Denkmalkultur: Der gute Mensch von Teneriffa

Wer war Domingo Pérez Trujillo? Was ein Denkmal auf den Kanaren über Wiener  Denkmaldebatten erzählt.

Puerto de la Cruz ist kein Ziel, das man schöngeistiger Entdeckungen wegen ansteuert. Die 30.000-Einwohner-Stadt, recht und schlecht an den steilen Nordhang des Vulkans geklammert, der Teneriffa aus den  Fluten des Atlantiks hebt, lockt vor allem  mit Freuden domestizierter Natur: basaltschwarzen Stränden, botanischen und zoologischen Sensationen in wuchernden Gärten. Noch das Spektakulärste, was man hier an gebauter Kultur zu bieten hat, scheint auf den ersten Blick das verlassene Grand Hotel Taoro zu sein, das als Memento mori einer untergegangenen Tourismuswelt auf einer Geländekante über der Stadt hockt.

So kommt einigermaßen unvermittelt, was der Gast im innersten Inneren der Stadt entdeckt, dort, wo die Calle Quintana in die zentrale Plaza del Charco mündet. Auf massigem Quader steht da eine Büste, wie beiläufig abgestellt, auf dem Quader eine Steintafel, in die Name und Lebensdaten eines gewissen Domingo Pérez Trujillo eingraviert sind. So weit, so konventionell. Verblüffend freilich der Zusatz, der die Denkmalwürdigkeit des Verbüsteten erläutern soll: „Un hombre bueno“.

Wo hätte man dergleichen je andernorts gesehen? Nicht Staatsmann und nicht Revolutionär, nicht Schlachtenschläger und nicht Friedensfürst, Dichter, Denker, Jahrhundertmaler oder Jahrtausendkomponist, nichts von alldem ist es, was Domingo Pérez Tru jillo zugeschrieben wird, nur einfach „ein guter Mensch“ gewesen zu sein, als einzige Legitimation dafür, was seine Büste auf diesen Quadersockel befördert hat. Kann das alles sein? Darf das alles sein? Und überhaupt: Woraus genau bestimmt sich dieses Gute? Und wer bestimmt es?

Öffentliche Denkmalerei gehorcht von alters her dem Leistungsprinzip – und wo keine nennenswerte Leistung nachzuweisen ist, dem der Macht. Wir müssen schon etwas vorzuzeigen haben, soll sich die Nachwelt motiviert fühlen, die Erinnerung an uns materiell und womöglich in effigie zu manifestieren, und wenn’s nicht mehr ist als die Fähigkeit, ein bestimmtes Amt eine angemessene Zeit lang halbwegs unfallfrei bekleidet zu haben. Wer gleich auf Nummer sicher gehen will, kann die entsprechende Verewigung der eigenen Person schon zu Lebzeiten ins Werk setzen lassen: ein Konzept, bestens dokumentiert von den Kolossalstatuen des alten Ägyptens bis zu Kasachstans Langzeitdiktator Nursultan Nasarbajew – und mit Folgen wohl bis ans Ende aller Tage. Nichts begleitet menschliche Geschichte verlässlicher als der Drang zur Selbstüberhebung.

Ihren Weg nach Wien findet die Idee, öffentliche Räume um Ebenbilder von allerlei Herrschafts- und Geistesgrößen zu bereichern, vergleichsweise spät. Als der Bildhauer Balthasar Ferdinand Moll, nicht zuletzt mit dem Doppelsarkophag für Maria Theresia und ihren kaiserlichen Gemahl, Franz Stephan von Lothringen, in der Kapuzinergruft präsent, ebenjenen Kaiser, diesmal auf hohem Ross, 1780 in Blei gießt, kann er sich bereits an etlichen Vorbildern orientieren, insbesondere dem Reiterstandbild Cosimo I. de‘ Medici, das Giovanni da Bologna 200 Jahre davor für Florenz geschaffen hat.

Bezeichnend, dass schon dieser Erstversuch einer Wiener Denkmalsetzung mehr als holprig vor sich geht: Moll blitzt mit seinem Ansinnen, das Franz-Stephan-Denkmal dessen Sohn, Joseph II., zu entsprechender Verwendung anzudienen, kommentarlos ab, und auch dass Moll 1785 stirbt, steigert das kaiserliche Interesse um keinen Deut. So findet sich in der Verlassenschaft, die im Oktober 1785 im Moll’schen Haus in der Rossau versteigert wird, auch „eine Statue zu Pferd, 10 Schuh hoch und gegen 80 Zentner schwer“, welchselbige, so die diesbezügliche Annonce in der „Wiener Zeitung“, den „höchstsel. Kaiser Franz“ vorstellt. Nachsatz, offenbar um die Verkäuflichkeit des kaiserlichen Ladenhüters zu befördern: „Von diesem Stück kann auch das Pferd alleinig verkauft werden.“ Wie wohl der kaiserliche Reiter ohne Ross ausgesehen hätte? Denkmal-Glanz und -Gloria stellt man sich jedenfalls anders vor.

