25 Jahre „Aktionsradius“: Wie weit darf Freiraum gehen?

Vor 25 Jahren wurde mit dem „Aktionsradius Augarten“ die einflussreichste Stadtteilinitiative Wiens geschaffen. Die Gründer, Uschi und Dieter Schreiber, im Gespräch: über alte Versäumnisse der Stadtplanung, die neue Respektlosigkeit und die vielen Tabus der tabulosen Gesellschaft.

Was alles in einem Amtshaus beginnen kann: 1988 saßen sie sich erstmals in den damaligen Räumlichkeiten der Gebietsbetreuung Brigittenau gegenüber – die gelernte Stadtplanerin aus Oberösterreich, Jahrgang 1963, und der sieben Jahre ältere Architekt, der eben erst aus Berlin angereist war. Es ist der Beginn einer Erfolgsgeschichte, die Uschi Reisinger, spätere Schreiber, und Dieter Schreiber in den Folgejahren zu zentralen Figuren Wiener Stadtteilentwicklung wachsen lässt. 1992 gründen sie, nach dem Ausscheiden aus dem Amtsdienst, den „Aktionsradius Augarten“ mit dem erklärten Ziel, dieses Riesengrün zwischen 2. und 20. Bezirk samt Umgebung wiederzubeleben. Ihre „Feste der Völker“, danach die „Klassik-Picknicks“ ziehen Hunderttausende in einen Bereich von Wien, den die meisten davor nicht einmal vom Wegschauen kannten. 1995 startet auf Anregung von Kulturstadträtin Ursula Pasterk ihr „Kulturnetz Wien“ – ein Versuch, das kulturelle Leben Transdanubiens zu befördern.

Seite 2005 gehen Schreiber & Schreiber, abgesehen von Kooperationen bei Kulturveranstaltungen, beruflich getrennte Wege: Unter dem Namen „Aktionsradius Wien“ lässt sich Uschi Schreiber mit ihrem Team seither in Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen insbesondere gesellschaftspolitische Themen angelegen sein, kommenden Oktober etwa „Funktioniert Revolution heute?“. Dieter Schreiber wiederum sucht sein Glück als Gastronom in der „Bunkerei“ des Augartens. Ab 21. September jedenfalls wird 25 Jahre „Aktionsradius“ gemeinsam gefeiert: in der „Bunkerei“ und im „Aktionsradius“-Lokal am Gaußplatz 11 (www.aktionsradius.at).

Uschi und Dieter Schreiber, Sie sind beide Zuagraste. Wie haben Sie Wien zur Zeit Ihrer Ankunft hier, in den Achtzigerjahren, erlebt?

Dieter Schreiber: Mich hat dieses Wien in seinem ein bisschen traditionelleren, konventionelleren Outfit angezogen. Was ich allerdings bald gespürt habe: dass die Wiener doch eine andere Art haben als die Berliner. Im Büro zum Beispiel, wenn ich da Projektvorschläge gemacht hab, hat der Chef gesagt: Na ja, das kann man hier in Wien nicht so direkt sagen. Inzwischen hab ich mich angepasst.

Eingewienert?

Dieter Schreiber: Ich stolpere zumindest nicht mehr so drüber.

Uschi Schreiber: Ich bin 1981 nach Wien übersiedelt, stamme aus einem kleinen Dorf im Mühlviertel und hatte da schon Jahre darauf hingefiebert wegzukommen. Wien war für mich vor allem Freiheit. Ich hab die Stadt gar nicht so reflektiert, wie ich sie heute sehen würde, weil ich ja von wo gekommen bin, wo nichts war. Was ich später, in der Arbeit, bald mit gekriegt hab: dass nicht viel rennt jenseits der Politik. Entweder du fährst auf einer Schiene politisch mit oder halt nicht.

Ein Beispiel?

Uschi Schreiber: Wir haben in der Anfangszeit, bei der Gebietsbetreuung, im Amtshaus gearbeitet, und die Putzfrau hat uns erzählt, dass sie schon nach zwei Tagen gefragt worden ist, ob sie nicht der Partei beitritt.

Dieter Schreiber: Die hat eine Wohnung gebraucht. Sie ist dann auch beigetreten.

Uschi Schreiber: Mittlerweile habe ich für mich das Gefühl, dass Wien auch etwas sehr Enges hat. Ich habe geglaubt, ich kann dem entfliehen, auf dem Land, da war die ÖVP der schwarze Block, wenn man da nicht mittut, gibt’s gar nichts. In Wien wird es mit anderen politischen Vorzeichen ähnlich gespielt.

