Volksschule: Jenseits des Alltags, mitten in der Welt

Ein differenziertes Schulsystem, das nicht differenziert. Das 1, 2, 3, 4, 5 der Belanglosigkeit. Und mitten drin: zwei Lehrerinnen, die meinem Sohn den Traum von der „Nix-lern-Schule“ verpatzen. Nachrichten aus der Wiener Volksschulwirklichkeit.


Ich denke. Du denkst. Er/sie/es denkt. Wir denken. Ihr denkt. Sie denken. Der Schriftzug in Druckbuchstaben, ausgeschnitten, auf gelbe Kärtchen geklebt, eine passende Zeichnung dazu und an eine Korkwand gepinnt. „Denken“, Präsens, aktiv. Man könnte auch „singen“ oder „tanzen“ oder „springen“, durch alle Personen gereicht, auf Kärtchen kleben und an die Korkwand pinnen, um der Einübung in die Regeln der Grammatik Genüge zu tun. Aber an dieser Korkwand in diesem Wiener Volksschulklassenraum wird „denken“ konjugiert. Nichts von dem, was notorisch romantisierenden Erwachsenengemütern vielleicht besser in den Kinderkram passen würde. Nein, „denken“. Ein Zufall?

Zugegeben, es ist eine Momentaufnahme, die ich an jenem Freitag eine Woche vor Schulschluss festhalte. Erinnerungsbild aus einem jener Klassenräume, in denen mein Sohn die vergangenen vier Jahre verbracht hat. Wenn diese Zeilen in Druck gehen, wird Leander kein Volksschüler mehr sein, wird er sein Abschlusszeugnis in Händen halten. Und vielleicht wird dann an der Korkwand längst ein anderes Verb durch ich und wir und du und ihr gejagt sein. Vielleicht im Präteritum. Oder im Futur. Doch in diesem einen Moment steht „denken“ hier zu lesen, und in meinen Augen, geschult an den vier Volksschuljahren meines Sohnes, sieht es aus wie ein Programm. Genauso wie die „Fühlbuchstaben“, die ein paar Meter weiter im Regal auf die nächsten Jahrgänge warten: Schrift zum Greifen.

Ich selber komme ja aus einer Zeit, in der zu viel Denken, zumal selbstständiges, volksmündlich noch im Ruf stand, vor allem Kopfweh zu verursachen. Das Fühlen wiederum schien nur insoweit erzieherisch von Belang, als unumstritten galt: Wer nicht  hören wolle, müsse eben fühlen. Aus den Wiener Klassenräumen der Sechzigerjahre hatte man zwar Scheitlknien und Schläge mit dem Lehrerlineal schon verbannt, doch Eckestehen oder überhaupt gleich vor die Tür geschickt zu werden hielt man allenthalben für angemessene Antworten auf kindliche Insubordination – respektive das, was man dafür hielt. Woran sich mancherorts bis heute nichts geändert haben soll. Welcher pädagogische Gewinn daraus zu ziehen wäre, Unbotmäßige dem Unterricht nur mehr arschlings folgen zu lassen oder sie überhaupt von jeder Unterweisung fernzuhalten, will mir noch immer nicht recht einleuchten. Die paar Mal, die ich selbst betroffen war, werden mich jedenfalls bildungsmäßig nicht sehr viel weiter gebracht haben, vermochten mich jedoch andererseits nicht so weit zu schädigen, dass mich heute, sagen wir, Zimmerecken in Panik versetzen könnten.

Unvergesslich allerdings der eigentümliche Widerwille, als ich, keine zwei Jahren ist es her, mein ehemaliges Volksschulhaus wieder betrat. Eine zufällige Wiederbegegnung, erstmals nach fast 40 Jahren. Ich hatte zwar Jahrzehnte weiter in derselben Gegend gewohnt, doch der Gasse, in der die Volksschule liegt, war ich immer ausgewichen, hatte lieber Parallelstraßen gewählt, als mich dem Eingang zu nähern. Jedenfalls: Dass die Schulzeit die schönste Zeit des Lebens sei, das zu glauben verbat mir schon früh die unerschütterliche Überzeugung, es müsse noch eine schönere kommen; und heute ist mein Erinnerungsvermögen nicht so weit beeinträchtigt, mir jene vier und dann noch acht Jahre in Gold zu kleiden.

