Leopold Rosenmayr, langjähriger Soziologie-Ordinarius an der Universität Wien, über seine Zeit bei der Wehrmacht, den Wiederaufbau, Härte, Schmerz, den Nutzen des Wehrdiensts – und das Bedürfnis, ein Mensch zu werden.
Leopold Rosenmayr, hier in Ihrer Wohnung sind wir umringt von Erinnerungsstücken eines 87 Jahre währenden Lebens, Stücken, die aus Ihrer Beschäftigung mit Afrika genauso datieren wie aus privaten Freundschaften oder Ihrem beruflichen Umfeld als langjähriger Soziologie-Ordinarius an der Universität Wien. Ihr aktuelles Buch, „Im Krieg auf den Balkan“, führt Sie in eine Zeit zurück, die bisher ausgespart blieb: den beiden Jahren in der deutschen Wehrmacht. Wer ist der Hauptadressat dieser Erinnerungsarbeit in eigener Sache – eine heutige Jugend oder Sie selber?
Als Allererstes war das ein Weg zu mir selbst. Dieser Schritt ist nicht von vornherein an ein bestimmtes Publikum gerichtet gewesen. Und ich hab auch nicht das Gefühl, dass ich durch die Erinnerung erleichtert würde. Ich habe sehr heftig darum gerungen, für mich zu klären, was ist da wirklich geschehen – es war die Suche nach einer bestimmten Wahrheit, so lückenhaft und so stückhaft sie auch immer da drinnen stehen mag.
Ihre Basis war Ihr Tagebuch. Was hat sie damals dazu bewegt, diese Aufzeichnungen anzulegen?
Das Tagebuch war für mich ein Ort des Gesprächs. Es gab ja nur sehr wenige Gespräche, ich musste Befehle entgegennehmen. Und mit dem Tagebuch hab ich versucht, einen Überlebensweg zu finden. Als ich 1943 zur Wehrmacht musste, hab ich mir ja große Illusionen gemacht, ich hab eine Dolmetscherprüfung abgelegt, weil ich der Meinung war, als Dolmetscher in der Wehrmacht könnte ich eine Art Friedensvermittler werden. Das war natürlich eine völlig verfehlte Erwartung.
In kaum einer Zeile Ihres Buches lassen Sie Zweifel daran, wie fremd Ihnen das Soldatendasein gewesen sein muss. Im Untertitel allerdings bestehen Sie darauf, dass es sich um die „Erinnerungen eines Soldaten“ handelt. Wo ist heute der Soldat in Ihnen?
In dem Bemühen, den eigenen Körper zu beherrschen, in dem Bemühen, gewisse Dinge auszuhalten, Schmerzen zu ertragen. Das ist mir sehr zu Hilfe gekommen in den vergangenen Lebensjahren, das Ertragen von starken Schmerzen nach schweren Operationen, das Wiedergewinnen der Gehfähigkeit. Sie haben ja das Wagerl gesehen, wenn ich recht müde bin, fahr ich mit dem Wagerl, Rollator heißt das richtig; aber vom Wagerl wegzukommen, darum musste ich kämpfen, wirklich kämpfen. Da hat mir die Erinnerung, du musst jetzt deinen Tornister aufschnallen, wir müssen von hier weg, sonst kommst du um, wie ich es als Soldat erlebt habe, geholfen. Dieses Sich-nach-innen-Strecken, dieses Sich-im-Inneren-Rekonstruieren, um wiederaufzubauen, was verloren gegangen ist.
Ihr Oberbefehlshaber war derselbe nachmalig als Kriegsverbrecher verurteilte Alexander Löhr, dem auch Kurt Waldheim, wenngleich sehr viel weiter oben in der militärischen Hierarchie, zuarbeitete. Wie haben Sie die Waldheim-Affäre erlebt?
Meine Erinnerung an die Kriegszeit ist damals noch nicht aufgebrochen gewesen. Ich hab Löhr nie persönlich getroffen, ich hab nur in Belgrad die schrecklichen Zerstörungen gesehen, die das Wahnsinnsbombardement, für das er verantwortlich war, hervorgebracht hat. Da hab ich aber den Zusammenhang zwischen ihm und diesem Bombardement noch nicht gekannt. Ich habe später nur seine Rückzugstaktik bewundert. Und als ich dann erkennen musste, dass derselbe Löhr, den ich beim Rückzug von Griechenland herauf über den Balkan als eine Art Ideal angesehen hab, dieses furchtbare Bombardement zu verantworten hatte, bin ich sehr erschrocken.