Der erste Vorläufer des „Aktionsradius“ ist der Arbeitskreis Augarten, da sind Sie beide noch bei der Gebietsbetreuung gewesen, man schrieb das Jahr 1989. Aus heutiger Perspektive wissen wir um die Veränderungen, die dieses Jahr in Gang gesetzt hat. Haben Sie das damals in der Tragweite wahrgenommen, wie wir es heute sehen?

Dieter Schreiber: Wir haben damals in der Gebietsbetreuung einen Text geschrieben über die Möglichkeiten und Aufgaben der Wiener Stadtentwicklung, und ein Schwerpunkt lag auf Verkehrsverbindungen Richtung Bratislava und Prag, auf Vernetzung. Es ist bedauerlich, wie wenig auf diesem Gebiet von Wien aus geschehen ist.

Wieso hat man das so verschlafen?

Uschi Schreiber: Es gab grundsätzlich sehr wenig visionäres Handeln in dieser Zeit. Gerade in der Stadtplanung waren ja in den Siebzigern, Anfang der Achtziger einige Visionäre unterwegs.

Dieter Schreiber: Davon ist anschließend vieles in Form der Gebietsbetreuung kanalisiert worden, im Magistrat integriert.

Uschi Schreiber: Wie wir die Gebietsbetreuung erlebt haben, da gehen ja auch heute vor allem  Leute hin, die hoffen, dort etwas verwirklichen zu können. Und wir sind sehr schnell zusammengestutzt, in ein Korsett gesteckt worden. Wenn unsere Chefs über die Vergangenheit geredet haben, haben sie zwar leuchtende Augen gekriegt, aber wir durften nichts mehr machen. Ja nicht nach links oder rechts schauen.

Dieter Schreiber: Ein Beispiel. Wir waren zuständig fürs Augartenviertel, aber der Augarten selbst war bereits im 2. Bezirk, wir im 20., dadurch lag er nicht mehr in unserem Zuständigkeitsbereich. Als sich herausstellte, dass die Bewohner des 20. Bezirks, die direkt am Augarten wohnen, natürlich ein Interesse am Augarten haben und wir uns damit auseinandersetzen wollten, hat es geheißen: Nein, das ist 2. Bezirk, dafür könnt ihr keine Stunden aufschreiben. Arbeitsstunden für den 2. Bezirk wurden nicht anerkannt.

In welchem Zustand befand sich der Augarten damals?

Uschi Schreiber: Mitte der Achtziger ist ein Freund von mir in den 20. Bezirk gezogen, und alle haben gesagt: Was, dort ziehst du hin? Alles, was über dem Donaukanal lag, war für die Studentenszene damals im Out, und der 20. sowieso. Dann hab ich aber das Grätzel kennengelernt und auch den Augarten. Mich hat der Park tief beeindruckt, wegen dieser Großzügigkeit, ein riesiges Areal. Man ist allein durchgewandelt. Der war ja fast leer, der Augarten. Man hat diese Geschichte gespürt, mit den Alleen, mit den Flaktürmen. Damals haben wir schon alle Projekte, die uns danach begleitet haben, dem Bezirksvorsteher vorgeschlagen: die Neugestaltung des Wallensteinplatzes, die Neugestaltung des Gaußplatzes, Straßenbegrünungen, zusätzliche Zugänge zum Augarten. Und der damalige Bezirksvorsteher hat gesagt: Fangt’s mit der Neugestaltung des Augarten-Eingangs Karl-Meißl-Straße an. Das werdet ihr nicht schaffen.

Dieter Schreiber: Da sind nämlich nicht nur die Bezirksgrenzen, da ist noch dazu die Verwaltungsgrenze, Bundeszuständigkeit im Augarten, rundherum ist die Stadt zuständig.

Uschi Schreiber: Bei der ersten Informationsveranstaltung sind 70, 80 Leute gekommen. Wunderbar. Die Leute haben allerdings gesagt, wir sind alle für die Neugestaltung, aber viel mehr interessiert uns der Augarten selbst. Da müsste man etwas tun, da gibt es keinen Spielplatz, nichts. So haben wir den Arbeitskreis Augarten gegründet. Und von der ersten Minute weg sind wir angeeckt. In unserem Büro haben wir nur mehr Wickel gehabt, Augarten ist verboten, das wisst’s eh. Kultur ist sowieso verboten. Soziales Leben ist auch verboten. Wir sollen planen.

Dieter Schreiber: Aber es gab nichts zu planen.

Uschi Schreiber: Du hast monatelang ein Modell gebaut vom Wallensteinplatz, ich hab monatelang Pläne gefärbelt, es war nichts zu tun, und es gab auch kein Interesse, dass man etwas tut. Nur nicht auffallen. Wenn man nicht aufgefallen wär . . .

