Typisch österreichisch oder: Singt, Lipizzaner!

Stephan Rudas legt gleich ganz Österreich auf die Couch.


Wir Österreicher werden als Wiener Sängerknaben geboren, verdingen uns anschließend als Lipizzaner, um mit spätestens 50 als Wirklicher Hofrat in Frühpension zu gehen. Und bis zum Grabe ernähren wir uns vorzüglich von Mozartkugeln.

Pfui, lauter Klischees! Alles falsch. Erstunken und erlogen. Allerdings . . . wenn man’s genau betrachtet, dann lässt sich durchaus nicht leugnen, dass der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum an Mozartkugeln in, sagen wir, Wulkaprodersdorf höher ist als in manchen Bezirken der Inneren Mongolei. Und unbestreitbar ist auch, dass es in Wien Sängerknaben gibt, dass Pferde wiehern, ja sogar dass manche Wirklichen Hofräte singen, und zwar nicht erst im vorzeitigen Ruhestand.

Wir sehen: Es ist schon was dran am „typisch Österreichischen“. Quod erat demonstrandum.

Wer solche und ähnliche Beweisführungen mag, der wird auch Stephan Rudas‘ Erkundungen heimischer Seelenlandschaften mögen: Der in Wien lebende Psychiater und Psychotherapeut hat gleich ganz Österreich auf seine Couch gelegt; und weil halt selbst ein kleines Land für so eine Couch doch ziemlich groß ist, darf es nicht überraschen, wenn sogar ein versierter Seelenkundler in seiner Diagnose die Übersicht verliert.

Dass Rudas gleich auf Seite 19 eingesteht, die Österreicher seien „nicht prinzipiell ,anders‘ als andere Erdbewohner“, mag ja noch jene hoffnungsfroh stimmen, die dem Konstrukt der „Österreichischen Seele“ bereits in Erwin Ringels Tagen skeptisch gegenüberstanden. Doch diese Erkenntnis allein macht noch kein Buch, geschweige denn einen Bestseller, und also erfahren wir auf weiteren 175 Seiten, warum wir zwar nicht wirklich „anders“, aber doch ein bisserl „anders“ sind.

Nein, nein, „eine österreichische ,Kollektivseele‘ im engeren Sinn gibt es nicht“: Aber „was es auch in Österreich sehr wohl gibt, sind gemeinsame innere Reaktionsmuster, gemeinsame äußere Verhaltensmuster, Gesten, Rituale, Tabus“, kurz „Österreich-Spezifika, die sich zum Bild einer Austro-Mentalität verdichten“. Aha. Das werden nicht nur meine sonst sehr konzilianten Wohnungsnachbarn aus Tirol in Anbetracht ihrer Wien-Erfahrungen einigermaßen vehement bestreiten. Ein berechtigter Einwand, Herr Rudas? Nicht doch: „Natürlich weichen die mentalitätsprägenden psycho-historischen und psycho-geografischen Faktoren in den einzelnen Bundesländern in vielen Punkten voneinander ab.“ Aber: „Heute fühlen sich wohl so gut wie alle Bewohner der neun Bundesländer als ,Österreicher‘.“ Da müssen sie doch auch irgendwie ein Herz und – jawohl! – eine Seele sein. Na bitte.

Halten wir fest: Zwischen Boden- und Neusiedler See haust ein Völkchen, das im Allgemeinen mit Messer und Gabel zu essen versteht, üblicherweise Hüte, wenn überhaupt, auf dem Kopf, Schuhe an den Füßen sowie nicht selten Unterhosen unter Hosen trägt und über zahlreiche ähnlich typische Gemeinsamkeiten verfügt, die es zweifelsfrei als „österreichisch“ markieren. Wer zu solcher Erkenntnis ein Buch lesen will, hier ist es. Stephan Rudas: „Österreich auf der Couch – Zur Befindlichkeit eines Landes“.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 9. Februar 2002

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