Großglockner: „Amal muass ma si was leisten“

Das große G auf der Vignette. Helden, mit und ohne Fahrrad. Der Ständestaat, der Österreich-Patriotismus und ein Hakenkreuz am Fuscher Törl. Ein abgebranntes Alpenhotel und die neue Erlebnisgastronomie. Mythos Glocknerstraße: Versuch einer Annäherung.


Die Vignette mit dem großen G. G wie Großglockner. An der Windschutzscheibe unseres grünen Käfers signalisierte sie: „Ich habe es geschafft. Ich bin oben gewesen. Meine ganz private Reifeprüfung. Gefahren und bergtauglich befunden.“

Drei Sommerurlaube Mitte der Sechzigerjahre, Sommerurlaube in Bruck an der Glocknerstraße, Kindheitserinnerungen: Schneckenbiotope in Schuhkartons, zu Mittag immer wieder Wiener Schnitzel, der unvermeidliche Besuch des Kraftwerks Kaprun, die ebenso unvermeidlichen Krimmler Wasserfälle – und dann der Höhepunkt: die Fahrt durch das kleine Fusch hinauf zum Hochtor, wieder hinunter zur Franz-Josefs-Höhe, und das bange Warten: Wird sich Seine Majestät uns zeigen, oder wird er sich in graue Nebel hüllen, Seine Majestät der Kaiser aller österreichischen Berge?

All das steckte in der Vignette mit dem großen G: die kleine Wanderung, am Alpenhotel Kaiser-Franz-Josefs-Haus vorbei, zur Hofmannshütte, der scheue Blick über die Pasterze, die lauernd unter uns lag, als würde sie die Wanderer im nächsten Augenblick vom Promenadenweg lecken, die Murmeltiere, ein pelziges Stück Heiterkeit in einer sonst düster dräuenden Welt.

Unser G von damals ist längst nicht mehr. Auf einem Schrottplatz wird es sein Ende gefunden haben. Im Gedächtnis glänzt es bis heute – als Signet der Kindheit.


„Herrlich, sag i Ihnen, die Franz-Josefs-Höhe. Achtzig Schülling hat mi des kost! Fünf Bier, fünf Schnäps hab i eahm zahln müaßen, dem Schaffeer. Na guat, i will ja nix drüber . . . irgend amal muass ma si ja was leisten . . .“ Die Glocknerfahrt des „Herrn Karl“. Carl Merz und Helmut Qualtinger lassen auch ihn tun, was jedem aufrechten Österreicher damals ziemte: der höchsten Erhebung des Landes pflichtschuldigst die Reverenz zu erweisen.

Die Pilgerreise zu Hochtor, Fuscher Törl, Edelweißspitze: Das war in den Tagen des Herrn Karl, auch in den Tagen jener Urlaube in Bruck ein rotweißrotes Initiationsritual – wie das Erlernen der Bundeshymne, das Hören des Neujahrskonzerts, der Besuch des Stephansdoms. „Die Glocknerstraße ist in der ganzen Welt ein Name, der Österreich repräsentiert“, ließ sich der Salzburger Landeshauptmann Franz Rehrl bei der Eröffnung der Alpenstraße im August 1935 vernehmen. Und Bundespräsident Miklas sprach von einem „Beweis unseres festen Entschlusses, Österreichs Freiheit und Unabhängigkeit auch in einem unruhigen Europa mit allen Mitteln in Not und Tod zu schützen und zu schirmen“. Doch während der Ständestaat so seine Unabhängigkeit und Leistungsfähigkeit verbal zu demonstrieren suchte, wehte am Fuscher Törl schon die – sonst verbotene – Hakenkreuzfahne: als Konzession an die deutschen Gäste, die zur Eröffnung angereist waren.

„Die patriotische Selbstfindung der Republik Österreich orientierte sich stark an landschaftlichen Fixpunkten. Der Großglockner hatte den Ortler als höchsten Berg Österreichs abgelöst, daher sollte die Glocknerstraße der Stilfserjochstraße gleichwertig werden“, schreibt der Historiker Georg Rigele im Vorwort zu seinem jüngst im Wiener Universitätsverlag erschienenen Band „Die Großglockner-Hochalpenstraße – Zur Geschichte eines österreichischen Monuments“. Rigele legt akribisch die Verflechtungen von Politik und Glocknerstraßenbau bloß, die Instrumentalisierung eines Bauvorhabens für Zwecke der Ideologie, und nimmt sich gleichzeitig jene Mythen vor, die sich um den Bau ranken.