Dieter Schreiber: . . . dann wären wir heute Chefs der Gebietsbetreuung. Einmal soll einer von einer Partei zu den Schreibers befragt worden sein, und der soll geantwortet haben: Ja, super, aber gefährlich. Da müsst ihr aufpassen. Das war eine Zeit lang unser Image, aber auch unsere Stärke.

Uschi Schreiber: 1990 haben wir dann die erste Kulturwoche veranstaltet, und da ist relativ rasch ein Interesse vonseiten der Kulturstellen gekommen. In diesem Bereich war Anfang der Neunzigerjahre eine Art Gründerzeit, vor allem durch die im Unterrichtsministerium neu eingerichtete Stelle für Kulturinitiativen. Die haben damals aktiv geschaut, wo sind interessante Projekte, die wir fördern können. Das kann man sich heute in dieser Form überhaupt nicht mehr vorstellen.

1992 haben Sie sich jedenfalls entschlossen, auf den sicheren Job in der Gebietsbetreuung zu pfeifen, haben den „Aktionsradius Augarten“ gegründet und sind selbstständige Kulturunternehmer geworden. War Ihnen die ökonomische Tragweite damals bewusst, im Hinblick auf Einkommen, Pensionsabsicherung und Ähnliches?

Dieter Schreiber: Nein, das war uns völlig wurscht, wir waren so begeistert von der Arbeit und hatten so schöne Ziele. Was wir da für Risiken eingegangen sind, da wird mir heute schwindlig. Zum Beispiel persönliche Haftung als Vereinsvorstand für ein Fest der Völker, damals 1,4 Millionen Schilling, was das bedeutet, war uns nicht klar.

Uschi Schreiber: Oder: Wir haben vier Spielplätze im Augarten gebaut Anfang der 1990er – wir haben bis 2001 dafür gehaftet, weil der Bund gesagt hat, dieses Geschenk der Spielplätze nehmen wir nicht an, wir haften nicht dafür.

Dieter Schreiber: Also haben wir die Haftung übernommen – und eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen. Wir haben gesagt, wir jammern nicht groß über das, was alles nicht passt, wir wollten das in eine gute Richtung entwickeln, und zwar gemeinsam mit den Leuten, die mitmachen wollen, auch im Bereich der Politik, völlig parteiübergreifend. Da haben wir allerdings rasch bemerkt, das ist schwierig. Entweder oder. Die oder wir.

Uschi Schreiber: Mit dem „Kulturnetz“ waren wir ja besonders nah an der Bezirkspolitik dran, da hat es eine Zeit gegeben, wo uns alle vereinnahmen wollten. Idealerweise hätten wir für die Bezirksvorsteher Feste organisieren sollen, wo sie ihren Auftritt haben. Das haben wir abgelehnt. Einmal haben wir sogar eine Partei, die mit ihren Luftballons bei einem Fest von uns aufgetaucht ist, des Platzes verwiesen. Wenn man sich da abgrenzt, schaffst du dir nicht nur Freunde.

Stichwort „Kulturnetz“. Bis heute ist es so, dass sich eine Kulturinstitution, die etwas auf sich hält, mit Händen und Füßen dagegen wehrt, wenn es heißt, sie solle nach Transdanubien übersiedeln. Wieso ändert sich nichts an diesem negativen Image?

Uschi Schreiber: Wien hat einen absoluten Kontrollzwang. Man wird vereinnahmt, oder es findet nicht statt. Bestenfalls wirst du auf einem Gleis abgestellt, auf dem du dich ein bisserl austoben kannst, aber wo nicht groß etwas draus wird. Wir haben ja mit dem „Kulturnetz“ versucht, sichtbar zu machen, was es Tolles in Floridsdorf und in der Donaustadt gibt. Da ist dann aber jeder Bezirksrat dahergekommen und wollte, dass der Frühschoppen auf seinem Tennisplatz auch in den Veranstaltungskalender aufgenommen wird.

Dieter Schreiber: Es fehlt nicht nur der große Plan, es fehlt überhaupt ein Plan. Wir hatten formuliert, dass man in den Außenbezirken Kristallisationspunkte stärken und die dann miteinander vernetzen muss, damit sich das Netz der Stadt nach außen entwickeln kann. So etwas war das Heizhaus Stammersdorf. Da gab es eine sehr vielversprechende Anfangszeit mit moderner Kunst, das hätte man auch marketingmäßig in ein Wien-Konzept einbetten können. Was wird da für Geld ausgegeben für das Marketing des Silvesterpfads! Aber diese substanziellen, subtilen Geschichten, denen wird keine Aufmerksamkeit geschenkt.

