„Vieles, was ich mache, ist einfach peinlich, und ich glaube, dass die Claire Zachanassian so etwas auch hat.“ Anne Bennent über ihren nächsten Auftritt, in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, über das Landleben, die vier Männer in ihrem Haus und die Orgasmen der Adele Sandrock.
Anne Bennent, als Austragungsort von Interviews kommen in Wien vor allem Kaffeehäuser infrage. Manche Gesprächspartner wollen auch zu Hause besucht werden oder an ihrem Arbeitsplatz. Sie haben sich für eine Pizzeria in der Brigittenau entschieden. Warum?
Hier kriegt man die besten Calamari, direkt von der Adria. Heute nehme ich zwar Spaghetti carbonara, aber eigentlich komme ich wegen der Calamari hierher. Und dann ist da noch die Lage hier, am Gaußplatz, eine wunderbare Situation mit diesem UFO-Landeplatz in der Mitte.
Die aktuellen Porträts von Ihnen, die Aleksandra Pawloff fotografiert hat, könnten unter dem Titel „Fremd in der Welt“ stehen. Jemanden, der so dreinschaut, den trifft man in verwunschenen Ruinen oder meinetwegen auf dem Mond, aber nicht in einer Pizzeria im zwanzigsten Hieb. Wo sitzt also Anne Bennent, das Original – hier in der schlichten Vorstadt oder im fernen Irgendwo?
Ist es wünschenswert, das zu wissen? Es gibt auch ein paar Fotos, die einfach das zeigen, was ich jeden Morgen tue. Statt dass ich mir einen Balanciergummi kaufe und zwischen zwei Bäume spanne, balanciere ich auf den Schienen vor meinem Haus in Gars am Kamp. Ich bin nämlich ein sehr praktischer Mensch. Ich gehe in den Kamp schwimmen, ein Sport, zu dem keine teuren Geräte nötig sind, da hab ich gleich die Kneippkur dazu und brauche in kein Women-Health-Center zu gehen. Dort machen betuchte Damen alles, was ich auch mache, aber sie müssen dafür bezahlen. Wenn ich also von irgendeinem fremden Planeten komme, dann wahrscheinlich vom Planeten Erde. Aber der ist ja wirklich sehr vielen fremd.
Auffallend ist, dass dieselbe Weltfremdheit oder Weltferne auch das Bild ausstrahlt, das als Plakatsujet Ihren nächsten Auftritt ankündigt, den als Claire Zachanassian in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ bei den Festspielen Stockerau. Wer ist dieses Kind, das da von den Plakatwänden blickt, für die bald 50-Jährige: eine Freundin, eine Bekannte oder doch noch immer ganz sie selbst?
Ich war bei diesem Foto elf oder zwölf Jahre alt. Und jedes Mal, wenn ich mir auf diesem Plakat begegne, ist das etwas sehr Besonderes. Es ist die Begegnung mit einem Blick, der mit meinem ganzen Leben zu tun hat, auch mit meinen Eltern, wie ein Zoom in die Vergangenheit, wie alt man eigentlich schon ist, was man schon erlebt hat. Meine Eltern sind mittlerweile gestorben, und durch diesen Blick ist es, als ob meine Mutter mich anschaun würde.
Können Sie sich an die Situation erinnern, in der dieses Foto aufgenommen wurde?
Ich kann mich an ein Gefühl erinnern, und ich weiß, dass es bei Tageslicht entstand, nicht in einem Studio. Die Fotografin war eine ungewöhnliche Frau, Roswitha Hecke, die war eng befreundet mit meiner Familie, eine Zeit lang Lebensgefährtin von Peter Zadek, eine Abenteurerin. Ich sehe auf dem Foto meine gezupften Augenbrauen und erinnere mich, dass ich meine Augenbrauen gezupft habe, weil ich in dieser Zeit viele Marlene-Dietrich-Filme gesehen hab, und ich wollte ein Star sein. So hab ich dann geschaut. Das ist dieser Sphinx-Blick, unergründlich, fragend. Ich mag diesen Blick sehr.
Ein Blick, den Sie bis heute draufhaben.
Ich hoffe, denn für mich ist das der Alte-Dame-Blick. Das ist der uralte Blick, den man so leicht verliert, über den sich so viele Schichten legen, weil man sich verstellt, weil man sich anders gibt.
