Shirley MacLaine hat es getan, Harpe Kerkeling und Paulo Coelho: Sie alle haben ihre Pilgerreise nach Santiago de Compostela öffentlichkeitswirksam rapportiert. Mit Jason hat sich ein erster Zeichner ans Nämliche gewagt. Mein Comic des Monats im März 2024: „Ein Norweger auf dem Jakobsweg“.
Alle Wege führen nach Rom? Nicht doch. Alle Wege führen nach Santiago de Compostela! Die 100.000-Einwohner-Stadt verdankt dem – wenig glaubhaften – Gerücht, letzte Ruhestätte des Apostels Jakobus zu sein, einen seit Jahrzehnten anschwellenden Pilgerstrom, der sich auf mehreren Dutzend unterschiedlicher sogenannter Jakobswege kreuz und quer durch Europa in die feuchteste Region Spaniens, Galizien, bewegt, auf dass innere Erleuchtung, äußere Ertüchtigung oder jedenfalls eine Art Heilung von den Mühseligkeiten abendländischen Alltags werde.
Mittlerweile gehören Selbstbeschreibungen eigener Jakobsweg-Bewältigungen, schlag nach bei Shirley MacLaine, Hape Kerkeling oder Paulo Coelho, zum guten Ton Prominenter und solcher, die es kraft öffentlichkeitswirksam demonstrierter Einsicht in die Nichtigkeit eigenen Seins werden wollen. Und Filme wie „Dein Weg“, von Emilio Estevez 2010 gedreht und mit seinem Vater, Martin Sheen, in der Hauptrolle entsprechend aufsehengenerierend besetzt, tragen einiges dazu bei, dass sich entlang der Jakobswege aller Art genau das ereignet, was die ganze Pilgerei doch zur Disposition stellen will: Auf der Flucht aus den Niederungen der Weltlichkeit treiben all die ganz oder auch nicht ganz so Frommen eine Kommerzmaschine an, der sie ihrerseits für sich selbst nicht ohne Grund zu entrinnen suchen.
Je nun, darin liegt die Ironie heutigen Jakobspilgerns: Proportional zur Distanz, die Pilger zwischen sich und die Anfechtungen einer kapitalistisch geprägten Konsumwelt schieben, wächst der Profit entlang der Pilgerbahn, was wieder neue Pilgernotwendigkeiten generiert. Nur: Wo findet, sagen wir, ein nordspanischer Souvenirhändler noch einsame Pilgerwege, um sich vom Stress permanenter Pilgermassen zumindest für Wochen frei zu machen – und ohne gleich wieder seinerseits anderweitig das Pilgergeschäft zu befördern? – Dennoch, und bei allen Vorbehalten . . . Aber alles mit der Zeit.
Anlässlich seines 50. Geburtstags hat sich auch der aus Norwegen gebürtige Zeichner John Arne Sæterøy, besser bekannt unter dem Kürzel Jason, auf den Jakobsweg gemacht. Genauer: auf den Jakobsweg aller Jakobswege, als Camino Francés geläufig, also jenen, der von den Pyrenäen über Burgos und Léon ans Ziel aller Jakobspilgersehnsüchte führt, eben ans Jakobsgrab in Santiago de Compostela. In dem Band „Ein Norweger auf dem Jakobsweg“, 2017 im französischen Original, jetzt erst auf Deutsch erschienen, hat er seine Erfahrungen festgehalten. Und allein wie Jason die Motivation für seine Pilgerfahrt beschreibt, lässt ahnen, welchen Sinns er sich der Unternehmung angenähert haben mag. Vor die Frage gestellt, wie besagter Geburtstag angemessen zu würdigen sei, habe er zwei Möglichkeiten gesehen: Jakobsweg – oder ein Porsche.
Nun, zum Ärger der deutschen Automobilindustrie und zur Freude seiner Leserinnen und Leser hat sich Jason für die definitiv umweltfreundlichere Alternative entschieden. Mit einem Ergebnis, das sich völlig frei von jeder Selbsterfahrungssentimentalität und Erleuchtungseuphorie präsentiert. Strikt bei der Sache bleibend, erzählt Jason viel von Blasen an den Füßen, Bettwanzen in Pilgerherbergen und schnarchenden Mitpilgern und rein gar nichts über Metaphysik und anderweitig Transzendentales.
Jasons Pilgerei ist zuvörderst eine überaus irdische – und überaus amüsante – Angelegenheit, und irdisch sind auch die meisten Aufgaben, vor die er sich gestellt sieht, wie deren Lösung. In dem schon erwähnten Jakobsweg-Film mit Martin Sheen habe ein wichtiges Detail des Pilgeralltags gefehlt, sieht man ihn in eine staunende Pilgerrunde sagen: „Warum zeigen sie nicht, wie Martin Sheen seine Socken mit der Hand wäscht?“ Ein paar Pilgertage später wartet er mit der Erkenntnis auf, der Jakobsweg sei „vor allem eine Frage guten Kaffees“.