Was ist aus dem Heizhaus Stammersdorf geworden?

Dieter Schreiber: Der Bildhauer, der sich da jahrelang persönlich engagiert hat, ist frustriert abgezogen, und heute – grade, dass es noch nicht abgerissen wurde.

Uschi Schreiber: Letztlich geht’s einzig drum, dass der Presse- und Informationsdienst der Stadt schreiben kann, was Wien alles macht. Und da ist es immer besser, wenn das gleich die Marketinggesellschaft selbst erledigt, statt dass man etwas entstehen lässt, Initiativen einfach tun lässt und dabei unterstützt. Da könnte ja dann etwas entstehen, was man nicht so toll findet. Etwas, was man nicht unter Kontrolle hat.

Weit über den Augarten und über Wien  hinaus bekannt wurde der „Aktionsradius“ in den ersten Jahren mit Großveranstaltungen: den Festen der Völker, später mit den Klassik-Picknicks. Wie erlebt man es als kleiner Veranstalter, wenn das, was man tut, immer größere Menschenmengen in Bewegung setzt?

Dieter Schreiber: Man scheißt sich total an, wenn da plötzlich Massen sind und du genau weißt, wehe, da passiert etwas. Vieles wäre möglich gewesen, hätten wir die nötige finanzielle Absicherung bekommen, um das mit mehr Personal vernünftig umsetzen zu können. So war es immer eine Art Harakiri.

Uschi Schreiber: Es gab ja null Personalkosten, die hätten wir uns mit unseren Budgets nicht leisten können. Und so begann nach einigen Festen der Frust. Dann, das war Dieters Idee, haben wir gesagt, na, machen wir etwas Relaxteres, so ist das Klassik-Picknick entstanden, das wurde auch wieder relativ groß. Und heute schaut jeder Frühsommertag fast so aus wie ein Klassik-Picknick, die Leute rennen mit Leiterwagerln und Warmhalterechauds in den Park, die Slackliner, die Jongleure, die man früher engagiert hat, vieles davon ist Leben im Park geworden. Also: Die Ursprungsaufgabe, den Park lebendig zu machen, die ist erfüllt. Heute kippt’s aus meiner Sicht schon in eine andere Richtung.

Die wäre?

Uschi Schreiber: Manchmal ist schon zu viel los im Park. Wir haben damals versucht, bei den Bundesgärten das Verständnis für die Parkbenutzer zu erhöhen. Heute ist es so, und da verstehe ich auch die Bundesgärten immer besser, dass selbst die gepflegten Blumenparterres nicht mehr respektiert werden, dort wird genauso Ball gespielt wie auf normalen Wiesen. Es gibt da so ein neues Anspruchsdenken, dass man sich alles nimmt; das Gefühl einer Verantwortlichkeit für Orte aber geht verloren.

Wenn ich zurückdenke an die Siebziger, Achtziger, da waren es doch Ihre und meine Generation, die Wiens Parkanlagen erobert hat, da gab es regelrechte Kämpfe beispielsweise um die Wiesen des Burggartens. Sonderlich respektvoll habe ich die nicht in Erinnerung.

Uschi Schreiber: Unser Thema am Anfang war ja auch die Eroberung der Räume. Sich den eigenen Lebensraum zu erobern bedeutet aber auch, eigenverantwortlich damit umzugehen.

Dieter Schreiber: Das liegt im Begriff „Aktionsradius“. Die Idee war, einen Radius in der Stadt zu schaffen, innerhalb dessen Menschen eigenverantwortlich agieren.

Uschi Schreiber: Und in der Individualgesellschaft von heute vermisse ich manchmal diese Eigenverantwortung.

Dieter Schreiber, Sie sind 2005 vom „Aktionsradius“ in die Gastronomie gewechselt, als Geschäftsführer der „Bunkerei“ im Augarten. Wie geht es dem alternativen Kulturveranstalter von ehedem in dieser neuen Welt?