Für mich hat es etwas Schreckliches, dieses so junge Gesicht mit einem so alten Blick.
Und jetzt hab ich einen jungen Blick in einem alten Gesicht.
Sie erwarten jetzt aber keine Komplimente?
Nein, es ist so: Im Vergleich zu meinem Kindergesicht ist mein Gesicht jetzt alt. Gott sei Dank.
17 Jahre sind vergangen seit unserem ersten Gespräch. Da waren Sie eben erst von einem Paris-Aufenthalt bei Peter Brook ans Burgtheater zurückgekehrt, hatten davor eine ganze Serie lohnendster Jungfrauenpartien in der Direktion Claus Peymann bewältigen dürfen, und alles schien Ihnen offen zu stehen. Das Burgtheaterengagement ist Geschichte, Sie haben zwei Kinder, einen künstlerisch hochaktiven Lebenspartner, den Akkordeonisten Otto Lechner, und statt als Weltbürgerin das Weite zu suchen, sind Sie in Ostösterreich picken geblieben. Ist das jenes Leben, das Sie sich vor 17 Jahren, als Anfang-Dreißigerin, vorgestellt haben?
Georg Stefan Troller hat ein wenig später mit unserer Familie einen Film gedreht, „Bennent mal vier“, und da hat er mich gefragt: Was ist denn Ihr Traum? Und ich hab geantwortet: Ich möchte gern ein großes Haus voller Männer. Genau das hab ich jetzt: Ich spiele Claire Zachanassian und heirate während des Stücks meinen neunten Mann.
In Ihrer Wirklichkeit sind es derzeit auch immerhin drei, Otto Lechner, zwei Söhne . . .
. . . und ein Kater, der noch nicht kastriert ist, ich kann Ihnen sagen . . . Aber ernsthaft: Visionen, wie es sein soll, die hab ich schon damals nicht gehabt und hab ich auch heute nicht. Oder die Idee einer Rolle: Ich muss die noch mit dem oder jenem spielen.
Was einem leicht fällt, wenn man schon solche Rollen gehabt hat: Desdemona, Käthchen von Heilbronn und, und, und – das kriegt nicht jeder.
Dann war es eben aus mit dem Begehrtsein an diesem Haus. Und da hab ich mir gesagt: So, und jetzt muss ich aufhören, sonst gehe ich ein, denn wenn man nicht begehrt wird, trocknet man aus. Das hab ich gar nicht abgewartet und bin anderweitig befruchtet worden. Sozusagen. Im Übrigen: Wien ist ja berühmt dafür, dass man hier picken bleibt. Das hat der Bernhard schon geschrieben, und es ist wahr: Wien hat etwas von einer großen fleischfressenden, talentfressenden Pflanze, man fühlt sich wohl in dieser Stadt, und man erlebt Dinge, bei denen einem die Kunst plötzlich wurscht ist. Weil es etwas mit Gemüt zu tun hat.
Wie darf ich mir das vorstellen?
Wird man erwischt von dem Gemüt, dann kriegt man Kinder, man verliebt sich in einen Akkordeonisten, das ist ja auch so ein Klischee, und zieht vom achten Bezirk, vom bürgerlichsten Revier, über den Donaukanal in den zweiten, wo man auf einmal entdeckt, was man bis dahin nie wirklich erlebt hat: dass Wien der Balkan ist. Weg vom achten in den zweiten Bezirk, Alliiertenviertel: Das war wie eine sehr weite Reise. Und ein neues Leben. Und dann weht einem eine Immobilienanzeige ins Gesicht an einem windigen Tag, da ist dieses Haus in Gars am Kamp, das ausschaut, wie von einem Kind gezeichnet. Es war eine Ruine, also war es nicht teuer, es liegt gegenüber vom Bahnhof, die Bahn fährt noch, ich hab die Schienen vor der Nase, und wenn ich sie entlanggehe, komme ich irgendwann sogar nach Paris. Es dauert halt.
Gibt es etwas, was das ländliche Idyll trübt?
Der Winter, wenn alle nur mehr daheim sitzen und alle Wege mit dem Auto fahren.
