Hoffnung im Müll: eine Zinshaus-Rhapsodie aus Altpapier.
Zinshäuser seien heutzutage so anonym, sagt man. Und tatsächlich: Wo sind die Zeiten, da auf Zimmer-Küche nachts fünfköpfige Familien und des Tags ein paar Bettgeher traut vereint den sozialen Austausch übten, da der winterliche Weg zum Klo am Gang entzündeten Blasen und Nierenbecken frische Kühlung bot, da man beim gemütlichen Tratsch an der Bassena Fensterputz und Liebesleben der alleinstehenden Weibsperson im Mezzanin erörterte.
Alles vorbei. Was weiß man heutzutage schon von seinem Nebenan? Nur der sich zwischen den Entleerungen kontinuierlich füllende Mistkübel im Hof ist Indiz für anderes Leben im Haus außer dem eigenen. Und doch, es gibt Gelegenheiten, in denen sich unverhofft die intimsten Winkel eines Mitbewohners offenbaren. In denen sich diskret das Indiskreteste enthüllt. Unter dem Deckel der Altpapiertonne beispielsweise.
Es geschah an einem gewöhnlichen Frühsommermittwochvormittag. Die Sonne strahlte wie gewöhnlich vom Himmel, im zweiten Stock des Hauses vis-á-vis blinzelte eine Katze wie gewöhnlich von ihrem Fensterbrett ins grelle Licht, und gewiss hätte ich auch die Vöglein wie gewöhnlich zwitschern hören können, wären da nicht die Bauarbeiten vor dem Haus gewesen, neue Leitungen, bis 15. Juli, wir bitten um Ihr Verständnis.
Wie gewöhnlich schritt ich dem neuen Tag hoffnungsfroh entgegen, an verschlossenen Türen, Essen-auf-Rädern-Behältern und feuchten Mauern vorbei der Altpapiertonne zu, diverse Supersonderangebote und andere Sommerschlussverkaufseinmaligkeiten zu ensorgen. Ein Deckelöffnen, ein flüchtiger Blick, ein zweiter, weniger flüchtig, ein dritter, prüfend: Da war was, was hier nicht hingehörte, in dieses Konglomerat aus Konsumträumen auf Hochglanzpapier, den Hüllen ihrer Erfüllung und den altbackenen Sensationen der vergangenen Woche. Da lagen vier Bücher unter all den Klopapierrollen in spe.
Bücher welcher Art auch immer so herzlos zu entsorgen lässt mich schaudern. Verleihen, in der sicheren Gewissheit, sie nie wiederzusehen, ja. Verschenken, was man selbst nicht vor Augen haben, geschweige denn lesen will, warum nicht. Schließlich gibt es Menschen, die man zwar nicht mag – und doch ab und zu mit einer angemessenen Gabe bedenken sollte. Eine ideale Form der Wiederverwertung: kein Energieeinsatz, keine Umweltbelastung. Ein Verfahren, das auf Werbematerialien, zerrissene Kartonagen und die Zeitung von vorgestern leider nur in Ausnahmefällen anzuwenden ist. Bücher aber schnöde der Recyclingindustrie in den chemischen Rachen zu werfen – nein. Haltet heimische Toiletten und Küchenrollenhalter goethe-, schiller-, ja, auch konsalikfrei. Danke.
Doch welche Bücher mochten es sein, deren sich da einer nur via Altpapier entledigen zu können meinte? Ein Griff in die Tiefe förderte nebst zwei erotisch illustrierten Großformaten zwei schmale, rote Bändchen zutage: „Wie man eine Frau befriedigt“, versprach das eine seine Leser zu lehren, „Wie man ein guter Liebhaber wird“, das andere. Was mochte ihr trauriges Schicksal wohl zu bedeuten haben? Markierte ihre Abschiebung das Ende einer Liebe – oder deren Anfang? Hatte da einer seine Schulung, „wie man eine Frau befriedigt“, mit genügend Erfolg absolviert oder – ein hoffnungsloser Fall – frühzeitig abgebrochen? War er nun gar ein „guter Liebhaber“ geworden, oder hatte er sich wenigstens auf den „neuen Weg zum Partnerglück“ begeben, wie es der Untertitel des einen Großformats empfahl? Der Weg ist ja bekanntermaßen in vielen Fällen schon das Ziel. Warum nicht auch in Herzens- und anders biologischen Angelegenheiten?
Merkwürdig genug: Keines der Bücher, die ich da, über die Altpapiertonne gebeugt, in Händen hielt, zeigte merkbare Spuren der Benutzung. Keine Eselsohren, keine eingerissenen Seiten, keine Anmerkungen oder – wen hätte es gewundert – abgegriffene Stellen. Der einstige Besitzer: vielleicht ein erotischer Ignorant – oder einer, der einschlägige Unterweisung nicht mehr nötig zu haben meinte.
Doch hinter welcher der 20 Türen dieses Leopoldstädter Hauses mochte er zu finden sein? Frau F., wohnhaft im ersten Stock, die Frau, die über alle alles weiß, bevor die selbst es wissen, hätte sicher einen Tipp parat gehabt: Nur „da Italiena“, hätte sie erregt vermutet, passe zu diesen Zeugnissen moralischer Zerrüttung. Schließlich sei der ja – in Wahrheit ein Schweizer aus dem Tessin und im Übrigen mein Nachbar – auch an dem Chaos in der Fahrradabstellkammer, an Schmutz auf den Stiegen und an jeder sonstigen Unbill schuld, das wisse sie, also das ganze Haus.
Anderen gegenüber hätte sie vielleicht auch mich verdächtigt: Ein Mensch, der keine Vorhänge vor seinen Fenstern hat, ist doch zu allem fähig. Ich freilich stand ratlos mitten im Hausflur, den Blicken jedes Vorbeikommenden ausgesetzt, vier Bücher in der Hand, die in aller Regel gewiss nicht coram publico gelesen werden: Was tun?
Es war ein kurzer, aber harter Kampf. Sacht retournierte ich vorerst die Fundstücke, des Abends, bei der Heimkehr, fand ich sie, wie ich sie verlassen, und gewährte ihnen generös Asyl in meinen Bücherregalen. Gewiss, die Wahrscheinlichkeit, dass sich einer findet, dem ich sie leihen oder – ohne gröbste Insultation – gar schenken kann, scheint gering. Auch die eigene Verwendung mutet nicht gewinnversprechend an: Zu lernen, „wie sie noch mehr verlangt“ – dazu braucht kein Mann Bücher. Aber ist es nicht ein schönes Gefühl, wenn man mit irgendeinem seiner Mitbewohner – selbst wenn man nicht weiß, mit welchem – etwas gemeinsam hat?
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 5. Juli 1997