Die Ghega-Bahn ist 150 Jahre alt. Gefeiert wird sie unter einer 130 Meter hohen Brücke aus Spannbeton. Semmering: ein Stimmungsbild.
Der Kran hält Wacht. Sonst hat er nichts zu tun. Und wenn der Wind weht, dreht er sich. Einmal hin, einmal her. Auch rundherum. Nichts ist ihm schwer, kann er sich doch frei und unbehelligt davon, irgendwelche Lasten in die Höhe hieven zu müssen, ganz und gar seinen Pirouetten hingeben, ein riesiger einbeiniger Vogel, der nicht fliegen kann, nur seinen Hals wendet, wie es ihm Luft und Wetter befehlen. Seit Wochen. Seit Monaten. Seit Jahren.
Den Rhythmus dazu liefert er selbst. Im Knirschen seiner Getriebe, im Knacken seiner Gestänge. Und der müde Hotelkoloss unter ihm liefert die Breaks zu seinem Beat: mit klappernden Fensterläden, scheppernden Scheiben, oder wenn wieder einmal einer der grün glasierten Dachziegel, vom Sturm aus der Verankerung gefegt, auf einer Terrasse, einem Balkon zerschellt.
Man sagt: Wo Bewegung sei, sei Leben. Kein Zweifel: An Bewegung mangelt es nicht, nur von Leben ist hier keine Spur. Noch nicht. In ein paar Wochen, Anfang Juli wird das Südbahnhotel am Semmering zu kurzer Scheinexistenz erwachen, werden Zuschauer und Schauspieler ein und aus gehen, für einen Monat, wie schon in der jüngeren Vergangenheit, seit die Festspiele Reichenau den fatalen Charme des Brüchigen als Kulisse nutzen, bis in die Schauspielergarderoben und in die Toiletten ein Panoptikum des realen Untergangs, das so trefflich unsere Vorstellung der Untergehergesellschaften eines Arthur Schnitzler möbliert: eine hochfeine Grottenbahn der Jahrhundertwende-Seele, in der Menschen und Gefühle Nachempfindung, Inventar und Mauern dagegen original sind.
Heuer steht Schnitzlers „Weites Land“ auf dem Festspielprogramm, weiß man sich doch hier am Ort der Entstehung wie der Handlung, dort, „wo Schnitzler dieses Werk zum größten Teil geschrieben hat“. Und weiter im PR-Text: „Die Hotelgäste am ,Völser Weiher‘ waren eigentlich die Gäste des Südbahnhotels, und der Portier Rosenstock ist das literarische Denkmal für den Südbahnhotel-Portier Rosenbaum.“
Was einen gewissen Luc Bondy nicht daran hinderte, Mitte der Achtzigerjahre sein „Weites Land“ nicht im Südbahnhotel, sondern 500 Meter Luftlinie weiter, im gleichermaßen leerstehenden Hotelpalast „Kurhaus“, einzumieten. Mittlerweile ist das „Kurhaus“ in seiner kleinen Karriere als Drehort von Bondys Schnitzler-Verfilmung bis auf den „Kommissar Rex“ gekommen und steht auch sonst dem Verfall noch näher als sein Lokalrivale im Grandios-Ruinösen. Ja, nicht einmal ein Kran erhebt sich über seinem morschen Giebel, und sei es auch einer, den niemand braucht.
Semmering gibt es nicht. Keiner kann ernsthaft diese willkürlich über Hänge und Hügel verstreuten Baulichkeiten „Ort“ nennen wollen. Sicher, da trägt doch tatsächlich eine Gemeinde den Namen „Semmering“, behauptet der Amtskalender; aber was, bitte, soll denn dieser Gemeinde gemein sein, sieht man einmal von einer ungewöhnlich hohen Menge an pittoresk verfallender Bausubstanz ab? In Wahrheit hapert es ja schon der hiesigen Geografie an Eindeutigkeit: Semmering – das ist eine „Passlandschaft an der Grenze zw. Zentral- und Kalkalpen“, sagt das „Österreich-Lexikon“. Ein Pass, schön und gut. Aber eine Passlandschaft? Wie hat man sich die vorzustellen? Und wie weit reicht sie? Nur bis zu den unmittelbaren Nachbarn Pinken- und Hirschenkogel hinauf oder auch hinunter Richtung Tal, nach Klamm, Maria Schutz, Schottwien, Steinhaus und wie sie alle heißen?
