Ein Stück Kulturgeschichte des Böhmerwalds, ein Stück Weltgeschichte im Privaten: das Museum Fotoatelier Seidel in Český Krumlov – ein etwas anderer Besuch an der obersten Moldau.
Es ist ja nicht so, dass Český Krumlov erst noch zu entdecken wäre. Da ist das mächtige Schloss, das hoch über dem Städtchen hockt, als wär’s einer Vision Franz Kafkas entsprungen. Da ist das barocke Schlosstheater, das schlechthin Einzige seiner Art, samt Bühnenmaschinerie, Prospekten, Schnürboden im Original erhalten, als hätte es Fürst Schwarzenberg eben erst verlassen. Da ist das Egon-Schiele-Art-Centrum mit seiner kleinen, feinen Schau zu Biografie und Werk seines Namensgebers und immer wieder überraschenden Wechselausstellungen aus dem Kunstschaffen tschechischer Zeitgenossenschaft. Und da ist nicht zuletzt das Städtchen selbst mit seinen engen Gassen, pittoresken Plätzen, aufs Schmuckste zusammengedrängt in einer Moldauschlinge.
All das ist seit Jahren Ziel internationaler Touristenströme, viel beschrieben und noch mehr bewundert. Und dennoch, selbst in Český Krumlov wartet noch, von der Fremdenverkehrsallgemeinheit wenig beachtet, manch kleines Wunder darauf, seinem Wert nach wahrgenommen zu werden. Der barocke Schlossgarten etwa mit seinen Wandelgängen, Hecken und Boschetten. Die imposante Synagoge, letzte Zeugin einer blühenden jüdischen Gemeinde, die dem Terror der Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Vor allem aber ein kulturhistorisches Kleinod, das kaum wo seinesgleichen hat: das Fotoatelier des Josef Seidel.
Es sind nur wenige Meter vom zentralen Platz der Einigkeit über die Moldau, und schon steht man vor einer Gittertür, hinter der sich ein kleiner Garten öffnet. Gleich rechts daneben kündet eine Auslagenvitrine, was hier zu finden ist: „Josef Seidel“ steht darüber in schwungvollen Lettern an die Wand gemalt, in der Auslage selbst Fotografien, die von vergangenen Zeiten erzählen, Porträts, Gruppenbilder, dazu Werbematerialien jener Tage, für Filmmaterial genauso wie für einschlägige Gerätschaft.
Wer hier eintritt, auf den wartet eine Reise, die nicht nur tief in die Geschichte des Mediums Fotografie, sondern auch in die des Böhmerwalds führt. Besagter Josef Seidel, aus dem Norden Böhmens gebürtig und nach etlichen Wanderjahren 1886 hierher, in den äußersten Süden Böhmens, zugezogen, beschränkte sich nämlich keineswegs darauf, in seinem Atelier vor kunstvoll gemalten Hintergründen die Honoratioren seiner neuen Heimat und alle anderen, die es sich leisten konnten, abzulichten. Er zog mit seinen Kameras auch durch die engere und weitere Umgebung, zu Land und Leuten, und hielt auf Fotoplatten fest, was er da sah: Viehausstellungen, Hochzeiten, Handwerker an der Arbeit, Händler vor ihren Läden, erste Skifahrer und die Werkshallen von Fabriken. Eine kulturhistorische Dokumentation von singulärem Wert.
Als „Fotograf des Böhmerwalds“ ist denn auch dieser Josef Seidel in die Geschichte eingegangen. Und dass sein Erbe so vergleichsweise unbeschadet die Wirrnisse der Zeiten überdauert hat, ist namentlich seinem Sohn Franz Seidel zu danken. Der hat nach dem Tod des Vaters, 1935, dessen Werk so gut wie bruchlos fortgesetzt, ehe die Zeitläufte mit grausamer Gewalt in sein Leben eingriffen: Nach der Annexion der Tschechoslowakei von den Nationalsozialisten verfolgt, nach Kriegsende von den kommunistischen Machthabern drangsaliert, harrte er in dem Haus an der Adresse Linecká 272, vormals Linzer Straße, selbst dann aus, als seine Verlobte, deutschstämmig wie er, aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Franz Seidel nämlich, das Nazi-Opfer, durfte unter den neuen Herren gnadenhalber bleiben. Sein Fotoatelier freilich wurde behördlich geschlossen, ein Teil der reichen Fotobestände staatlich beschlagnahmt.
Was zu retten war, das allerdings hat Seidel gerettet: imposante Plattenkameras genauso wie historisches Dunkelkammerinventar, die gemalten Fantasielandschaften, vor denen sich die im Atelier Porträtierten in Positur warfen. Nicht zuletzt reiche Fotobestände, soweit sie Seidel vor dem Zugriff der kommunistischen Behörden zu schützen vermochte. Und so können wir heute durch Fotoatelier und angeschlossene Wohnräume schreiten, als wären seit dem Tod Seidels nicht schon bald 90 Jahre vergangen.
Geleitet von einem Audioguide schlendern Besucherinnen und Besucher vom einstigen Geschäftslokal im Erdgeschoß bis zum Glasplattenarchiv auf dem Dachboden, durch Arbeits- und Schlafzimmer und durch das hell verglaste Atelier im Oberstock. Jedes Mal fasziniert, wie lebendig und gegenwärtig all das scheint, was längst vergangen ist. Es ist der Atem der Geschichte, der bis ins Hier und Heute weht: in vielen Details, die selbst wiederholte Besuche in immer wieder staunen machende Überraschungstouren verwandeln.
Nebstbei ist das Fotoatelier des Josef Seidel nicht nur Museum, sondern überdies Werkstatt: Digitalisierung und Bearbeitung privater Fotobestände werden genauso angeboten wie Porträtfotografie im originalen Ambiente des Ateliers – für die adäquate Kostümierung ist gesorgt. Und dann ist da noch das überreiche Bildarchiv, das seit Jahren in mühsamer Kleinarbeit aufgearbeitet wird.
Es gibt viele Gründe, Český Krumlov zu besuchen. Wer das Städtchen an der obersten Moldau in seinem Innersten kennenlernen will, in seinem Wohl und Weh des vergangenen Jahrhunderts: Das Museum Fotoatelier Seidel ist der richtige Ort.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, 13. Oktober 2023