Antisemitismus: Skinheads? Radikale? Papis und Mamis!

Eine Kindheit im Nahen Osten, eine Jugend in Südfrankreich – und Antisemitismus überall. Vom Fremdsein in der Welt: Riad Sattouf und Joan Sfar erinnern sich.

Mitunter führt der Zufall grausam genau Regie. Da stürzt die größte Flüchtlingsbewegung seit Jahrzehnten Europa in eine fundamentale Krise seines Selbstverständnisses – und des Verständnisses der Welt, namentlich ihres muslimischen Teils. Und so gut wie zeitgleich liefert ein Comickünstler aus Paris quasi aus erster Hand Informationen, was uns da an Integrationsherausforderungen, -verpflichtungen und -aufgaben bevorsteht.

2014 erschien im französischen Original, ein Jahr später in deutscher Übersetzung der erste Band von Riad Sattoufs autobiografischen Aufzeichnungen einer „Kindheit im Nahen Osten“, die unter dem Titel „Der Araber von morgen“ Zugänge zu einer Kultur lieferten, die vom Abendland ungern be- und noch weniger geachtet wird. So gut wie zeitgleich klopfte diese Kultur, auf der Flucht vor Bürgerkrieg und Verfolgung, an abendländische Türen und flehte um Einlass. Rund zwei Millionen Menschen sollten es in den anschließenden Monaten sein, deren Existenz mit einem Mal um die Fragen kreiste: Was bedeutet es, fremd zu sein? Und: Was bedeutet ein Leben zwischen den Welten des Okzidents und des Orients?

Beides steht im Mittelpunkt von Sattoufs Erinnerungen, die dieser Tage mit Band sechs zum Abschluss gekommen sind. Sie umspannen eine Periode von knapp 30 Jahren. Der französische Zeichner, Jahrgang 1978, schöpft seine einschlägige Expertise aus der eigenen Familie. Der Vater nach Sattoufs Bekunden ein „rechtsextremer Araber“, die Mutter Französin aus aufgeklärt-liberalem Haus – da scheint schon innerfamiliär einiges an integrativen Anstrengungen geboten. Umso mehr, weil sich die Kindheit des kleinen Riad und seiner alsbald zwei Geschwister weit mehrheitlich im Nahen Osten abspielt: erst in Libyen, später lange Zeit in Syrien, der Heimat seines Vaters.

Gerade wie Klein-Riad das Syrien Mitte der 1980er-Jahre erlebt, ein Syrien unter Langzeitdiktator Hafiz al-Assad, Vater jenes Baschar al-Assad, der sich mittlerweile als nur allzu würdiger Autokratenerbe erwiesen hat, kündigt schon einiges an, was sich hierzulande seit Jahren an Problemen im Zusammenleben offenbart. Als sei es selbstverständlich, erlebt der Sechsjährige die Prügelstrafe in der Schule für nichtigste Vergehen, allgegenwärtige Aggression auf Straßen und in den Familien – dass gleichaltrige Mädchen »unrein« sind, nicht weiter der Rede wert.

Selbstverständlich spielt er auch mit, wenn die anderen Sechsjährigen ihr Lieblingsspiel spielen. Und das heißt: „Krieg gegen Israel“. Was Wunder in einem Land, das sich mit ebendiesem Staat Israel seit Jahrzehnten in mehr oder minder permanentem Kriegszustand befindet. Klein-Riad tut einfach, was alle anderen tun, und dennoch widerfährt ihm, was allen Fremden widerfährt: So sehr er sich auch bemüht, wie die anderen zu sein, einer von ihnen wird er nie. Genauso wie er, mit seiner Mutter nach Frankreich zurückgekehrt, dort nicht ohne Weiteres einer wie die anderen werden wird.

Mit einer sich selbst nicht schonender Akribie und jenseits jeder Sentimentalität zeigt Sattouf Konfliktzonen im Umgang unterschiedlicher Kulturen. Und zwar genau dort, wo sie am schmerzhaftesten spürbar werden – in jener vorgeblichen Normalität des Alltags, die für damit nicht Vertraute weder normal noch alltäglich ist.

Dass darüber die Ehe seiner Eltern zerbricht, wird unter derlei Prämissen niemanden verwundern. Mehr und mehr lässt sein Vater im Lauf der Jahre (und der Bände) den aufgeklärten Sorbonne-Absolventen hinter sich, als den ihn seine Frau in Frankreich kennengelernt hat, um zu seinen (vermeintlichen?) morgenländischen Wurzeln zurückzukehren.

Es ist die Geschichte einer Entfremdung, Radikalisierung, die allmählich vor sich geht und in einem Eklat gipfelt: Sein Vater entführt Sattoufs jüngeren Bruder nach Syrien.