Ross samt Reiter bleiben vereint und vorerst weiterhin, da unverkäuflich, in einem Hinterhof in der Rossau, ehe sich 1797 Franz II. seines reiterstandverbildeten Großvaters erbarmt. Die Präsentation des ungeliebten Dings erfolgt allerdings – zumindest zu Monarchiezeiten – einzig im höfischen Bereich. Erst wird es im Paradeisgartl auf der Löwelbastei, nach Errichtung des Burggartens 1819 schließlich daselbst abgestellt, wo es bis heute ein kaum beachtetes Denkmaldasein fristet – im Aufmerksamkeitsschatten jenes touristisch umschwärmten Mozartmonuments, das Zeitgenossen seiner Errichtungstage wiederum, Ende des 19. Jahrhunderts, despektierlich „einen in colossalen Dimensionen ausgeführten Nippgegenstand“ nennen werden.

Es ist schon so: Wer auch immer im Zuge des Denkmalbooms, der erodierende Herrschaftsverhältnisse, aufbrechende Nationalismen und romantischen Geniekult durch das 19. Jahrhundert begleitet, zu Wien verdenkmalt wird und wie auch immer das geschieht – so gut wie nie geht derlei Beginnen ohne mehr oder minder heftige Komplikationen ab. Vermurkste Wettbewerbe, Gezerre um Standorte und Finanzierung, Wadelbeißereien: All das ist jahrzehntelang verlässlicher Begleiter Wiener Denkmalsetzungen und der Debatten rund um sie, niemals jedoch die Frage grundsätzlicher Denkmalwürdigkeit der jeweils Geehrten, schon gar nicht die ihrer moralischen Dignität. Erstgenanntes mag sich allein daraus erklären, dass die jeweiligen Denkmalinitiatoren ihre Initiative ja wohl nicht für jemanden gesetzt hätten, den sie nicht für hinreichend verdienstvoll gehalten hätten. Die Frage wiederum, ob die jeweils Geehrten sich nicht womöglich durch ethisch problematisches Verhalten so weit diskreditiert hätten, dass man von einer öffentlichen Ehrung Abstand nehmen müsse, verblasste hinter dem jeweiligen Werk- und Tatenkatalog von vornherein zur Marginalie: Derlei konnte, als nur allzu menschliche Schwächen wahrgenommen, allenfalls als tröstlicher Beleg dafür gelten, die sonst so Übermenschlichen seien halt doch nicht aller irdischen Anfechtungen enthoben gewesen. Sogenannt gute Menschen waren die längste Zeit – falls überhaupt – als Kirchenschmuck gefragt, nicht jedoch auf weltlichen Denkmalsockeln.

Kehren wir zurück nach Teneriffa: Was ist über Domingo Pérez Trujillo zu erfahren jenseits seiner via Denkmal verbrieften Gutmenschlichkeit? Nun, vor allem die detto dortselbst dokumentierten Eckdaten seines Lebens, geboren 1890, gestorben 1954, bewegten Zeiten, wie man gern im Nachhinein sagt, wenn’s in Wahrheit drunter und drüber gegangen ist, mit Elend, Tod, Gewalt und Unterdrückung. Spanien brauchte nicht an zwei Weltkriegen teilzunehmen, um derlei zu erfahren: Zwei Diktaturen, ein Bürgerkrieg, dazwischen ein kurzer Schimmer von Demokratie begleiteten Pérez Trujillos Vita, und nimmt man das Jahr der Denkmalerrichtung als Maß, erklärt sich rasch, auf welcher politischen Seite wir ihn wohl finden werden: Die begab sich erst 1983, kaum war ein letzter Putschversuch der Militärs gegen die Demokratie gescheitert.

Ein grobes Nachforschen macht Pérez Trujillo folgerichtig als frühen Kämpfer für Arbeiterrechte kenntlich, engagiertes Mitglied einer noch jungen spanischen Sozialdemokratie, begeisterten Gewerkschafter, allesamt beste Voraussetzungen für einen Lebensweg, die den Mittdreißiger in die Gefängnisse der Primo-de-Rivera-Diktatur der 1920er bringt, den Vierzigjährigen in ein Bataillon der Volksfront-Streiter für die Republik, den Fünfzigjährigen ins mexikanische Exil, wo schließlich der Mittsechziger, an eine Heimkehr von seinesgleichen ins Franco-Spanien ist nicht zu denken, fern der Heimat stirbt.

Revolutionär, Arbeiterführer, Sozialdemokrat der ersten Stunden, all das ließe sich über Pérez Trujillo sagen jenseits jeder Gefahr zu irren. Der „gute Mensch“ ergibt sich da schon allein aus dem historischen Hintergrund, auf dem sich dieses Curriculum begeben hat: Widerstandskämpfer gegen menschenverachtende Rechtsregime, denen er letztlich zum Opfer fällt – was eignete sich besser, in uns den Eindruck moralischer Unantastbarkeit zu festigen?