Wie solche Skepsis allem Scholaren gegenüber ihren Weg in Leanders Kopf gefunden haben mag, wird jeder Psychologiestudent im ersten Semester leicht erklären können. Dennoch war ich überrascht, als mein Sohn schon im Kindergarten verkündete, wenn er denn in eine Schule wechseln müsse, so dürfe es nur eine „Nix-lern-Schule“ sein. Und dann das: „Denken“ an der Wand, „Fühlbuchstaben“ im Regal. Und eine Lehrerin, die vier Jahre beharrliche Kleinarbeit zufrieden in die Worte fassen kann: „Die Nix-lern-Schule, Leander, die haben wir dir verpatzt.“ Verpatzt? Jedenfalls in etwas transformiert, was nichts mit Nix-Lernen, auch nichts mit einem aller Welt entrückten Pädagogenparadies, aber genauso wenig mit Eckestehen, Vor-die-Tür-Schicken oder mit Strafarbeiten zu tun hat, hundertmal „Ich soll den Unterricht nicht stören“ oder so, man kennt das ja.

Dabei, die Volksschule in der Wolfgang-Schmälzl-Gasse, Wien-Leopoldstadt, zählt keineswegs zu jenen Wunderbildungsinstituten, die regelmäßig in den medialen Ranking-Himmel hochgeschrieben werden. Dem Bau nach eine der üblichen Lueger-Schulen, der Organisation nach so städtisch, wie eine städtische Schule nur sein kann, dem Typus nach freilich als „Offene Volksschule“ fast schon Avantgarde: „Offen“ bedeutet allerdings nichts weiter, als dass die Schüler für die Betreuung am Nachmittag das Schulhaus nicht verlassen und in einen eigenen Hort wechseln müssen – eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen, im Wien des 21. Jahrhunderts jedoch noch immer etwas Besonderes, das stolz ausgeschildert wird.

Tatsächlich besonders sind die vier Mehrstufenklassen, denen man in der Wolfgang-Schmälzl-Gasse Heimstatt bietet. Zwei Lehrkräfte braucht’s dazu pro Klasse, zwei Räume ebenfalls – mit der Chance auf vielfachen Gewinn. „Im Wiener Modell der Mehrstufenklasse lernen sechs- bis zehnjährige Kinder gemeinsam in einem Klassenverband. Kinder können hier ihre Volksschulzeit in drei bis fünf Jahren ohne Wechsel des sozialen Gefüges der Klasse durchlaufen. Hierdurch wird der gerade in diesem Alter oft sehr unterschiedlichen Entwicklung der Kinder optimal entsprochen“, meldete dazu die Rathauskorrespondenz im März vergangenen Jahres. Und hatte recht.

Ein Beispiel: der heute 13-jährige Jörg. Als Jörg in seiner Mehrstufenklasse die dritte Schulstufe absolviert, kündigt sich an, dass er das Lehrplanziel für den Volksschulabschluss nach vier Jahren nicht auf einem zufriedenstellenden Niveau erreichen wird. Jörg bleibt ein Jahr länger, ohne Stigmatisierung welcher Art immer, nach fünf Jahren schließt er die Volksschule mit einem Zeugnis ab, das ihm die Tür zu einem der bekannt anspruchsvolleren Gymnasien der Stadt öffnet, und dort lernt er bis heute ohne weitere Probleme. Das Regelschulwesen hätte ihm nach vier Jahren einen ganz anderen Platz in der Schullaufbahn zugewiesen, mit Sicherheit den falschen.

Immer wieder diese seltsamen Ungleichzeitigkeiten im Fortschritt von Hirn und/oder Hand. Auch in dem Augenblick, da die Frage lautet: Wohin nach der Volksschule? Bei manchen Zehnjährigen eine klare Sache, bei anderen wiederum: nichts als Nebel. Und dennoch: Eine Entscheidung muss her. Jetzt. Hauptschule, Neue Mittelschule, Gymnasium – was ist das Richtige? Als ließe sich das auch nur halbwegs valid in diesem Alter prognostizieren. Eigentümlich, dass gerade ein Schulsystem, dem von seinen Verfechtern nachgerühmt wird, es sei differenziert, so rücksichtslos gleichmacherisch über alles drüberfährt, was zufälligerweise gerade zehn Jahre alt ist. Aber was anderes wäre auch zu erwarten von einem Regime, das menschliches Streben, menschliches Können und menschliches Wissen ganz ernsthaft auf einer schlichten fünfgliedrigen Skala wiedergeben will.

