Zehn Fernsehserien mit zusammen 800 Episoden, 13 Kinofilme, dazu mehr als 1000 Comics, 700 Bände mit Belletristik und, und, und. Selbst das Unmögliche kann geschehen: über Star Trek – und über seinen Schöpfer, den Texaner Gene Roddenberry. Zum 100. Geburtstag.
Riverside, Iowa, muss man nicht kennen. Der English River, der an dem 1000-Einwohner-Städtchen vorbeimäandert, ist kein Mississippi, der Highway 218, der es teilt, ist keine Route 66, das nächste Stück Weltläufigkeit, Chicago, dreieinhalb Autostunden entfernt, und wenn es denn irgendetwas Auffälliges an Riverside zu entdecken gäbe, dann das, so unfassbar unauffällig zu sein – bis in die löchrigen Straßenbeläge Small-town-America-Normalität, als wär’s bloß Filmkulisse.
Was Wunder an einem Ort, in dem auch anderweitig Fiktion und Wirklichkeit erstaunlich nah beieinanderliegen. Denn da, an der Seitenwand der neuen City Hall, findet sich ein Denkmal, wie man’s nicht bald wo findet: der Erinnerung an jemanden gewidmet, der noch gar nicht geboren ist – und mutmaßlich nie geboren werden wird. Warum schließlich sollte die Hauptfigur einer 1960er-TV-Schmonzette, betitelt „Star Trek“, sich in einem fernen 23. Jahrhundert tatsächlich auf dem Boden dieses Planeten, genannt Erde, materialisieren, noch dazu ausgerechnet in Riverside, Iowa?
Doch da steht’s geschrieben, tief in Stein graviert: „Future Birthplace of Captain James T. Kirk“ samt dem Datum, für das dieses präsumtive Nichtereignis annonciert ist, nämlich für den 22. März 2228. Mitte der 1980er, so wird erzählt, habe ein findiger Stadtrat von Riverside die Idee gehabt, mangels anderer Sensationen kurzerhand den künftigen Geburtsort des Raumschiff-Enterprise-Kommandanten seiner Heimatstadt zuzuordnen, „Star Trek“-Erfinder Gene Roddenberry, bis dahin in dieser Frage komfortablerweise nicht allzu explizit, habe zugestimmt, und seither darf Riverside auf allen Schriftsorten von sich behaupten, es sei die Stadt, „Where the Trek Begins“. Alles nur Jux und Schabernack?
Nun ja: Immerhin hat die ganze Star-Trekerei der Stadt mittlerweile ein kleines Museum, ein alljährlich stattfindendes „Trekfest“ und zuletzt 2018, anlässlich der Enthüllung einer James-T.- Kirk-Statue, US-weite Aufmerksamkeit eingetragen. Und was die Sache mit der Geburt betrifft: Was bitteschön wissen wir denn schon so ganz genau darüber, was in 200 Jahren geschehen wird? Könnte es denn nicht tatsächlich sein, dass künftige Star-Trek-Fans in einem künftigen Riverside ihren zufällig am 22. März 2228 geborenen Sohn James T. Kirk nennen, auf dass er als Kommandant eines Raumschiffs namens Enterprise aufbreche, „to boldly go where no man has gone before“, wie es der Vorspann zur Originalserie verheißt?
Sie zweifeln vielleicht, dass sich in 200 Jahren noch irgendjemand an eine Fernsehserie der 1960er erinnern werde. Nur: Wer hätte damals, in den 1960ern, auch nur im Verwegensten daran gedacht, diese Fernsehserie werde mehr als ein halbes Jahrhundert später ein so essenzieller Bestandteil unserer Populärkultur sein, dass sie sich bis in Wissenschaft und Alltagssprache festgesetzt hat? Wenn Physiker Teilchen teleportieren, dann nennen sie das „Beamen“ mit einer Selbstverständlichkeit, als stünden sie an Chefingenieur Scottys Seite im Transporterraum der Enterprise, wenn eine technische Universität einen handlichen Diagnosescanner konzipiert, flugs wird er „Trikorder“ benannt, als stünde er dem Enterprise-Bordarzt McCoy zu Diensten. Und wer hätte noch nie etwas von „Klingonen“ oder „Alarmstufe rot“ gehört?