Nein, Sattoufs „Araber von morgen“ befördert wirklich nicht die Vorstellung, die Begegnung des Verschiedenen münde quasi von allein in ein launig multikulturelles Kaffeekränzchen. Im Gegenteil. Mit derselben Verve freilich weist er in seinen sechs Bänden nach, was jede Verständigung schon im Ansatz unterbindet: die bedenkenlose Dämonisierung des Unbekannten. Und die eint, wir erfahren es gegenwärtig zur Genüge, die Xenophoben allerorten.

Womit wir beim zweiten Comicband angelangt wären, auf den in diesem Zusammenhang hingewiesen sein soll: Joan Sfars „Die Synagoge“ – abermals ein Werk, dessen Erscheinen nur allzu genau mit Ereignissen zusammenfällt, die seine Dringlichkeit aufs Bedrückendste legitimieren. Wer, wie es gegenwärtig gern geschieht, den neuerdings in Europa wieder besonders lautstarken Antisemitismus zur Importware umdeklariert, einem unschuldigen Europa durch Flüchtlingsscharen zugeliefert, dem hält Sfar die Alltagsrealität eines jungen Juden im südfranzösischen Nizza entgegen.

Wie bei Sattouf präsentiert sich Sfars familiäres Umfeld als durchaus disparat. Da ist auf der einen Seite der Großvater: einst Widerstandskämpfer, der aus seinem Erleben des Krieges als einzig triftige Konsequenz zu bedingungslosem Pazifismus gefunden hat. Sfars Vater dagegen: Rechtsanwalt von Beruf und aus Berufung, ohne Scheu vor noch so zwielichtiger Klientel und jederzeit bereit, seine Agenda bei Bedarf mit einer rabiaten Wehrhaftigkeit durchzusetzen, die sich keineswegs auf Worte beschränkt. „Ich sah ständig, wie er sich prügelte“, erzählt Sfar selbst. „Das faszinierte und traumatisierte mich gleichermaßen.“

Sfar beschreibt ein Nizza, das Mitte der 1980er ganz im Bann antisemitischer Anschläge steht. Die jüdische Gemeinde organisiert aus den eigenen Reihen einen Wachschutz von Freiwilligen, zu dem sich auch der 16-jährige Sfar meldet. Seinerseits nicht gerade zum Hau-drauf-Helden geboren, fühlt er sich stets deplatziert, wenn er vor der Synagoge Wache steht. Dafür erlaubt ihm diese Tätigkeit, den ungeliebten Aufenthalt in der Synagoge zu vermeiden. Das erforderliche Kampftraining wiederum gewährt ihm Begegnungen mit dem anderen Geschlecht, die ihm, dem Scheuen und Zurückhaltenden, anders kaum möglich wären.

Vor dem Hintergrund eines beständig anschwellenden Rechtsextremismus, kanalisiert im Front National des Jean-Marie Le Pen, erlebt Sfar eine Wirklichkeit, die zwischen Schwarz und Weiß noch etliche Schattierungen des Uneindeutigen kennt. Da wäre die Sache mit den netten Neonazis, etwa jenem, der im selben Club wie Sfar trainiert und ihm schon einmal einen Kaffee spendiert. Und andererseits sein Vater, der wenig daran zu finden scheint, sich einem rechtspopulistischen Bürgermeister als Mitarbeiter anzudienen.

Zum kathartischen Ereignis wird für Sfar schließlich der Empfang, den seine Heimatstadt dem deutschen Rechtsextremisten Franz Schönhuber bereitet: „Ich erlebe zum einzigen Mal in meinem Leben, wie ein SS-Mann von der Menge bejubelt wird“, berichtet Sfar. Freilich: „Nirgends sehe ich die Skinheads und die Radikalen, gegen die ich kämpfen will. Bloß Papis und Mamis. Alte Leute aus Nizza. Ich schäme mich noch heute für meine Stadt.“ Dieselbe Fremdheit, die Riad Sattouf in einem fortwährenden Wechsel zwischen Ländern und Kulturen widerfährt – Joan Sfar erlebt sie, ohne sich von Ort und Stelle zu bewegen: eine Fremdheit in der eigenen Heimatstadt.

Stilistisch bedienen sich beide bei allen inhaltlichen Kongruenzen durchaus unterschiedlicher Erzählweisen: hier die klare, auf wenige Striche reduzierte Bildsprache Sattoufs, streng stilisiert und auf gezielt gesetzte Grundfarben beschränkt. Da die bewusst zittrige, fast unsicher wirkende Linienführung Sfars, konterkariert durch eine kraftvoll-nuancierte Kolorierung.

Bei Sattouf eine klare Chronologie der Ereignisse, quasi von der Geburt bis zur Heimkehr des entführten jüngeren Bruders, bei Sfar hingegen ein fortwährendes Hin und Her zwischen Gedächtnisfetzen, Erinnerungsinseln im Meer des sonstigen Vergessens, die Sfar auch unmissverständlich als solche deklariert.

Beides freilich auf je eigene Art: ein Ereignis.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 18. November 2023

Weitere Artikel