So gilt etwa die Glocknerstraße bis heute als wichtiges Arbeitsbeschaffungsprojekt der Wirtschaftskrisenzeit. Georg Rigele: „Die zu propagandistischen Zwecken verbreitete Beschäftigtenzahl von 3200 Arbeitern ist eine Übertreibung. Die tatsächlichen Beschäftigtenzahlen geben das Bild eines Saisonbaus mit kurzfristigen Beschäftigungsspitzen, die immer unter 2400 Arbeitern blieben.“ Zudem spreche einiges dafür, „dass an der Glocknerstraße eine Art Elite arbeitete, in der entkräftete Langzeitarbeitslose nur geringe Chancen hatten zu bestehen“.

Die Frage, wie stark die Erbauung der Glocknerstraße den österreichischen Fremdenverkehr gefördert habe, seinerzeit ein weiteres Hauptargument für den Bau, sei – so Rigele – nicht eindeutig zu beantworten, aber: „Einen Boom der unmittelbaren Anrainergemeinden gab es eindeutig nicht.“ Was bleibt, Herr Rigele? „Die symbolische Präsenz der Glocknerstraße überflügelte die materielle Bedeutung des Bauwerks und die seiner praktischen Nutzung.“ Kurz: eine Straße fürs patriotische Herz, nicht fürs Hirn.


Was wäre ein Nationalsymbol ohne Helden? Die Glocknerstraße hat gleich mehrere davon. Da wäre einmal Franz Wallack. Der Bauingenieur aus Wien, seit 1913 in Diensten des Kärntner Landesbauamts, wurde 1924 mit der Erstellung eines generellen Glocknerstraßenprojekts betraut und avancierte mit Beginn der Bauarbeiten 1930 zum Bauleiter und Geschäftsführer der Großglockner-Hochalpenstraßen AG. Neben seiner planerischen und organisatorischen Arbeit wurde Wallack rasch auch zum wichtigsten Propagandisten seines Projekts. Wallack dokumentierte den Bau mit ganzen Serien von Fotografien, komponierte und textete gar acht „Hochtor-Lieder“ und zeichnete vor allem für die Veröffentlichung einer durchaus persönlich gefärbten Baugeschichte der Glocknerstraße verantwortlich, der die meisten anderen Autoren treulich folgten. Wallack hat sich seine Saga gleich selbst an den Leib geschrieben – eine Methode, die durchaus modern anmutet.

Ihm zur Seite stand der Salzburger Landeshauptmann Franz Rehrl. Genauer: Rehrl stand vor, hinter, über Wallack, einfach rundherum als politischer Schutzpatron des Vorhabens. „Oberbaurat Ing. Wallack hätte den Plan dieses Straßenzuges mit sich ins Grab genommen, wenn sich ihm nicht ein schöpferischer Wille zugesellt hätte, der nun als der eigentliche Schöpfer dieser Straße vor uns steht, Landeshauptmann Dr. Rehrl“, formulierte das christlichsoziale Parteiblatt „Salzburger Chronik“. Rehrl, von einem unerschütterlichen Misstrauen gegen den „unverbesserlichen Wiener Sumpf“ beseelt, hielt an dem Vorhaben selbst in jenen Zeiten fest, da es vor dem Absturz in den Bankrott stand und die wirtschaftskrisengeschüttelten Staatsfinanzen in den Abgrund mitzureißen drohte. „Das Automobil bereitete ihm auch persönlich das größte Vergnügen, also war der Straßenbau eines seiner Hauptanliegen“, meint Georg Rigele und erinnert an den gleichfalls von Rehrl initiierten Bau der Ausflugstraße auf den Gaisberg bei Salzburg. Die Entkoppelung solcher Projekte „aus dem weiteren ökonomischen Zusammenhang und ihre propagandistische Identifikation mit dem Landeshauptmann ermöglichten Rehrls anhaltende Popularität in Salzburg“.


Helden ganz anderer Art waren es, die Mitte der Siebzigerjahre die Glocknerstraße zum öffentlichen Gesprächsstoff machten: Wolfgang Steinmayr gegen Rudolf Mitteregger lautete da alljährlich das Duell um den Titel eines Glocknerkönigs, das ganz Österreich während der Österreich-Radrundfahrt in Bann hielt. Hier der smarte Versicherungsmakler aus Tirol, kühl kalkulierend, ziel- und selbstbewusst, am Endzweck orientiert, erfolgreich, ein Niki Lauda auf zwei Rädern; da der steirische Berufssoldat, der sentimentale Favorit der Herzen, der diese umso mehr gewann, je weniger er in den steilen Kehren gegen seinen gewiefteren Kontrahenten reüssieren konnte.

Was wurde da nicht im Vorfeld der „Königsetappe“ gerätselt: Wann würde wer wen hinter sich lassen? Welche Übersetzung würde der eine, welche der andere wählen – und welche würde wohl die bessere, effizientere sein? Ein Volk verwandelte sich in Radsportexperten, die gierig alles in sich saugten, was über die beiden „Gemsen“, die steirische und jene aus Tirol, zu lesen war.