Ganz nebenbei ist das Unternehmen „Star Trek“ längst zu einem Franchise-Giganten jenseits jeder irdischen Vorstellungskraft angeschwollen: Zehn Fernsehserien mit zusammen rund 800 Episoden, 13 Kinofilme, dazu mehr als 1000 Comics, 700 Bände mit Romanen und Kurzgeschichten machen Mister Roddenberrys Schöpfung zu einem selbstverständlichen Teil unserer Welt. Und dass noch immer mehrere neue auf „Star Trek“ referierende TV-Serien in Produktion respektive in Ausstrahlung sind, von den permanenten Wiederholungen des längst Gehabten ganz zu schweigen, lässt ahnen, welche wirtschaftliche Bedeutung der „Star Trek“-Kosmos für den Rechteinhaber Paramount Pictures nach wie vor hat: den einer nur mehr in interstellaren Budgetdimensionen fassbaren Cash-Maschine.
Was mich betrifft, muss die erste Begegnung mit „Raumschiff Enterprise“, so der deutschsprachige Serientitel, wie bei allen anderen 15-Jährigen jener Tage, 1973 stattgefunden haben: anlässlich der Erstausstrahlung im heimischen Fernsehprogramm. Als frühester Eindruck ist mir die Folge „Das Spinnennetz“ („The Tolian Web“) in Erinnerung, das freilich nicht, weil sie mich, wie späterhin über meine Generation weithin behauptet, allsogleich in eine Art Raumschiffrausch versetzt hätte, sondern der Enttäuschung wegen, die sich alsbald in mir breitmachte. Keine der Qualitäten, die der Serie in zahllosen Nachbetrachtungen seither gutgeschrieben wurden, scheint bei mir sonderlich Eindruck hinterlassen zu haben: weder der völkerverbindende Gedanke, der im Kommandostab auch Japanischstämmigen (Leutnant Sulu) oder gar – horribile dictu! – dem Systemfeind aus Russland (Fähnrich Chekov) Existenzrecht einräumte, auch nicht der oft beschworene antirassistische Impetus in Gestalt der schwarzen Kommunikationsoffizierin Uhura, der sogar einem Martin Luther King wichtig genug gewesen sein soll, die Darstellerin der Uhura, Nichelle Nichols, zur weiteren Mitarbeit in der Serie zu überreden, wiewohl die bald ihres mehr als bescheidenen Parts überdrüssig geworden war. Und was sollte all das Geblase rund um die angeblich so prononciert „friedliche Mission“ der Enterprise, wo man sich doch erstaunlich regelmäßig mit irgendwem oder -was im Krieg befand, in gegenständlicher Folge mit einem Volk namens Tholianer?
Im Gegenzug sah ich Figuren in seltsam labbrigen Pyjama-Uniformen, mehrheitlich damit beschäftigt, auf einen überdimensionalen Bildschirm zu starren, unverständliche Befehle zu erteilen und entlang einer durchaus terrestrischen Dramaturgie auf notwendigerweise krummen Handlungswegen (50 Minuten wollen gefüllt sein) einem absehbar guten Ende entgegenzufliegen. Das sollte der vorab angekündigte SciFi-Straßenfeger made in USA sein?