Dieses 1, 2, 3, 4, 5 der Belanglosigkeit, das für die Schullaufbahn freilich alles andere als belanglos ist. Drei Jahre lang blieb es mir, blieb es Leander erspart, traten ausführliche Gespräche mit den Lehrerinnen an die Stelle des sonst üblichen laschen Zahlensalats. Lernfortschrittsdokumentation heißt das in sprödem Schulverwaltungsdeutsch und ist doch nichts weniger als spröde: sinnliche Bilanz dessen, was schon erarbeitet worden ist und was noch offen bleiben musste, erstellt und präsentiert vom Schüler selbst, anschließend von den Lehrerinnen kommentiert. In der vierten Schulstufe war’s damit, gesetzeskonform, vorbei: Da müssen Noten her, auf dass man messen könne, für welchen Schultyp der Schüler tauglich sei – an langen Einser-Zahlenreihen mit, wenn überhaupt, zwei, drei anderszahligen Einsprengseln, die in ihrer Aussagekraft für die Zukunft unserer Kinder nur von den letztwöchigen Lottozahlen unterboten werden. Ich denke. Du denkst. Wir denken. Denkt da irgendwo irgendwer?

Ein letztes Mal streife ich durch Leanders Klassenzimmer. Im Arbeitsraum für Deutsch die „Ersten Bibliotheken“ der Erstklässler des vergangenen Herbsts, kleine, bunt bezogene Schachteln mit sorgsam von Hand gehefteten Merksätzen, rechts neben der Tafel die Ecke mit Malutensilien und Bastelmaterial, Vorratsbehälter mit Schneckenhäusern und Linsen, weißen Steinchen und Blockbuchstaben aus Plastik. Die Pinsel daneben: ein Stilleben des Schöpferischen, in aller Aufgeräumtheit voller Leben.

Einen Raum weiter das Reich des Rechnens, Zahlen, Maße an der Wand, dazu der Kasten mit den blauen Laden, in denen die Schüler ihre Arbeitsprogramme ablegen. Auf dem Gang dazwischen: Thales von Milet, Platon, Seneca, Voltaire und was über sie in aller Kürze zu sagen ist. Ergebnisse des „Philo-Clubs“, der hier als „unverbindliche Übung“ verbindlich Erkenntnis samt sinnlichen Anknüpfungspunkten liefert, Herrn Kant mit Königsberger Klopsen, Herrn Popper mit Popcorn assoziiert. „Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit“: Erasmus von Rotterdam wird auch zitiert. Wo, wenn nicht hier, wäre sein Satz am rechten Ort.

Ja, es ist ein System, das all das möglich macht. Aber dieses System wäre nichts ohne jene, die es Tag für Tag mit Leben füllen. Und so sehr ich die Theorie der Mehrstufenklasse in den vergangenen vier Jahren schätzen gelernt habe, so genau weiß ich, dass sie nicht von allein eine Praxis nach sich zieht, wie ich sie als stiller Begleiter meines Sohns in der Mehrstufenklasse A der Offenen Volksschule Wolfgang-Schmälzl-Gasse erlebt habe. Vier Jahre lang ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich meinem Sohn diese seine Schulerfahrungen neidete. Ich neidete ihm die alljährlichen Projekttage in heimischen Nationalparks, die ihm und vielen seiner Mitschüler nebst anderem auch die ersten Schritte in die Selbstständigkeit vom Elternhaus ermöglichten. Ich neidete ihm die Selbstverständlichkeit, mit der auch sonst lustvolles Erleben an die Stelle von Lehrbuchwissen trat. Ich neidete ihm einen Unterricht, der immer jenseits des Alltäglichen und doch genauso immer mitten in der Welt schien. Jenseits des Alltags mehr oder minder wacker abgehakter Lerninhalte, mitten in einer Welt, die Wagnis, Triumph, aber auch Scheitern und Versagen kennt. Und dabei stets auf die Macht der Überzeugung statt auf Zwang und Pressionen setzt. „Treten Sie in Verhandlungen – und gewinnen Sie“: Auch ich habe in den vergangenen vier Jahren manche Lektion gelernt.

Was meinem Sohn nichts weiter als normal ist, für mich ist es ein staunen machendes Wunderding. Ich weiß, wie anders Schule aussehen konnte und bis heute kann, er weiß es nicht. Und wenn er sehr viel Glück hat – vielleicht erfährt er es auch nie.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 4. Juli 2009

Weitere Artikel