Die Nasen des Lucky Luke oder: Wie viele Hommagen braucht ein Mythos?

Revolverhelden, Schurken, Beutelschneider? Was ist das alles gegen die Kinker-Kids! Lucky Luke als Kindermädchen: So hinreißend gewitzt wie aus der Hand des Franzosen Blutch kamen die Abenteuer des Lonesome Cowboy seit Jahrzehnten nicht mehr daher. „Die Ungezähmten“: Mein Comic des Monats im Mai 2024.

An ihren Nasen sollt ihr sie erkennen. Da wäre einmal die leicht längliche mit dem sanften Knick des Matthieu Bonhomme. Oder die fast schon Pinocchio-artige des Guillaume Bouzard. Dann die Pflaume von Mawil. Der Aufmüpfigkeitsknubbel von Ralf König. Und selbstverständlich jene, die sich Morris für seine Jahrhundertfigur Lucky Luke erdacht hat: anfangs ein eher unbeholfen rundliches Ding, das sich im Lauf der Zeit ein wenig in die Länge zog, ohne je übers dezent Unauffällige hinauszugeraten.

Ja, das sind sie, die Nasen des Lucky Luke, so wie sie sein Schöpfer und eben all jene sahen, die mittlerweile der Serie nach Morris’ Ableben 2001 sogenannte Hommagen beigesteuert haben: also teils durchaus eigenwillige Aneignungen des in Jahrzehnten entwickelten Standardmaterials an Figuren und Handlungsmustern. Womit wir via rhinologischer Betrachtungen unversehens beim Comic-Existenziellen angekommen sind: Soll es für Comic-Figuren überhaupt ein Leben nach dem Tod, nämlich dem ihres Schöpfers, geben, und wenn ja, wie sollte es sich idealerweise gestalten?

Die Antworten, die die Wirklichkeit liefert, sind meist nicht dazu angetan, allzu viel Postmortales zu erhoffen: Lassen lange Serien schon in der Hand jener, die sie initiierten, im Lauf der Zeit Ermüdungserscheinungen des ästhetischen Impetus erkennen, schleppen sie sich, bloßen Nachschöpfern übertragen, regelmäßig nur mehr als Schatten ihrer selbst dahin, seelenlose Hüllen, deren Daseinsberechtigung nur mehr im Interesse von Rechteinhabern und einer von Mal zu Mal kleiner werdenden Hardcore-Fangemeinde gründet.

Etwas anders liegen die Dinge, wo ein eigenständiger gestalterischer Wille sich des Tradierten annimmt: Zwar setzen sich auch solche Unternehmungen, also besagte Hommagen, notwendig dem Vorwurf der Leichenfledderei aus, immerhin allerdings besteht die vage Chance, auf diese Weise dem vermeintlich allzu Wohlvertrauten die Frische des Unvermuteten fallweise zurückzugewinnen.

So sind auch die Hommagen, die man mittlerweile Morris’ Lucky Luke hat angedeihen lassen, in Summe überzeugender als das, was Achdé nach Morris’ Tod und also in dessen Nachfolge der Serie an orthodoxen Fortsetzungen – nun ja – zugefügt hat. Als würde derselbe Beutel Tee immer wieder aufs Neue aufgegossen, schleppen sich Achdés Fortschreibungen von Band zu Band dahin, während die Hommagen, befreit vom Korsett eines allzu engen Verständnisses von Lucky-Luke-Apologetik, der Titelfigur nicht nur neue Nasen bescheren, sondern in besten Fällen auch vor Augen führen, was alles sonst noch in dem Herrn zwischen weißem Cowboyhut und braunen Stiefeln steckt. Bei Mathieu Bonhomme beispielsweise statt einer komisch-satirisch aufgeladenen Comic-Figur ein fast schon filmisch-realistischer Westernheld, bei Ralf König wiederum ein gutmütig-charmanter Schwulenschützer.

König ist es auch, der Einblicke darin liefert, wie sich derlei Hommagiererei von serieller Weiterschreibung unterscheidet: Bei jedem seiner Panels habe er zunächst vorm Auge gehabt, „wie es bei Morris aussehen würde, was ziemlich frustrierte. Bis ich schließlich kapierte, dass es nicht darum geht, Morris nachzuahmen, sondern mich mit meinem ganz eigenen Stil vor dem großen Cowboy zu verbeugen.“ Und: „Die französischen Lizenzgeber machten lediglich zur Bedingung, dass mein Lucky Luke bitte nicht schwul sei! Was ich auch nie vorhatte. Meine Bedingung dagegen war, dass aber ein paar schwule Cowboys vorkommen müssten, sonst würde ich mich gar nicht erst in den Sattel setzen. Deal!“