Heute, knapp ein halbes Jahrhundert später, gehören „Star Trek“ und die Folgen zu meinem selbstverständlichen televisionären Entspannungsrepertoire, nehme ich, wenn mich meine Wege in die USA führen, auch einmal einen Umweg über ein Kaff namens Riverside in Kauf, um dem „Future Birthplace“ eines gewissen James T. Kirk meine Reverenz zu erweisen, und weiß mich in Stillung so niedriger Begierden in einem Boot, Pardon: Raumschiff, mit Intellektuellen aller Arten, Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen, die eine nüchtern betrachtet bestenfalls charmante, doch jedenfalls ganz und gar nichtige TV-Nebensächlichkeit seit Jahren und Jahrzehnten publizistisch umtreibt. Allein der Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek, weder als Schundheftlschwemme noch als Spezialsammlung freakigen SciFi-Schrifttums geläufig, wirft unter dem Stichwort „Star Trek“ mehr als 100 Treffer aus.
Bleibt die Frage aller „Star Trek“-Fragen: die nach dem Warum dieses Erfolgs, der scheinbar so mühelos Arm und Reich, Jung und Alt, A-, B-, C- und was weiß ich noch welche Schichten vor den Bildschirmen dieses Globus vereinte, eines Erfolgs, wie ihn, um in der Nomenklatur des deutschsprachigen „Star Trek“-Vorspanns zu bleiben, tatsächlich „nie ein Mensch zuvor gesehen hat“.
Eine von vielen Ansätzen zu einer Antwort liefert der jüngste Beitrag zur weitläufigen „Star-Trek“-Sekundärliteratur, verfasst von dem in Jena lehrenden Philosophieprofessor Klaus Vieweg, im Vorjahr mit einer allenthalben akklamierten Hegel-Biografie hervorgetreten. Unter dem Titel „To beam or not to beam?“ hat Vieweg diesmal, assistiert von seiner Tochter, der Comiczeichnerin Olivia Vieweg, das Ergebnis seiner Erkundungen über die „Literatur in ,Star Trek'“ vorgelegt (bei Cross Cult, Ludwigsburg). Was er dabei aufgespürt hat, sei’s an Handlungsvorlagen für ganze Folgen, sei’s in Zitaten, Wendungen, Motiven, Anspielungen gäbe eine mehr als respektable Sammlung abendländischer Dichtkunst her: Von den alten Griechen über Shakespeare, Schiller bis hin zu Ray Bradbury und George Orwell reicht die Liste der Autoren, deren Werk sich einmal mehr im Vordergrund, dann wieder bloß hintergründig schon von allem Anfang an, also in der Originalserie der 1960er, reflektiert findet. Kurz: „Star Trek“ setzte ganz gezielt auf klassischem Kulturgut auf, teils explizit, teils quasi zwischen den Dialogzeilen, was unsere Rezeption jenseits der eigentlichen Handlung noch auf zahlreichen weiteren Ebenen mit Reizen versorgte – selbst die des gediegenen Geisteswissenschaftlers von höchsten akademischen Graden. Und es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass „Star Trek“ solchermaßen zur Verbreitung dessen, was wir als kanonisiertes Bildungsgut preisen, mehr beigetragen hat als so manche schulische Literaturunterweisung (so die denn überhaupt jemals stattgefunden hat).
Dazu passt, dass Gene Roddenberry schon das Grundkonzept seiner Serie einem literarischen Klassiker abgeschaut haben will – Jonathan Swifts satirischem Roman „Gullivers Reisen“ -, ja dass er gängiger Überlieferung nach sogar seinen Raumschiff-Captain ursprünglich habe Gulliver nennen wollen. Nun wäre es wohl einigermaßen übertrieben, in dem Herrn aus dem texanischen El Paso einen ins 20. Jahrhundert zeitgereisten Jonathan Swift zu vermuten (wogegen Roddenberry selbst vermutlich weniger einzuwenden gehabt hätte). Doch wer genau war denn dieser Gene Roddenberry, dessen Geburtstag sich demnächst, am 19. August, zum 100. Mal jährt?