Wie steht es um die Kontakte zur Dorfgemeinschaft?
Die Menschen, die sind auch ein Grund, aufs Land zu ziehen. Der Erste, der auftauchte, das war Max, der Sohn vom Bürgermeister, der stand im Garten bei der Baustelle und sagte: Hallo, ich bin der Max. Ganz selbstverständlich. In anderen Fällen braucht man Geduld und den richtigen Moment, im richtigen Moment anklopfen und das richtige Wort sagen. Natürlich, wenn man da ankommt, denken sich die Leute, was ist denn das für eine, ich spüre ja hinter meinem Rücken manchmal die Blicke. Das ist auch ein Spiel, das mir gefällt. Andererseits kann ich mir in Gars Sachen leisten, die sich sonst niemand in Gars leisten kann. Ich kann mit einer Milchflasche auf dem Kopf in recht nachlässiger Kleidung vom Geschäft nach Hause gehen – ohne dass die Milchflasche umfällt. Wer sonst kann so etwas? Erstens gelingt es mir, ich hab die dazu erforderliche Haltung, und zweitens würde sich das sonst niemand trauen, denn das ist peinlich. Vieles, was ich mache, ist einfach peinlich, und ich glaube, dass die Claire so etwas auch hat. Sie kann sich Dinge leisten, weil sie Geld hat und Zeit hat und diese Position.
Claire Zachanassian kommt als eine Art alttestamentarisch strafender Gott über ihre Geburtsstadt Güllen und über jenen Mann, der sie und das gemeinsame Kind in Jugendtagen verleugnet hat. Woher holen Sie eine so vernichtende Emotion?
Die Geschichte ist für mich vielleicht sogar zu gut nachvollziehbar. Claire hat ihre erste Liebe, sie wird von dem, der sie entjungfert hat, schwanger, der lässt sie sitzen, sie muss weg aus ihrer Heimat. Und dann kommt sie zurück, hat die Welt gesehen, spricht Sprachen und hat diesen alten Schmerz, den sie immer wachgehalten hat. So etwas kennt jede Frau. Und jeder Mann fürchtet sich davor.
Wie geht es Otto Lechner mit seiner Claire zu Hause?
Der ist nicht da, der arbeitet viel. Nein, im Ernst, Otto ist ein sehr, sehr großzügiger Mann und ziemlich geduldig.
Ist es nötig, mit Ihnen geduldig zu sein?
Vielleicht. Wenn ich mich auf der Probe zusammenreiße und lustig bin und dann nach Hause komme und über alles schimpfe, das geht einem mit der Zeit wahrscheinlich auf die Nerven. Das hab ich von meinem Vater geerbt. Aber ich glaube, ich hab da sehr große Fortschritte gemacht. Dank Otto. Im Moment ist es sowieso herrlich, dieser Platz in Stockerau ist ein großes Geschenk, dieser unglaublich disproportioniert hohe Kirchturm im Rücken und die Barockhäuschen rundum, und aus allen Fenstern schauen die Bewohner zu, wenn man probt. Noch dazu werden die vielen kleineren Rollen von Ortsansässigen gespielt, von Laien. Und ich empfinde mich ja selber als Laiin, als Amatrice.
Eine reichlich hochkarätig ausgebildete Amatrice: am Musikkonservatorium Genf oder in Nanterre bei Patrice Chéreau.
Das war eine andere Art von Ausbildung. Amatrice ist mein Lieblingswort, das hat etwas mit Liebe zu tun, und wenn die fehlt, wenn ich keine Liebe habe zum Regisseur und zum Stück, wenn da nichts wächst, dann kann ich nicht. In dieser Hinsicht bin ich überhaupt kein Profi, da bin ich dann nicht einmal anwesend, da verschwinde ich einfach. Regisseure gibt es viele, ich aber brauche einen Cherisseur, einen, der liebt, und die trifft man nicht so oft.
An welchen Cherisseur erinnern Sie sich besonders gern?