Welche Bedingung der Franzose Blutch zu erfüllen hatte und ob überhaupt eine, um den bisher fünf Lucky-Luke-Hommagen eine sechste anfügen zu dürfen, dazu fehlt bis dato jede Information. Angesichts seines Werkkatalogs lässt sich immerhin ermessen, was ausgerechnet den gebürtigen Straßburger des Jahrgangs 1967 für diese Aufgabe förmlich prädestinierte. Da wäre einmal diese Bilderserie, in der Blutch Anfang der 2000er ein Lucky-Luke-Cover paraphrasierte: jenes zum Band „Der weiße Kavalier“ (im französischen Original, „Le Cavalier blanc“, 1975 erschienen), für Blutch Ausgangspunkt für knapp 50 Variationen über ein und dasselbe Thema – Cowboy meets girl. „The Beauty and the Western Beast sozusagen“, wie das Schweizer Online-Kulturmagazin „The Title“ kurz und bündig subsumierte.

Und dann sind da noch diese autobiografisch getönten Geschichten vom „Kleinen Christian“, in denen Blutch, recte Christian Hincker, sein kindliches Alter Ego immer wieder in einen tagträumerischen Wilden Westen abdriften lässt, auf dass er sich Revolverhelden entgegenstellen kann.

Nun, Lucky-Luke-Hommage Nummer sechs beweist: Es geht nichts über derlei Selbsterfahrungsexpertise. Blutch hat sich keineswegs darauf beschränkt, seinem Helden abermals eine neue Nase nach eigenem Gutdünken (eher kartoffelknollig voluminös) zu verpassen. Sein Band „Die Ungezähmten“ darf ohne Übertreibung das schlüssigste und gleichermaßen unterhaltsamste Lucky-Luke-Album seit Jahrzehnten genannt werden: womöglich sogar seit 1977, dem Jahr, in dem ein fataler Herzinfarkt nicht nur Lucky Luke und seine Daltons, sondern auch Asterix und Obelix ihres besten Szenaristen beraubte – René Goscinny, der an der Seite von Morris wie jener von Albert Uderzo beide Serien zu nie wieder erreichter Höhe geführt hatte.

Noch bevor ein erster Schuss fallen kann (übrigens schon auf Seite vier), werden aufmerksame Leser vielleicht die Widmung entdecken, die Blutch dem Band vorangestellt hat: „Für meine Kinder Lina, Lucas und Juliette Hincker“, steht da zu lesen. Und da braucht’s dann nicht mehr allzu viel Fantasie, Querverbindungen zu dem Trio aus Halb- und Viertelwüchsigen herzustellen, das auf den folgenden Seiten die Handlung – und einen einigermaßen angestrengten Lonesome Cowboy – am Laufen hält. Dass diese drei Rabauken auf den Familiennamen Kinker hören, verstärkt noch den Verdacht, dass Herr Hincker die wirbelige Dramaturgie entlang von Beobachtungen am heimischen Herd entfaltet.

Wobei, gewiss, wir werden nicht davon ausgehen müssen, im Hause Hincker sei es üblich, dass die Allerjüngste, aufgeweckt, wie sie ist, Fremden bei erster Annäherung per doppelläufiger Flinte den Hut vom Kopf schießt. Was freilich sonst noch an Renitenz und Einfallsreichtum in den drei „Ungezähmten“ steckt, entspricht durchaus dem Erfahrungsprofil einschlägig Erziehungsbetroffener und reicht, wie jene gern bestätigen werden, problemlos aus, jedermann und -frau, vom redlichsten Cowboy über den verwegensten Schurken bis zur versiertesten Kinderdompteuse, ins Schwitzen zu bringen – und quasi ganz nebenbei 48 Albumseiten aufs Amüsanteste zu füllen.

In einer Kavalkade aus verblüffenden Drehungen und Wendungen treibt eine Story rund um einen verschwundenen Beuteschatz und ein detto verschwundenes räuberisches Ehepaar und dessen findigen Nachwuchs, begleitet von allerlei skurriler Wild-West-Komparserie, einem Finale zu, das bis in die letzten Panels frisch, überraschend, gewitzt witzig bleibt.

Und wenn uns von der Rückseite des Umschlags Lucky Luke nicht mehr wie gewohnt als der Mann grüßt, „der schneller schießt als sein Schatten“, vielmehr als jener, „der denn Zaun erschoss“, ahnen wir, worum es Blutch recht eigentlich getan gewesen sein mag. Mit so viel Ironie lässt sich vielleicht kein Mythos begründen, aber womöglich unser Sinn für Wirklichkeiten und den ihnen innewohnenden Humor schärfen.

Der Comic des Monats im Mai 2024:
Blutch
Lucky-Luke-Hommage 6 – Die Ungezähmten
Aus dem Französischen von Klaus Jöken.
48 S., € 9
(Egmont Ehapa Media, Berlin)

Weitere Artikel