Abendländische Hygienekultur: aseptisch, uniform, langweilig! Gottlob, Wien ist anders. Abenteuer Kahlenberg: eine Bedürfnisanstalt und der herbe Atem der Geschichte.
Es ist etwas Komfortables um unsere abendländische Hygienekultur. Allerdings, so selbstverständlich, wie wir heute gerne meinen, ist sie auch hierzulande nicht. Gar nicht fern sind die Zeiten, dass man es beispielsweise fast natürlich empfand, sich ohne weiteren Sichtschutz, somit in aller Öffentlichkeit, zu entleeren. Noch Ende des 18. Jahrhunderts wussten Reisende zu berichten, in Städten wie Paris oder London seien die Straßen samt und sonders „öffentliche Abtritte“. Wien machte keine Ausnahme. Da fanden sich bis weit ins 19. Jahrhundert eigens vorgesehene „Nothwinkel“ auf den Straßen, um das Exkrementieren coram publico wenigstens örtlich halbwegs einzugrenzen. Der nachmalig oft gepriesenen Wiener Luft sang damals jedenfalls noch niemand ein Lobeslied.
Heute ist das alles ganz anders. Heute, im Zeitalter von feuchtem Toilettepapier, Geruchsvernichtern und Edelstahlpissoirs, ist die Reinlichkeit schon bis zu einem Punkt getrieben, an dem manche wiederum durch ein Zuviel Leib und Leben gefährdet sehen; schließlich fehle es in unserer rundum aseptisch gewordenen Welt womöglich an genügend mikrobiellen Anreizen, unseren Immunapparat hinlänglich zu trainieren. Ganz abgesehen von dem betrüblichen Phänomen, in einem Ambiente, wo auch der Abort noch blitzt, glänzt und bestenfalls, wenn überhaupt, nach Lavendelfeldern oder Zitronenhainen riecht, diesen fulminanten Fortschritt der Menschheit nicht mehr recht würdigen zu können – weil wir’s gar nicht mehr anders kennen.
Gottlob ist solcher Nivellierung auf höchstem Sanitärniveau die Stadt Wien vor. Die unterhält so manches Reservat, an dem man nicht nur seine Widerstandskräfte ausgiebig üben, sondern auch den eigenen olfaktorischen Erfahrungsschatz um Nuancen bis weit hinein ins Mittelalter erweitern kann. Und freigiebig, wie sie nun einmal ist, die Stadt Wien, lässt sie daran nicht nur die Ortsansässigen teilhaben, sondern auch unsere zahlenden Gäste aus nah und fern: indem sie die entsprechenden Lokalitäten sogar an einigermaßen touristisch frequentierten Orten platziert. Etwa auf dem Wiener Kahlenberg.
Dort offeriert, gleich neben Parkplatz und Wiener-Linien-Station, eine mittlerweile schon so gut wie historische Toiletteanlage ihre Dienste; und während ein paar Meter weiter Richtung Stadt das ehemalige Kahlenbergrestaurant des Erich Boltenstern nur mehr in einer zur „Modul University Vienna“ umgestalteten und also so gut wie unkenntlichen Form auf unsere Zeit gekommen ist, scheint hier noch alles original, wie es war, damals, zur Errichtungszeit, in den 1930ern, als der Ständestaat Beschäftigungspolitik über Großprojekte betrieb, Großprojekte wie eben die Wiener Höhenstraße auf Kahlen- und Leopoldsberg.
Einziger Unterschied zu jenen Tagen: Damals versah hier eine eigene Wartefrau ihren Dienst, erst eine Frau Babutzky, anschließend Frau Sachers, wie wir Peter Payers akribischer Kulturgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten Wiens, „Unentbehrliche Requisiten der Großstadt“, entnehmen dürfen. Doch die einigermaßen exponierte Lage forderte personell ihren Preis: Ein Brief von Frau Sachers an ihren bedürfnisanstaltlichen Arbeitgeber, die Firma Beetz, datiert mit 5. Mai 1938, ist die letzte Spur einer stationären Obsorge um das Örtchen am Aussichtsort. Und die anschließende, mittlerweile schon gut 70 Jahre währende Phase ambulanter Pflege der Erleichterungsstätte scheint in ihrer größtmöglichen Unmerklichkeit ihre Erfüllung gesucht zu haben.
Die Stadt Wien ihrerseits sorgte organisatorisch vor, jeden denkbaren Eingriff in die genuine Aura des Gewesenen schon im Ansatz zu unterbinden: Das an den Hang gebaute Objekt ressortiert verwaltungstechnisch in seinem sanitären Erdgeschoß zur Magistratsabteilung 48 (Abfallwirtschaft, Straßenreinigung und Fuhrpark), das Dreißigerjahre-Wartehäuschen auf seinem Dach wiederum, dem Niveau nach an den Parkplatz anschließend, wird von den Wiener Linien verwaltet – und wollte hier irgendwer irgendetwas instand setzen, dann müsste der zuständige Bezirk, in diesem Fall Döbling, das Ganze bezahlen, was bei der Beschränktheit der bezirklichen Budgets jeden Gedanken an möglicherweise vorgehabte bauliche Eingriffe überflüssig macht.
Bezirksvorsteher Adolf Tiller, entsprechend befragt, verweist denn auch prompt auf knappe Mittel – und im Übrigen auf zwei privat betriebene Toiletteanlagen in der Nähe. Eine raffinierte Volte hiesiger Administration: Wozu sonst wäre schließlich einst das System öffentlicher Bedürfnisanstalten entwickelt worden, wenn nicht dazu, dass wir 150 Jahre später von öffentlicher Seite mit unserer Not wieder ins Private, in ein nahes Restaurant respektive zu einem – nur halbjährlich geöffneten – Buffet, geschickt würden?
Links neben dem Tor zur Kahlenberger Kirche wird, in Stein gemeißelt, dem Polenkönig Jan III. Sobieski für den Entsatz von Wien 1683 und somit für die „Rettung der Christenheit“ gedankt. Und wir wollen uns gar nicht ausmalen, wie viel früher diese Christenheit – nur so beispielsweise – hätte lernen müssen, sich ordentlich zu waschen, hätten die osmanischen Horden mit ihrer noch aus byzantinischen Zeiten herrührenden Bäderkultur die eher ungewaschene Metropole des Habsburgerreichs überrannt.
Mittlerweile haben wir die Sauberkeit auch so für uns entdeckt. Und der Kahlenberg kündet nebstbei noch von anderen polnischen Besuchern: an der Kirchenwand vom polnischen Papst; ein paar Schritte weiter, an der Pissoirwand des Ständestaat-Aborts, von polnischen Fußballfans. Was die hier an Nachricht hinterlassen haben, irgendetwas von „Huren“ und vom „Herrschen“, erschließt sich in allen Details nicht einmal ihren in Wien ansässigen Landsleuten so recht. Umso verständlicher die zwei – deutschsprachigen – Aufschriften darunter, welche die Herrentoiletten als temporär unbenutzbar ausweisen. Und über allem dieses gewisse Bouquet, das unverstellt durch Fremdgerüche welcher Art immer aus Urinrinne und von geölter Pissoirwand steigt . . .
Ja, es ist etwas Komfortables um unsere christlich-abendländische Hygienekultur. Und nirgends lernen wir sie mehr schätzen als an jenen Plätzen, wo wir sie vermissen müssen. Wien ist und bleibt eben anders – so anders, dass man es an manchen Stellen sogar blind erkennt.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 21. März 2009