An Hans Neuenfels. Oder Thomas Langhoff. Menschen, bei denen man sich absolut einzigartig fühlt mit seinen Fähigkeiten. Und das ist man auch. Nur leider müssen derzeit in diesem Beruf Gefühle auswechselbar sein, und wenn die eine das nicht spielt, dann spielt es halt eine andere. Das kann nicht über ein gewisses Maß an Professionalität hinausgehen, es kriegt nie eine Dimension, die andere Sphären erreicht. Wenn das, was wir tun, nichts Magisches hat, ist es bestenfalls gut gemacht. Ich suche immer das, was ein bisschen weiter geht. Andernfalls kümmere ich mich lieber um meinen Garten.
Dürrenmatts „alte Dame“ haben wir als quasi „uralt“ in unseren Köpfen. Dabei: Therese Giese war bei der Uraufführung bloß 58 Jahre alt, Elisabeth Flickenschildt bei der TV-Aufzeichnung kaum älter als Sie, 51. Verglichen mit den Genannten wirken Sie wie eine jugendliche Liebhaberin. Hat sich das Bild des Alters in den vergangenen Jahrzehnten so sehr geändert?
Also die Flickenschildt oder die Giese, die waren doch noch dreimal energetischer als ich. Schon möglich, dass im Durchschnitt die 50-Jährigen heutzutage aktiver wirken, aber in Wahrheit sind wir doch ziemlich müde geworden im Vergleich zu den alten Frauen von ehedem. Denken Sie an die Sandrock, die hat mit 70 drei Liebhaber vor der Vorstellung gebraucht, drei Orgasmen, sonst hat sie nicht gespielt. Kennen Sie eine heute, die sich so etwas leistet?
Würde ich sie kennen, ich würde ganz bestimmt ihren Namen nicht nennen.
Und so eine ist die Zachanassian. Ich finde, es ist ziemlich fad geworden. Vielleicht sehen wir deshalb so gut aus, weil es so fad geworden ist. Vielleicht haben die ein bisserl intensiver gelebt. Ich fühle mich sehr alt, weil ich schon so lang auf der Welt bin, und gleichzeitig fühl ich mich mittelalt, und gleichzeitig fühl ich mich wie ein Mädchen, und es ist immer gleichzeitig alles da, nur in unterschiedlichen Schattierungen, je nach Wetter.
Was kann nach der „alten Dame“ noch kommen? Lady Macbeth?
Daran hab ich wirklich gedacht. Aber wir spielen 24-mal, den ganzen Sommer, und das ist so geil, da oben zu sitzen auf diesem Platz und angeschaut zu werden die ganze Zeit . . . Danach kann es sein, dass ich wieder fünf Jahre überhaupt nicht spiele. Wenn ich dann so alt bin wie Adele Sandrock und drei Orgasmen brauche, um zu spielen, gehe ich vielleicht wieder ans Burgtheater. Da kann ich mir dann junge Reinhardt-Seminaristen kommen lassen. Aber die müssen auch erst einmal lernen, wie das geht.
Vielleicht können die das heutzutage gar nicht mehr.
Dann muss ich es ihnen beibringen, mit Spezialunterricht, sagen wir, auf dem Lusterboden. Was könnt ich denn dann noch spielen? Lulu oder so.
Das haben Sie im Film ja schon als 16-Jährige getan, mit dem eigenen Vater als Ihrem Liebhaber, Dr. Schön, an der Seite. Heute wird Ihr „Lulu“-Film auf Pornoseiten im Internet herumgereicht.
Der Film ist ja nicht fertig geworden. Die Produzenten haben die Panik gekriegt, haben ihn aufgefüllt mit irgendwelchem Flickmaterial und haben ihn, um das Geld wieder hereinzubekommen, als Softporno verkauft. Ich saß mit meiner ganzen Familie in einem kleinen Pornokino irgendwo am Genfer See und hab ihn mir damals angesehen, da waren außer uns nur drei 50-jährige schmuddelige Schweizer. Der eine ist nach zehn Minuten rausgegangen, weil ihm so fad war, die anderen dann auch bald, und wir sind als Einzige geblieben. Es gibt schöne „Lulu“-Fotos. Und den Film hab ich natürlich auch daheim. Erinnerung an meinen Vater, der mich so gern geheiratet hätte. Ist ihm nicht gelungen.
Wie waren die Spaghetti carbonara?
Sehr gut, aber das nächste Mal nehm ich vielleicht wieder Calamari.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 22. Juni 2013