Dieter Schreiber: Dass es sich die Klein- und Mittelunternehmer in den vergangenen zehn, 15 Jahren nicht gerade verbessern konnten, das ist bekannt. Das Arbeitsrecht ist so gestaltet, dass man als Chef eines kleinen Unternehmens nur mehr sehr wenige Möglichkeiten hat, einen Betrieb personell zu führen. Man hat keine Handhabe gegenüber dem Personal, muss wahnsinnig viel schlucken und sich zurücknehmen. Es ist auch sehr schwer, Personal zu kriegen. Denn warum soll jemand arbeiten, wenn er ohne Arbeit fast genauso viel kriegt? Wenn ich beim AMS bekannt gebe, dass ich Arbeitskräfte suche, dann kommt ein Großteil der Leute nur deshalb, weil sie den Stempel haben wollen, das kennt man eh schon alles, aber ich kann es nur bestätigen. Auch von Steuergerechtigkeit kann keine Rede sein: Es gibt Steuerprüfer, die kommen in einen Betrieb, da sagt man ihnen, Chef nix da, kommt er halt nächste Woche wieder, und nach dem zehnten Mal geben sie auf. Bei uns ist das anders, bei uns greifen die zu.

Uschi Schreiber, was Ihr Mann da erzählt, das hört man im Allgemeinen aus einem  anderen politischen Segment als jenem, in dem Feste der Völker gefeiert werden. Wie gehen Sie im „Aktionsradius“ mit diesen Erfahrungen um?

Uschi Schreiber: Unser Team ist sicher politisch anderswo angesiedelt. Wenn wir da im Team zusammensitzen, kann ich mit vielen Ideen, die geäußert werden, auch etwas anfangen, aber es ist sicher nicht ohne Einfluss, dass ich mittlerweile auch ganz andere Seiten kenne. 2007 haben wir uns ja in „Aktionsradius Wien“ umbenannt und sind zum Themenveranstalter geworden, als der wir uns genau solchen Brennpunkten widmen wollen. Allerdings ist es mit der Zeit auch in unserem Team wie in der Gesellschaft draußen immer hitziger zugegangen. Wir bezeichnen uns als Fenster in andere Welten und als Freiraum des Denkens – und trotzdem dreht sich immer wieder alles darum: Wie weit darf dieser Freiraum gehen?

Meiner Wahrnehmung nach steigt die Anzahl der Diskursveranstaltungen proportional mit der Anzahl der Aussprechverbote.

Uschi Schreiber: Ich finde das ganz fatal, wir sollten über möglichst alles reden, denn solange das auf der Bühne des Diskurses geschieht, gibt es Möglichkeiten, Probleme zu lösen oder die Gräben zumindest nicht immer tiefer werden zu lassen. Wir haben im Lauf der Zeit, obwohl wir ohnehin so vorsichtig sind, alles schon zu hören bekommen, dass wir Antisemiten sind oder Rassisten oder weiß ich was alles. Vor Jahren ist rund um das Thema Israel/Palästina ein Shitstorm über uns losgeprasselt, wo Leute uns zur Absage bewegen wollten, Druck ausgeübt haben. Und dieser Tage habe ich das Gefühl, dass es kaum mehr ein Thema gibt, wo man nicht in solche Situationen kommt. Wenn man den Ukraine-Konflikt, wenn man die Rolle Amerikas in der Welt diskutiert, die Flüchtlingsthematik, den Islam, du bist immer drauf und dran, in eine Ecke geschoben zu werden. Da kriegt man bald einmal zu hören, man gebe Kellernazis eine Bühne oder neuerdings der sogenannten Querfront, dieser da und dort beschworenen Verbindung von dubiosen Rechten und dubiosen Linken.

Dieter Schreiber: Eigentlich ein Wahnsinn, wenn wir auf der anderen Seite immer von Freiheit und Offenheit reden. Es ist nur mehr ganz wenig möglich.

Wie viele Tabus hält eine angeblich doch so tabulose Gesellschaft aus?

Uschi Schreiber: Ich denke, irgendwann explodiert das Ganze. Der Frust vieler Menschen, dass man so viel nicht mehr sagen darf, der entlädt sich ja, indem viele rechten Bewegungen zulaufen. Irgendwie das nur zu verteufeln, wie es in den vergangenen Jahrzehnten das rote Wien gemacht hat, das hab ich nie verstanden – das sind doch dieselben Leute, die früher im Gemeindebau rot gewählt haben. Mir ist wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem man nicht gleich übereinander herfällt. Dieses Aufmachen von ideologischen Schubladen ist mir ein persönliches Anliegen.

Wo ist der „Aktionsradius“ in zehn Jahren?

Uschi Schreiber: Entweder bin ich in zehn Jahren dabei, ihn an die junge Genera tion zu übergeben – oder bei der geordneten Schließung.

Dieter Schreiber: Man muss nicht immer alles bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Die Dinge haben einen Anfang und ein Ende.

Uschi Schreiber: Und wenn man einmal sagt, jetzt ist es gut, dann ist es vielleicht auch gut so.

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 9. September 2017.

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