Beim Einlaufen in Santiago schließlich haben ihn längst die allerhöchsten Weihen in die Einsicht ereilt, was denn wirklich wichtig sei im Pilgerleben: „Nehmen Sie Wäscheklammern mit, damit Sie Ihre Wäsche aufhängen können.“ Und: „Eine Taschenlampe, damit Sie pinkeln gehen können, ohne alle aufzuwecken.“ Nicht zuletzt: „Ohrstöpsel nicht vergessen!“ – im Kampf gegen die allgegenwärtige Pilgerschnarcherei.
So weit, so lakonisch. Doch damit nicht genug, denn selbst einer wie Jason, skeptisch bis in jene Seelentiefen, wo anderen schon längst die Träne quillt, vermag sich dennoch nicht ganz der Wirkung zu entziehen, die allein 800 Kilometer Fußmarsch, wo auch immer sie sich begeben hätten, unvermeidlich generieren. Jasons letzter Tipp am Ziel der Tour-Tortur: „Wandern Sie ohne iPad. Genießen Sie die Stille.“
So lässt es Jason auch nicht mit der Ankunft in Santiago de Compostela bewenden, wandert unverdrossen weiter Richtung Westen, bis dorthin, wo’s eben per pedes nicht mehr weitergeht, Finisterre, Ende der Welt genannt. Und knapp bevor er seine wunden Füßen in die Fluten des Atlantiks stecken kann, imaginiert er sich noch einen Jakobswegpolizisten als Widerpart, um Bilanz zu ziehen über das Erlebte. Er sei durchaus unsicher, ob der Jakobsweg sein Leben verändert habe, gibt er dem fiktiven Partner zu Protokoll. Ob der ihm nicht einen Rat wisse, wie derlei zu beurteilen sei? „Zerbrich dir nicht den Kopf“, lautet die schleunige Empfehlung. Und vielleicht ist das in Wahrheit das einzig Wichtige, das man aus 32 Tagen Wanderschaft gelernt haben kann.
Im letzten Panel sehen wir Jason im Atlantik stehen, den Rücken dem Betrachter zugewandt, mit Blick ins Irgendwo des Ozeanischen, und womöglich ist es gerade dieses statisch Ungerührte von Jasons Zeichenstil, das in uns das Emotionale des Augenblicks erst wirklich spüren lässt. Denn nein, auch auf den vorangegangenen 185 Seiten zeigt uns Jason, was immer es auch sei, das ihm begegnet, so vollkommen unbewegt, als habe Buster Keaton, als Mann, der niemals lächelte, in die Stummfilmgeschichte eingegangen, ein halbes Jahrhundert nach dem eigenen Tod zum Zeichenstift gegriffen.
Jasons Kunst undynamisch zu nennen, wäre noch freundlich untertrieben: Statisch bis zur Verleugnung jedweder zeichnerischer Mittel präsentiert sich das Berichtete, präsentiert sich Jason selbst, und dass er sich und allen anderen zwar Menschengestalt gewährt, jedoch Hundeköpfe verpasst, steigert noch den Eindruck einer Verfremdung, die von vornherein jede verlogene Gefühligkeit unterbindet; im Gegenzug befördert sie jene nüchtern-distanzierte Weltsicht, die einer sonst mit so viel Rührseligkeit aufgeladenen Materie nur dienlich sein kann.
Nur dann und wann bricht sich so etwas wie Lust am grafischen Fabulieren Bahn: dann etwa, wenn Jason die Landschaft rund um sich ins Bild fasst, als habe sie Salvador Dalí höchstselbst mit dem Zeichenstift skizziert. Sonst bleibt er optisch strikt bei der Sache, seinen klaren Sinn mit klaren Linien fassend, die umso mehr Platz für eigenes Weitergestalten und Ausfabulieren lassen.
Kein Zweifel, zur PR-Postille im Dienst der nordspanischen Pilgerindustrie taugt Jasons Jakobsweg-Rapport nicht. Und doch, die Nüchternheit, die er seinen Betrachtungen gönnt, lässt bei allem Für und Wider das seltenere Für nur umso verlockender erscheinen. Ob Jason bereut haben mag, anlässlich seines 50. Geburtstags sich nicht doch für den Porsche entschieden zu haben? Nichts deutet daraufhin. Und ehrlich gesagt: Wie viele von uns könnten ein wenig mehr Bewegung in frischer Luft gut brauchen – und wie viele einen Porsche?
Der „Comic des Monats“ im März 2024
Jason
Ein Norweger auf dem Jakobsweg
Aus dem Französischen von Silv Bannenberg.
192 S., € 20
(Reprodukt, Berlin)