Zumindest verwaltungstechnisch kommt unsere Passlandschaft, und was immer wir uns darunter vorstellen wollen, zudem seit Jahrhunderten geteilt daher: hie Niederösterreich, da Steiermark. Die Grenze geht auf der Passhöhe mitten durch die Häuser, und was da einigermaßen eins scheint, ressortiert in Wahrheit zu zwei Gemeinden: einer niederösterreichischen, eben Semmering, am Berg, und einer steirischen, Spital am Semmering, im Tal. Glaube keiner, eine heimische Binnengrenze sei so gut wie keine Grenze. Stichwort Gendarmerie: „Als ich Anfang der Achtziger hergekommen bin, hat mir mein Vorgesetzter einen langen Schriftverkehr mit dem Landesgendarmeriekommando gezeigt“, erinnert sich Erich Kodym, Gruppeninspektor am Posten Semmering. Das Thema: „Wir fahren in ein anderes Bundesland tanken. Da gab es 500 Meter im Steirischen eine BP-Tankstelle. Die nächste niederösterreichische dagegen war zehn Kilometer weg, in Schottwien. Und wir hätten eigentlich die zehn Kilometer nach Schottwien fahren müssen.“ Das Ansinnen, doch in der Steiermark das niederösterreichische Dienstfahrzeug betanken zu dürfen, „das ist dreimal hin und her gegangen“.
Weniger handfeste, freilich nicht weniger gut erkennbare Konsequenzen hat die Teilung in allen Fragen der Raumgestaltung: Was den Semmeringern am Berg eine Art Zentrum ist, ist den Spitalern im Tal alleräußerste Peripherie; schließlich liegt ihre Mitte unten und nicht oben, dort, wo sich im späten 19. Jahrhundert ein paar spinnerte Städter einbildeten, in eine grimmige Wildnis gleichsam eine Nobelexpositur von Wien schlagen zu müssen. Die uns wiederum ihrerseits in ihren Anfängen zwar rein niederösterreichisch – und dennoch schon geteilt entgegentritt: Dem ersten Südbahnhotel, 1882, an einem Nordhang situiert, aber dafür mit prominent-alpinem Rax-Schneeberg-Panorama sowie einem kommoden Mikroklima gesegnet, folgte 1888, sozusagen eine viertel Umwanderung des Pinkenkogels weiter, das erste Hotel Panhans, halbwegs sonnseitig, jedoch ohne Fernblick und im Übrigen jenem eher herben Luftzug aus dem Mürztal ausgesetzt, der dem nicht gerade hochgebirgigen Hirschenkogel vis-à-vis bis zum heutigen Tage wenn schon nicht genügend Schnee, so jedenfalls genügend tiefe Temperaturen für die Schneekanonen sichert.
Südbahnhotel hier, Hotel Panhans dort: Das sind die beiden Kristallisationspunkte, an denen sich in den Folgejahren Hotels, Pensionen, Villen, allesamt bestbürgerlich, anlagern. Mittlerweile hat sich’s ziemlich auskristallisiert. Schlimmer noch: Der Fin-de-Siècle-Edelstein Semmering liegt seit Längerem matt vor uns. Viele edelmütige Aufpolierer hat der – wie heißt’s gleich neuerdings – „Zauberberg“ seit seinem Niedergang schon gesehen. Und nicht wenige davon waren nichts weiter als Zertrümmerer und Defraudanten.
„Willkommen in Klamm“ steht auf dem hölzernen Schild am Straßenrand, weiße Schrift auf dunkel gebeiztem Grund, ein weißes Blümchen rechts, ein weißes Blümchen links. Das Wirtshaus ein paar Schritte weiter ist seit einiger Zeit „vorübergehend geschlossen“, die Villa gegenüber „zu verkaufen“, nur die Kirche samt Friedhof rundherum tut noch so, als sei alles, wie es früher war. Pfeile weisen den Wanderer auf den Kreuzberg und zur Speckbacher Hütte, nach Payerbach hinüber und die Semmeringer Bahntrasse entlang. Nur zu dem übermannshohen Stein keine 20 Meter neben dem „Willkommen“-Schild weist kein Pfeil, führt kein Weg. „Hier ruhen 1048 Tote des Bahnbaues 1848-1854“ ist da in Granit gemeißelt. Und, in Klammern angefügt: „Cholera, Typhus etc.“ Etc.? Je nun, woran man sonst halt noch so sterben kann. Bei diesen Mengen nimmt man’s eben nicht mehr genau. Und außerdem: Wer waren sie denn schon, die man da auf dem Hang notdürftig verscharrte?