Wie aber würde sich exakt derselbe Lebensweg ausnehmen, hätte der Bürgerkrieg nicht den Sieg der Franco-Diktatur, sondern nach langen Jahren doch den der Volksfront-Regierung erbracht und wäre jene alsbald, derlei soll schon vorgekommen sein, in eine linke Despotie gekippt mit Jahrzehnten der Knechtschaft Andersdenkender im Gefolge? Gut möglich, dass sich jene fiktiven Despoten schon früh Pérez Trujillos als einen der Ihren entsonnen und ihn mit einem Denkmal gewürdigt hätten, gut möglich auch, dass genau jenes Denkmal, kaum hätte sich das Land aus jener anderen fiktiven Knechtschaft befreit, ohne langes Zögern beseitigt worden wäre – als Zeugnis für den Wegbereiter einer Gewaltherrschaft, die man endlich doch hätte überstanden gehabt.

Nichts von alldem ist geschehen, und so darf Domingo Pérez Trujillo in unserem Angedenken bleiben, was er laut Inschrift war: ein guter Mensch. Derselbe Domingo Pérez Trujillo, den, andere Zeitläufte vorausgesetzt, eine geschichtsvergessene Nachwelt womöglich als Ziehvater eines Terrorsystems wahrgenommen hätte: Produkt einer Projektion späterer Einsicht in eine Vergangenheit, die notwendig nicht wissen konnte, was nach ihr kommen würde.

19. September 1926. Auf dem Platz, zu dem sich die Wollzeile der Ringstraße zu weitet, wird das Denkmal für den 1910 verstorbenen Bürgermeister Karl Lueger enthüllt. Als Festredner fungiert Luegers christlichsozialer Weggefährte Leopold Kunschak, für ein mittlerweile Rotes Wien übernimmt Bürgermeister Karl Seitz das Denkmal in die Obhut der Gemeinde. Und ein Kommentar der „Arbeiter-Zeitung“, des „Zentralorgans der Sozialdemokratie Deutschösterreichs“, reiht den Sozialistenfresser Lueger mit größter Selbstverständlichkeit in eine Art sozialistische Genealogie. Luegers Bewegung sei vor allem anderen eine demokratische gewesen: „Erst Lueger gelang es, breite Volksmassen zum Kampf um das Rathaus aufzubieten. Er führte diese breiten Volksmassen zum Sieg über die liberale Großbourgeoisie, die ihn, den ,Demagogen‘, haßte, über die kapitalistische Presse, ja selbst über die Bischöfe und Prälaten und über den Kaiser.“

Und noch mehr als das: Luegers Bewegung sei auch eine antikapitalistische gewesen und also „ein Fortschritt selbst in der Richtung zum Sozialismus“. Zwar habe sich Lueger letztlich „mit dem Klassenhaß des Bourgeois gegen die Arbeiterbewegung“ gewendet. Doch genau dieser Teil an seinem Werk versinke jetzt gerechterweise ohnehin: „Das aber, was demokratisch und antikapitalistisch war in Luegers Anfängen, das zu vollenden ist die geschichtliche Mission  des roten Wien.“

Wer hätte das gedacht? Karl Lueger: Wegbereiter einer politischen Entwicklung, die über Renner, Schärf und Kreisky zu Andreas Babler führt?

Aus heutiger Sicht muss derlei Verwandtschaftsherleitung wundernehmen. Denn wir, knapp 100 Jahre später, wir haben ja – und das für alle Zeit – erkannt, wer da ganz und gar exklusiv das Erbe Luegers angetreten hat: jener verhinderte Kunstmaler aus Oberösterreich, für den uns längst alle Worte fehlen, den Schrecken gerecht zu werden, die mit seinem Namen verbunden sind. Und in der Tat, was an Luegers Wirken könnte uns nach Auschwitz deutlicher gegenwärtig sein als der rabiate, populistisch aufgeladene Antisemitismus, der seinen Aufstieg so maßgeblich beförderte – und ihn mit jenem knapp ein halbes Jahrhundert Jüngeren verbindet?

Dass sich solche ethische Schieflage künftig handfest materiell am Lueger-Denkmal manifestieren soll, mag geeignet sein, unser beunruhigtes Geschichtsgewissen zu befrieden. Über die Person Lueger, ihre Leistungen und ihre Fragwürdigkeiten erzählt es genauso viel oder genauso wenig, wie es das groteske Pathos seines Standbilds für alle, die es sehen wollten, ohnehin schon immer tat. Immerhin könnte ein um 3,5 Grad geneigter Lueger künftig für uns Anlass sein, ein wenig über uns und unser Verhältnis zur Geschichte nachzudenken: etwa darüber, was an uns selbst womöglich längst nicht mehr im Lot ist.

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 9. Juni 2023

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