Jedenfalls, keiner, dem von Beginn seiner Fernsehkarriere an der Erfolg nachgelaufen wäre. Die ersten Versuche als Drehbuchautor brachten dem Ex-Air-Force-Piloten in den 1950ern, falls überhaupt, allenfalls bescheidenen Lorbeer ein, und auch als 1964 ein erster Pilotfilm zu einer von ihm konzipierten Science-Fiction-Serie von NBC finanziert wurde, deutete nach Präsentation des Ergebnisses zunächst nichts darauf hin, die Sache könnte Folgen, geschweige denn Erfolg haben. Glaubt man Roddenberry, sei den Verantwortlichen des Senders die Story schlicht zu intelligent gewesen. Nicht ganz unbedeutend wird nebstbei gewesen sein, dass Roddenberry das Produktionsbudget schwerst überzogen und zudem 65 statt der üblichen 50 Sendeminuten abgeliefert hatte: beides gleichsam Todsünden im streng getakteten TV-Serien-Produktionssystem.
Dennoch: NBC gewährte Roddenberry und „Star Trek“ eine zweite Pilotfilm-Chance, nicht ohne freilich grundsätzliche Änderungen in der Kommandostruktur des Raumschiffs zu fordern. Wobei wir uns abermals auf Roddenberrys Überlieferung verlassen müssen: Ihm zufolge sei dem Sender weder eine Frau schon auf Rang zwei der Befehlshierarchie recht gewesen noch ein spitzohriger Wissenschaftsoffizier namens Spock, dessen dämonisches Aussehen womöglich die zarten Seelen religiöser US-Bürger beunruhigen hätte können. Beides, aus dem Blickwinkel der Zeit gesehen, durchaus glaubwürdige Einwände.
Wie Roddenberry darauf reagierte, darf ohne Übertreibung als Schlüsselmoment in der Genese dessen, was heute ein multimediales Massenphänomen ist, bezeichnet werden. Zwar drängte er die Frauenrolle, zur Kommunikationsoffizierin degradiert, in den Hintergrund der Kommandobrücke, auf Spock jedoch, dem außerirdischen Charakter, beharrte Roddenberry – und übertrug ihm kurzerhand jene Eigenschaften, die er im Erstversuch, gegen jedes 1960er-Verständnis von Weiblichkeit, der Frau in der Führungsspitze zugewiesen hatte: streng logisch argumentierend, unnahbar. Der stets rationale Mister Spock war geboren, ein Rollenbild, das seither in diversen Spielarten maßgeblich wie sonst nur die Besetzung des Captains über die Geschicke des „Star Trek“-Kosmos entscheidet. Und auch dass sich Roddenberry dazu verstand, den abgewerteten Frauenpart immerhin mit einer afroamerikanischen Schauspielerin zu besetzen, war in der Welt der 1960er mehr als allein kaltschnäuzige Strategie, um bis in eine Nebenrolle hinein Aufmerksamkeit zu generieren.
Der Rest ist Fernseh- und Filmgeschichte. Die Sternreisenden mehrerer „Star Trek“-Generationen haben mehrere Zuschauergenerationen in Wohnzimmern wie Kinosälen mit ihrem unerschütterlichen Glauben an eine bessere Zukunft infiziert, und wenn es heute immer mehr Menschen schwer fällt, genau darauf zu vertrauen, so wollen wir uns an die Geschichte des kaum mehr als mittelmäßig begabten Texaners erinnern, der nebst einem medialen Mythos milliardenschwere Wirklichkeiten schuf.
„The Impossible Has Happened“ hat der Brite Lance Parkin seine 2016 erschienene (und durchaus kritische) Gene-Roddenberry-Biografie betitelt. Und vielleicht ist es das, was wir dieser Tage am dringendsten brauchen könnten: die Überzeugung, dass selbst das Unmögliche geschehen kann. Sogar, dass man einem Mann, den es nie gegeben hat und menschlichem Ermessen nach nie geben wird, in einem US-amerikanischen Provinznest ein Denkmal setzt. Wie würde Mister Spock sagen? „Fascinating!“
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 7. August 2021.