10.000 bis 20.000 Arbeiter seien es gewesen, schätzt man heute, aus allen Teilen der Monarchie kommend, die ab 1848, einem Plan des aus Venedig stammenden Generalinspektors der Staatsbahnen, Carl Ghega, folgend, eine Gleistrasse in das labyrinthische Tälergewirr am Fuße des Semmeringpasses brachen, endlich die Bahnlücke zwischen Gloggnitz und Mürzzuschlag zu schließen. Und man will sich gar nicht vorstellen, welche Kapellen, Kirchen, Dome man ihren Toten errichtet hätte, wären sie wenigstens einen passablen Heldentod gestorben: unter Gerölllawinen, in einstürzenden Tunnels, von den schaurigen Unbilden einer gnadenlosen Natur abgeschüttelt und hinweggefegt. So aber, weil sie es in der weit überwiegenden Mehrzahl nolens volens vorzogen, in Barackenlagern jenseits unserer Vorstellungskraft an irgendwelchen banalen Seuchen zu krepieren, grüßt in Klamm nur ein schlichter Stein, versteckt unter zwei Fichten, ins Land. „Cholera, Typhus etc.“, na, Sie wissen schon.
Ja, unsere Helden: Was wären wir ganz und gar gewöhnlichen Menschen ohne sie? Da kann es schon passieren, dass, wo wir keine haben, wir sie uns in unseren Köpfen zusammenfabulieren. Zum Beispiel Carl Ghega, ab Juni 1851 „Ritter von“: Wie schön haben wir ihn uns zurechtmodelliert, den unermüdlichen Kämpfer gegen die technische Ignoranz seiner Tage, der gegen alle Anfeindungen an der Spitze einer kühnen Arbeiterschar dem bösen Berg die erste Gebirgsbahn der Welt abtrotzt! Was bleibt davon, wenn man die Historie so genau betrachtet, wie es Wolfgang Straub in seiner neuen Ghega-Biografie tut? Die fachliche Diskussion der „Semmeringfrage“, nämlich wie denn und ob überhaupt per Eisenbahn der Pass zu überqueren sei, habe für Ghega wohl kaum mehr bedeutet als ein „Hintergrundgeräusch“; am Semmering selbst sei er bestenfalls „bei besonderen Ereignissen“ gewesen, denn schließlich hatte der Herr Generalinspektor auch noch andere Eisenbahnen zu bauen. Und sein früher Tod, 1860, mit gerade 58 Jahren? Nichts Spektakuläres, schon gar kein – wie mitunter kolportiert – Selbstmord: schlicht eine Mischung aus jahrelanger Überarbeitung und dem damit verbundenen gesundheitlichen Raubbau plus Mangel an beruflichen Perspektiven, hatte doch die Privatisierung der hiesigen Bahn den Staatsbahnbauer soeben den Posten gekostet. Weniger Staat, mehr privat, ab ins Grab. Macht nichts, wir haben’s ja; und: Der nächste Ghega kommt bestimmt.
„Wie ich das erste Jahr hier überstanden hab‘, ist rational nicht erklärbar“, bekennt Eduard Aberham. Seit der Saison 1984/85 leitet er das altehrwürdige Panhans und hat dem vormaligen und Jetzt-wieder- „Grandhotel“ nach Jahrzehnten des Niedergangs, ja der Devastierung 20 Jahre kontinuierliche Geschäftsentwicklung beschert. Entgegen jeder Erwartung. Schließlich ist es kein Zufall, dass der Bauunternehmer Adalbert Kallinger der einzige Bieter ist, als er 1978 die heruntergekommene Liegenschaft im Rahmen einer Zwangsversteigerung erwirbt. Doch dem als „Abbruchspezialisten“ in Verruf stehenden Kallinger gelingt, was sich sonst offensichtlich keiner zutraut: Ein Teil des Hotels wird als Eigentumswohnungen verkauft, ein weiterer als Hotel instand gesetzt, eine Tourismusschule in den laufenden Betrieb integriert.
