977, stirbt Goscinny völlig unerwartet. Und was „Lucky Luke“ danach widerfährt, ähnelt dem Geschick, das „Asterix“ aus demselben Grund auch nicht erspart geblieben ist: Ohne Goscinny blutet die Serie aus. Dramaturgische Stringenz, Esprit, Imagination machen routiniertem Bedienen bekannter Mechanismen Platz, satirische Seitenhiebe aufs Hier und Jetzt wie auf historische Begebenheiten fügen sich nicht mehr locker und wie selbstverständlich ein, wirken allzu oft mutwillig herbeigezerrt. Und weder neue Szenaristen noch, nach Morris‘ Tod 2001, neue Zeichner vermögen daran etwas zu ändern.
Wenn in diesem Jubiläumsjahr neben dem Morris-Erben Achdé auch ein Ralf König oder – zum zweiten Mal – Matthieu Bonhomme „Lucky Luke“-Hommagen vorlegen werden, ist im Grunde kaum mehr zu erwarten als seelenlose Wiedergängerei. Was soll’s? Solang sich mit den Zombies der Populärkultur so gut Geld verdienen lässt, wird sich daran nichts ändern lassen.
Lucky Luke ist längst gestorben. Davor bewahren konnte ihn nicht einmal, dass ihm sein Schöpfer ab 1983 statt der bis dahin unvermeidlichen Zigarette einen Grashalm zwischen die Lippen schob. Irgendwann war es nicht mehr der „lonesome cowboy“, sondern der lange Schatten seiner großen Vergangenheit, der schneller schoss als die immer hohlere Figur, die ihn warf. Der Held ist tot, sein Mythos lebt.
Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 28. Februar 2021