Und all die ausländischen Mitstrampler? Bloß Staffage in einer rein innerösterreichischen Angelegenheit. Während die Welt draußen ihren Eddy Merckx hatte, war’s Österreich mit seinen beiden Glocknerhelden zufrieden; Hauptsache, der Glockner war unser – Giro und Tour de France, wen kümmerte das schon?

Steinmayr und Mitteregger sind – wie Wallack und Rehrl – Legende. Nachfolger haben sie, die rotweißroten Glockner-Gladiatoren, bis heute nicht gefunden. Die Glockner-Etappe der diesjährigen, der 50. Tour d’Autriche, am 5. Juni gefahren, wird vorübergehen, irgendjemand wird Glocknerkönig werden, und wenig später schon wird niemand mehr wissen, wer es war. Österreich ist in die Welt zurückgekehrt, auch auf dem Fahrrad: Die Österreich-Radrundfahrt ist keine nationale Haupt-, nur eine nette Nebensache. Und die Fahrt zum Hochtor? Eine von vielen Bergwertungen eines internationalen Pedalbetriebs.


„Als ich gehört habe, das Haus ist abgebrannt, das war kein guter Moment.“ Edith Trestler erinnert sich genau an den September vorigen Jahres, den Tag, als das Alpenhotel Kaiser-Franz-Josefs-Haus in Flammen aufging. „Ich bin sehr froh, dass das mein Vater nicht mehr erlebt hat. Das war ein Lieblingskind von ihm.“

Ihr Vater, der Architekt Heinz Rollig, 1978 gestorben, hatte Mitte der Dreißiger den Entwurf für den großzügigen Umbau des alten Franz-Josefs-Hauses, einer schlichten Schutzhütte bei der Franz-Josefs-Höhe, in einen modernen Hotelbetrieb geliefert.

„Das Modell kenne ich vom Büro meines Vaters, ein Gipsmodell, das hatte genau die Größe eines Puppenhauses, ich hätte so gern damit gespielt, aber das war heilig, Hände weg, tabu“, erzählt Trestler. „Als Kind hab‘ ich natürlich keine Ahnung von der Dimension dieses Hauses gehabt.“

Später, als Erwachsene, sei sie von vielen architektonischen Details fasziniert gewesen: „Diesen hochstrebenden Holzoberbau, den fand ich hinreißend, dann die Idee der gedeckten Frühstücksterrasse. Und diese Sessel. Mein Vater hat ja auch die Inneneinrichtung gemacht. Es ist kein Pionierbau, aber die Linien stimmen.“ Immer wieder fällt Edith Trestler ins Präsens, als stünde das Haus, das ihr, vor allem aber ihrem Vater so sehr ans Herz gewachsen war, noch unversehrt an jener Stelle, an der es bis 21. September 1997 stand: hoch über der Pasterze, mit bestem Blick auf Österreichs höchsten Gipfel.

Und sie erinnert sich an eine Begegnung mit dem vormaligen Herrn des Hauses, Toni Sauper: „Er hat gefragt: ,Was glaubt ihr, woran verdiene ich am meisten in dem Hotel?‘ Wir haben gerätselt: an den Getränken, am Essen und so weiter. Sagt er: ,Nein, an den Postkarten.‘ Jeder hat eine Postkarte gekauft und von dort geschrieben. Waren Sie schon einmal oben?“ Gewiss, doch das ist lange her.

„Mein Vater war diskret bis zur Selbstverleugnung“, erzählt Edith Trestler noch. „Er wollte mit keinem Wort erwähnt sein als Architekt, ganz hinten, irgendwo, wo kein Mensch es sieht, war ein Hinweis. Aber jetzt ist sowieso alles weg. Wissen Sie eigentlich, was dort oben geschieht?“

Nachfrage in Heiligenblut. Dieser Tage sei Bauverhandlung, sagt Balthasar Sauper, der Eigentümer der Brandruine. Am alten Standort werde die ehemalige Schutzhütte wieder aufgebaut, originalgetreu, und näher zur Glocknerstraße werde ein neuer Hotelbetrieb entstehen, zeitgemäß, mit schöner Terrasse, 65 Betten. Die Brandursache? Die sei nicht wirklich geklärt, ein technisches Gebrechen wohl. Die Baukosten? 85 Millionen. Samt und sonders durch die Versicherung gedeckt. Baubeginn? 2. Juni. Am 1. Juli nächsten Jahres will man fertig sein.

Und Sauper denkt an „Infotainement im Restaurantbereich“, an „Erlebnisgastronomie“, „damit der Besucher etwas hat“. Vielleicht sollte man den Großglockner doch noch rasch – wie kürzlich vorgeschlagen – vergolden; sonst sieht man bald den Berg vor lauter Bergerlebnis nicht mehr.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 30. Mai 1998

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