Die Einsamkeit des Radfahrers

Joga? Zen? Wozu? Per StVO zur inneren Einkehr! Empfehlung eines Pedaleristen.


Sie sind müde des Gedränges der Stadt, müde der Menschenmassen, die sich in U-Bahnen quetschen, müde der Warteschlangen vor Supermarktkassen, müde des immerwährenden Aufgegangenseins in einem größeren Ganzen, das Sie Ihres eigenen Willens, Ihrer Individualität beraubt? Sie sehnen sich danach, endlich für sich zu sein, allein, so einsam, als seien Sie – wenigstens für Minuten – der letzte Mensch auf Erden?

Gewiss, gerade die Urlaubszeit bietet reichlich Gelegenheit, Ihr Sehnen zu stillen. Sie könnten in die Steppen der Inneren Mongolei aufbrechen oder in die Wüsten Chiles. Sie könnten in einer Einsiedelei Einkehr halten oder auf luftigem Leuchtturm, umgeben einzig vom tosenden Meer. Aber was, wenn der Urlaub vorbei ist, was, wenn der urbane Alltag wieder beginnt mit seinem Rasen und Toben und Schieben und Geschobenwerden?

Mein Tipp: Fahren Sie Rad! Zugegeben, das für sich genommen hätte vielleicht noch vor 20 Jahren gereicht, die angestrebte Absonderung zu erreichen, heutzutage, da sich Radfahrer sogar in Wien schon zu Rushhour-Kolonnen ballen, scheint es mit solcher Alleinstellung kraft Pedaltreterei vorbei zu sein. Dennoch: Selbst in der brausendsten Wiener Fahrräderflut kann man sich völlig verlassen fühlen. Wie das? Sehr simpel: indem man an einer rot leuchtenden Ampel das tut, was man nach allen Regeln der Verkehrskunst eigentlich an einer rot leuchtenden Ampel tun sollte – stehen bleiben.

Ich pflege diese Übung schon seit vielen Jahren, und keine Zen-Meisterei und kein Joga-Exerzitium vermochten mich je mit so viel innerer Ruhe zu beschenken wie das schlichte Befolgen der Straßenverkehrsordnung. Während die Fahrradfahrer rund um mich schneidig weiterbrettern, warte ich an der Haltelinie, versunken in das Rot, das mir entgegenstrahlt, werde hier, wo Hast und Hetze andere weiterjagen, eins mit dem Kosmos, und nach solchen Momenten überirdischer Entrückung brennt mir ein unvermeidlich irgendwann doch folgendes Grün nichts weiter als Schmerz in meine eben noch weit geöffnet gewesene Seele: stößt es mich doch zurück in den Mahlstrom der vielen.

Nirgends sonst, nicht in den Einöden Nevadas und nicht in den Wüsteneien Usbekistans, war ich je mehr bei mir und ohne irgendwen anderen als auf dem Fahrrad mitten in Wien, demütig ausharrend unter warm-rotem Ampellicht. Wer Besinnung sucht, hier findet er sie.

Umso verwirrender, was kürzlich eine „ÖAMTC-Erhebung“ ergeben haben wollte: Keine neun Prozent der Radfahrer „ignorierten das Rot der Ampeln“, wurde da gemeldet. Hilf Himmel: Gut 91 Prozent wären mit mir? Aber wo wären die in all den Jahren gewesen?

Je nun, sie waren nie da. Genauer: Sie waren nur an jenen sehr speziellen Orten, wo die Österreichischen-Automobil-Motorrad-und-Touring-Clubber sie finden wollten – an vier sorgsam zu Studienzwecken ausgewählten Kreuzungen, am Ring, an der Zweierlinie, am Gürtel gar, Kreuzungen, die zu queren schon bei Grün nicht immer leichtfällt. Als wollte man die Einhaltung einer Geschwindigkeitsbegrenzung am Ende einer Sackgasse messen.

Also: Lassen Sie sich nicht irremachen! Was Sie hinter dem Lenkrad zum besinnungslosen Herdenvieh stempelt, die Einhaltung einfachster Verkehrsregeln nämlich, auf dem Fahrrad weist es Sie als nachgerade hemmungslosen Individualisten aus. Genießen Sie die Anarchie der Nichtanarchie! So leicht – und so billig – werden Sie nie wieder etwas Besonderes sein.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 6. August 2011

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