Und dann stehen auch die Zeitläufte auf der Seite des Unternehmens „Panhans neu“: 1989 fällt der Eiserne Vorhang, und plötzlich scheint dem Semmering zurückgegeben, was für seinen Tourismus seit je unverzichtbar war – der Osten. Eduard Aberham sieht das nüchtern: „Einen Deutschen davon zu überzeugen, dass er am Arlberg, am Wilden Kaiser und an der Planai vorbeifahren soll, um auf dem Semmering Ski zu laufen, das wäre eine rhetorische Meisterleistung. Aber vom Osten her gesehen, sind wir der erste Berg.“ Gewiss, noch seien die östlichen Nachbarn in den Gästelisten nur Minoritäten: „Aber in Summe tragen sie schon ganz erheblich bei, und ich denke, das wird sich mit der EU-Erweiterung noch verbessern.“ Ein Eindruck, den auch Josef Wagner bestätigt: Mit seinem „Panoramahotel“ hat er sich innerhalb vergleichsweise weniger Jahre in der Nische der Biohotels etabliert, ein Beweis, dass nicht nur im Mainstream touristischer Erfolg zu finden ist. – Sorgen bereitet noch immer die Sommersaison. Da wolle man demnächst mit einer neuen „Wassererlebniswelt“ auf dem Gelände des verfallenen Panhans-Bades gegensteuern, erzählt Aberham. Ja, und die Gäste aus dem Inland müssten sich offenbar erst daran gewöhnen, dass sie am Semmering nicht mehr unter sich sind. Wenn da einer auf einer Piste ein paar Ungarn sieht, da könne man schon erleben, dass er sagt: „Ungarn? Was haben denn die bei uns verloren?“ Hier und heute, im EU-Erweiterungsjahr 2004.
Gewiss, wird schon werden. Die andere Klientel freilich, von der sich der Semmering in seiner Blüte um die Jahrhundertwende und danach bestens nährte, das jüdische Großbürgertum, die bleibt auf immer aus: vertrieben, verschollen, umgebracht. Und dass am Pass bis zum heutigen Tag eher von den Kämpfen der Wehrmacht gegen die anrückende Rote Armee als von den großflächigen „Arisierungen“ geredet wird, in denen nach Schätzungen des Semmering-Kenners Wolfgang Kos „ein Drittel aller Semmeringvillen“ gewaltsam den Besitzer wechselten, entspricht hierzulande eben dem üblichen Bewusstseinsstand. In diesem Lager ist Österreich. Nicht nur, aber auch.
„Petunien 0,70, Pelargonien 2,50, Begonien 0,70“: Im vormaligen „Schildwirtshaus ,Zur Goldenen Krone‘„ zu Schottwien hält heute der „Blumenmarkt Grete Stix“ eine „große Auswahl an blühenden und grünen Topfpflanzen“ bereit. Nicht zu vergessen „Sauerkraut vom Fass!“. Ein paar Meter weiter ist an der Fassade ein mannshoher Ghega in Schwarzweiß affichiert. Und eine Tafel mit Schottwiener Wappen tut uns kund, der „geniale Erbauer der Semmeringbahn“ habe „von seiner Kanzlei“ in diesem Hause den Bahnbau geleitet.
Schräg gegenüber, die Hauptstraße hinan: das „Alte Doktorhaus“. Hier, in einem kleinen Hinterhofgebäude, hat die „kleinste Privatbrauerei Österreichs“, die des Erich Brettner, seines Zeichens Seniorchef eines Schottwiener Tischlereibetriebs, ihre Heimstatt. Hier zeigt das Österreichische Staatsarchiv in Kooperation mit der Gemeinde Schottwien die Jubiläumsausstellung „150 Jahre Semmeringbahn“. Eröffnung: 15. Mai. Denn am 16. und 17. Mai vor 150 Jahren geruhte das noch ziemlich frisch vermählte Kaiserpaar die Strecke von Gloggnitz nach Mürzzuschlag zu befahren. Mehr und förmlichere Einweihung dessen, was wir heute Unesco-Weltkulturerbe nennen dürfen, hat nicht stattgefunden.