Mein Vater war, wie Sie, Jahrgang 1925, er wurde, wie Sie, 1943, mit 18 Jahren, zur Wehrmacht eingezogen, er war, wie Sie, kein begeisterter Soldat. Und er hat in seinen eigenen Erinnerungen, mit Blick auf seine Kriegszeit, den Satz geprägt: Alt geworden bin ich in zwei Jahren. Verglichen mit dem, was er in diesen beiden Jahren erlebt hatte, erschien ihm alles, was danach kam, nebensächlich, im Guten wie im Bösen. Welches Gewicht haben Ihre zwei Jahre Krieg in Ihrem Leben?
In gewisser Weise bin ich erst erwachsen geworden, aber ich bin auch zu einer schrecklichen Härte gekommen. Heute noch muss ich um menschliche Weichheit kämpfen. Wissen Sie, wie schwierig es ist, als alter Mann sein Leben zu ändern? Nach dem Krieg hab ich für mich keinen anderen Weg gesehen, als mit einer Art Wahnhaftigkeit etwas aufzubauen. Die Arbeit war meine eigentliche Konsequenz aus dem Krieg. Menschliche Beziehungen hab ich gar nicht richtig eingehen können. Das Leben hat mich gepackt, ich hab geheiratet, ich hab vier Kinder gehabt. Es ist sicher so, dass ich nur zum Teil aus diesem Krieg herausgekommen bin, ich bin irgendwie darin hängen geblieben. Und dann hab ich gehofft, dass dieses Buch mir helfen wird, neue Wege zu gehen, und das hat es insofern, weil ich daraus gesehen hab, wie viel ich versäumt hab. Die einzige wirkliche Freundschaft 50 Jahre hindurch war die mit Josef Pillhofer, dem großen Plastiker, der vor zwei Jahren gestorben ist. Dort hinten steht eine Plastik von ihm. Er hat mir einmal von der Gefangennahme eines amerikanischen Offiziers erzählt: Wie der gesehen hat, dass es keinen Ausweg mehr gibt und Josef die Waffe gegen ihn gerichtet hat, hat er die Fotos seiner Frau und seiner Kinder aus der Tasche gezogen und hat sie ihm gezeigt, weil er Angst hatte, dass er erschossen wird. Das war dieses Leben damals. Mit Josef konnte ich das teilen. Aber das war eigentlich der Einzige, mit dem ich das teilen konnte.
In Ihrem Buch schildern Sie sehr eindringlich einen – letztlich erfolglosen – Versuch, jemanden gezielt zu töten. In einem Schützenloch sitzend, wollen Sie sich an einer Gruppe abrückender Feinde dafür rächen, dass Sie von diesen davor schwer bedrängt, ja in Panik versetzt worden sind. Sie schießen auf die Flüchtenden, treffen aber nicht. Da ist Tucholskys Satz „Soldaten sind Mörder“ sehr nah.
Das war das einzige Mal, dass ich diese Anwandlung gehabt hab. Wenn Sie im nassen Gras liegen und links und rechts die Einschläge von den feindlichen Waffen geradezu körperlich empfinden, sind sie danach unglaublich erschöpft. Und da ist in mir das Bedürfnis aufgebrochen, diese Flüchtenden aufs Korn zu nehmen. Ich hab niemanden erschossen, aber ich hätte es in Kauf genommen, dass einer liegen geblieben wär. Wobei ich mir sonst immer gesagt hab: Aus eigenem Antrieb erschieß ich niemanden. Ich bringe niemanden um. Ich weiß gar nicht, woher das kam. Aber in der Realität einer solchen Situation ist dann manchmal alles ganz anders, als man es sich vornimmt.
Vor dem Rückzug aus Griechenland hat sich Ihnen Gelegenheit zur Desertion geboten, die haben Sie nicht ergriffen. Wieso?