„Schottwien hat eigentlich nicht viel von der Semmeringbahn gehabt“, weiß Erich Brettner. Im Gegenteil: Die Passstraße, von der der Ort, letzte Poststation vor und erste nach dem Semmering, über Jahrhunderte gut lebte, verlor mit dem Bahnbau in kurzer Frist allzu viel einer Bedeutung, die ihr auch der Aufstieg des Automobils nicht mehr zurückgewann: Wirtschaftswunderkindern wie mir ist Schottwien vorzüglich als staubiges Kaff in Erinnerung, das es auf der Fahrt in den Süden möglichst rasch hinter sich zu lassen galt. Die Wirtshauszahlen sprechen für sich. Erich Brettner: „Ende des 18. Jahrhunderts haben wir 15 Gasthäuser gehabt, 1890 waren es nur mehr acht, nach dem Zweiten Weltkrieg fünf.“ Und jetzt? „Jetzt haben wir eines.“
Das allerdings in seliger Straßenruh, denn der Durchzugsverkehr rollt seit Ende 1989 130 Meter über dem Ort: auf einer der höheren Straßenbrücken Europas. „Am Anfang hat man nicht schlafen können, weil es plötzlich so ruhig war“, erinnert sich Brettner. Davor, da war doch noch der „Bröselbrücken“-Skandal: Wenige Monate vor Eröffnung prasselten Betonteile auf die Schottwiener herab, wandelte sich die in Rekordzahlen gefeierte technische Großtat in der öffentlichen Wahrnehmung zum „Brückenmonster“. Freilich: Der Schaden war rasch behoben. Und sogar an den betonüberspannten Himmel hat man sich in Schottwien halbwegs gewöhnt. „Jetzt haben wir halt eine Brücke“, meint Brettner lakonisch. „Schön ist sie nicht, aber wir stehen dazu. Der Wirt hat früher ,Brauner Hirsch‘ geheißen, jetzt heißt er ,Brückenblick‘.“
Und wenn heute oft und gern am angeblich so abschreckenden Beispiel der Schottwiener Straßenbrücke exemplifiziert wird, wie „harmonisch“ sich doch im Gegensatz dazu die Ghega-Bahn in die Landschaft füge, dann soll doch daran erinnert sein, dass Ghegas Vorgangsweise weder sonderlich harmonisch, schon gar nicht sanft zu nennen ist: Ohne langes Zaudern – und nicht zuletzt zum Schrecken etlicher Zeitgenossen – hat da einer ein technisches Bauwerk nach den wissenschaftlichen Regeln seiner Zeit ins und durchs Gebirge gedroschen. Die riesigen Schüttkegel von ausgebrochenem Gestein entlang der Strecke, an historischen Fotografien bestens zu studieren, liegen heute überwuchert, zu scheinbar allernatürlichster Natur befördert, vor uns, und all die hochgelobten Bogenviadukte passen schon allein deshalb so unverzichtbar ins Semmeringer Landschaftsbild, weil uns genau dieses Landschaftsbild ohne sie längst nicht mehr passt. Nehmen Sie doch einmal versuchsweise dem vormals Banknoten-notorischen „20-Schilling-Blick“, rechts Polleroswand, links Kalte Rinne, das Viadukt weg: Der Rest scheint uns nur mehr topografische Dutzendware.
Vielleicht ist es, in diesem Licht betrachtet, gar nicht unwahrscheinlich, dass sich so um das Jahr 2139 eine Initiative findet, auch der Schottwiener Brücke das Prädikat „Weltkulturerbe“, oder was sonst halt dann gerade unter Kulturschützern en vogue ist, zu verleihen. Falls sie dann noch steht.
Bahnhofsvorstand gibt’s keinen mehr. Dafür gibt es einen „Projektkoordinator“ des „Geschäftsbereichs Netz“ im Bahnhof Semmering. Der heißt Gamperl. Und er kennt sich aus. Aber er darf nichts sagen. Zuständig für Auskünfte aller Art, den Semmeringbahn-Betrieb der Österreichischen Bundesbahnen betreffend, ist nicht der, der sich auskennt, sondern der „ÖBB-Regionalsprecher Niederösterreich“ mit Sitz in Sankt Pölten, Johann Rankl. Und weil sich der wiederum in Semmering-spezifischen Details nicht auskennt und auch gar nicht auskennen kann, ruft er, entsprechende Anfragen vorausgesetzt, seinerseits Herrn Gamperl an, um das zu erfahren, was der Anfrager ohnehin von Herrn Gamperl hätte erfahren wollen, und gibt anschließend – und ganz gewiss auf Punkt und Komma verlässlich – Herrn Gamperls Informationen an den Anfrager weiter. So viel zur „Neuen Bahn“.
Immerhin kann Herr Rankl nicht überall sein, und so komme ich doch noch zu einem Gespräch mit Herrn Gamperl, der mich freundlicherweise die paar Meter vom Semmeringer Bahnhof, die Gleise entlang, zum Eingang des Scheiteltunnels begleitet. Der beiden Scheiteltunnel, um genau zu sein: rechts der alte Ghega-Tunnel, ursprünglich – wie die gesamte Strecke – zweispurig, in den Fünfzigern auf einspurig rückgebaut, links der neue, 1952 eröffnet, einzige wirklich substanzielle Veränderung der Strecke seit der Errichtungszeit. Dass Herr Gamperl auch jetzt nichts gesagt haben will, versteht sich; dass er sogar abseits dessen nicht viel sagt, erzählt mehr über den Zustand eines Unternehmens, als es den Bundesbahnen lieb sein kann. Nur dass der Herr Bereichssprecher in Sankt Pölten glaubt, am Bahnhof Semmering gebe es noch immer Schalterdienst, lässt ihn lächeln. Warum hier nicht einmal ein Fahrkartenautomat installiert sei? Das wüssten einzig die Kollegen vom Personenverkehr. Er selbst kenne nicht einmal den Preis einer Fahrkarte nach Wien.
Noch sind die Bundesbahnen – auf dem Papier – ein Unternehmen. Man stelle sich vor: Wenn sie demnächst nach allen Regeln gegenwärtiger Wirtschaftskunst in Einzelgesellschaften zerhackt sein werden – wie koordiniert und effizient wird dann erst alles sein.
Hannes Tonn ist zufrieden. 1998 hat er, von Beruf Architekt, einer Semmeringer Villa, Jahrgang 1908, einen einigermaßen auffälligen Holzwürfel als Zeugnis der Zeitgenossenschaft und eigene Wohnstatt angefügt, ist auf die Passhöhe gezogen, trotz Lärm, Staub und 9000 Fahrzeugen täglich, davon knapp 2000 LKWs, die hier durch den „Luftkurort“ – so die Eigendefinition aus alten Tagen – donnern. DTV 9000, will sagen „durchschnittlicher Tagesverkehr“: Das ist mehr als auf Pyhrn und Reschen, Felbertauern und Sankt Bernhard.
Hannes Tonn ist dennoch hergezogen, denn er wusste: 2004 ist’s überstanden. 2004, voraussichtlich im Oktober, wird der Scheiteltunnel der Semmeringschnellstraße eröffnet, 2004, voraussichtlich im Oktober, kann man wieder Luft holen im Luftkurort.
Ein Straßentunnel – und alles wird gut. Hannes Tonn kann endlich ruhig schlafen. Eduard Aberhams Panhans-Gäste können endlich ohne Gefahr für Leib und Leben die Straße queren, die sie von den Hirschenkogel-Bergbahnen des Markus Pausackerl trennt. Und Markus Pausackerl kann bei der steirischen Tunneleinfahrt einen kleinen, feinen, 2000 Fahrzeuge fassenden Parkplatz in den Dürrgraben schlagen samt den dazu passenden Liften, Pardon, „Aufstiegshilfen“, auf dass sich in einer wunderbaren „Zauberberg“-Zukunft vielleicht die Skigebiete von Semmering und Spital zu einem grandiosen Pisten-Ganzen fügen.
Dass sich durch den Straßentunnel unter der schönen neuen Semmeringwelt so ums Jahr 2010, wie manche meinen, womöglich mehr LKWs als heute über den Brenner bewegen werden – wen kümmert es? Aus den Augen, aus dem Gehirn.
Die Bahn dagegen? Die darf weiter die gewundenen Trassenwege des Carl Ghega wandeln, als rollte der Autoverkehr noch immer auf jener Semmering-Passstraße, die Kaiser Ferdinand samt Gemahlin zur Einweihung 1841 in sechsspännigem Reisewagen befuhr. Der Semmering-Basistunnel? Ein Bahnprojekt in der politischen Endlosschleife. Bitte warten, bitte warten. 90 Liter Wasser rinnen aus seinem Sondierstollen. Sekunde für Sekunde. Sinn- und nutzlos wie der einsame Baukran, der beim Südbahnhotel Wacht hält.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 15. Mai 2004