Ich hätte mir nicht vorstellen können, meine Kameraden zu verlassen. Das hat nichts mit Heldentum zu tun, ein Held war ich nie, es ging dabei auch nicht um Nationalsozialismus oder Zugehörigkeit zu Großdeutschland. Bei den Kameraden zu bleiben war eine Überlebensform für mich. Wir konnten nicht ausscheren, dieser Zusammenhalt war notwendig, damit die Einzelnen vielleicht doch ihr Leben retten konnten. Wären wir als einzelne Deserteure dort herumgelaufen, entweder hätte uns die Wehrmacht erwischt oder der griechische Widerstand.
Eine dieser Tage veröffentlichte Studie über Gespräche von Wehrmachtsangehörigen, die heimlich in US-Gefangenenlagern aufgezeichnet wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass die Wehrmacht stärker nationalsozialistisch, stärker rassistisch, stärker antisemitisch geprägt war als bisher gedacht. Ihre Erinnerungen skizzieren ein anderes Bild.
Meine Erfahrung ist, dass es einzelne Fanatisierte gegeben hat. Zum Beispiel der Hauptfeldwebel in meiner Regimentskompanie, der hat sich sehr eindeutig deklariert. Als er dann mit mir Gefangener im Partisanenlager war, hat er behauptet, dass er das nie so gemeint hat. Manche haben sich tatsächlich Hoffnungen gemacht, dass die V2 den Krieg siegreich beenden würde. Das waren schreckliche Dinge. Und man musste wahnsinnig vorsichtig sein, durfte kein Wort sagen. Aber meine Generation, jedenfalls mein unmittelbares Umfeld, ich würde sagen zehn Mann, mit denen ich in den Schützenlöchern gesessen bin, die waren alles andere als Nationalsozialisten. Bis in die letzten Tage war es eine gespaltene Welt, es gab immer noch ältere, überzeugte Nationalsozialisten, da hatte eine tiefgreifende innere Entstellung stattgefunden, eine Umdrehung des Menschen auf diese schrecklichen Ziele hin.
Nach dem Krieg begegnete man zwei Mustern, mit denen die Erfahrungen verarbeitet wurden: Da gab es die einen, die immer und immer wieder davon erzählten, und da gab es die anderen, die in Schweigen versanken. Ihre Kinder haben den Vater, der vom Krieg erzählt, nicht erlebt. Wieso?
Das war alles so tief in mir vergraben. Ich war doch noch so beteiligt an alledem. Ich habe es vorgezogen, Puppen zu basteln und für die Kinder Kasperltheater zu spielen. Bis in ihre Schulzeit. Da hab ich eine Bühne gehabt und auf dieser Bühne hab ich für sie mehr oder minder pädagogisch geartete Kasperltheaterstücke gespielt. Aber ich hätte niemals vom Krieg erzählen können.
Einerseits ist heute bei uns handfeste physische Gewalt tabu bis hin zur kleinsten Schulhofrauferei. Andererseits ist im Kino, im Fernsehen, in Computerspielen nichts so gefragt wie Akte elementarster Gewaltausübung, und zwar vielfach von Kindesbeinen an. Und die Schrecken des Krieges sind längst nicht mehr das, was sie für Ihre und auch noch für meine Generation waren.
Daher halte ich es für sehr wichtig, überhaupt zu verstehen, wie mit einer Waffe Gewalt ausgeübt werden kann. Und was die Waffe anrichten kann. Die jungen Menschen sollen die Chance kriegen, das zu erfahren. Mein Sohn hat mich seinerzeit sehr gedrängt: Setz dich ein oder zeig mir einen Weg, wie ich’s vermeiden kann, Waffenträger zu werden. Ich habe gesagt: Das werde ich nie tun, du musst das abdienen, und du musst Kenntnisse gewinnen daraus.
Würden Sie Ihr Leben ein geglücktes Leben nennen?
Ein verworrenes. Ein taumelndes. Ein hin und her schaukelndes. Ein jetzt glücklich gewordenes Leben. Das Muss des Überlebens hat mein Leben sehr lange beherrscht. Ich wurde erst jetzt, sehr spät, in diesem Bedürfnis unterstützt, in gewisser Weise ein Mensch zu werden. Und wenn Sie hier weggehen, dann sollen Sie das Gefühl haben, ich bin Ihnen irgendwie näher gekommen. Das wäre mir heute wichtig, dass ich da nicht versagt hab.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 3. November 2012