„Sie wissen eh nicht, was sie tun sollen, weil keine Leute mehr da sind“, sagt der alte Herr. „Aber wenn man sich anschaut, was sie so treiben, dann könnt man fast meinen, es sind noch immer zu viele da.“ Wenn ein Pfarrer keiner mehr sein darf: eine katholische Begegnung, anderswo in Österreich.
„Trottelei“, sagt der alte Herr. „Das ist alles eine Trottelei.“ Ein weißer Haarschopf fliegt ihm trotzig in die Stirn. In seiner Stimme schwingt nebst viel Ratlosigkeit ein gutes Stück Empörung mit, und würde er sich so viel Emphase zugestehen, wäre sogar Wut nicht weit. „Die arbeiten hirnlos“, sagt er und zögert noch im selben Atemzug: „Das ist jetzt sehr hart, aber . . .“
Wir kennen einander nicht, sind einander eben zum ersten Mal begegnet; es wird nicht einmal zu einem Händeschütteln kommen, wozu auch, der Zufall hat uns zusammengeführt, hier, in jener Kirche, die dem alten Herrn in den vergangenen 25 Jahren Heimstatt war. Auch das weiß ich erst seit wenigen Augenblicken, in weiteren wenigen Augenblicken wird sich ein halbes Pfarrerleben vor mir ausgebreitet haben, manches Wohl der Vergangenheit, vor allem aber das Weh des nahen Endes, und vielleicht ist es eben die Nichtverbundenheit, die mich, den fremden Spaziergänger, für diese wenigen Minuten zum Vertrauten macht, dem sich einer öffnet, der sonst selber und sozusagen von Amts wegen Adressat von Eröffnungen aller Art ist.
Der Ort der Handlung tut nichts zur Sache, er könnte überall im katholischen Österreich liegen. Die Zeit: dieser Tage, so viel sei klargestellt. Die Szenerie: ein mählich ansteigendes Tal, in dessen Kerbe linkerhand eine der landläufig üblichen Eigenheimsiedlungen niedersteigt. Drin inmitten: das kleine Reich des alten Herrn, Kirche mit Pfarramt, allesamt so unscheinbar, dass jeder unbekannte Besucher unvermeidlich Interesse wecken muss. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt der alte Herr, da stehe ich schon im Kirchenschiff, und die Frage kündet gleichermaßen von Höflichkeit wie von Kontrollbedürfnis. Nein, mir ist nicht zu helfen, im Grunde will ich nichts weiter, als den Kirchenbau von innen zu sehen, an dem ich gerade außen vorbeigekommen bin. Und dann erkenne ich in der leicht gebückten Gestalt, die sich mit der Frage aus der Sakristei geschoben hat, dunkler Pullover, blaue Jeans, denselben Mann, dem ich wenige Schritte davor, im Kirchenvorraum, schon begegnet bin: auf der Aufschlagseite des Pfarrblatts nämlich, und die Neugier treibt mich an, den Gesprächsfaden, den er mir zugeworfen hat, schleunigst aufzunehmen. Nein, erwidere ich, zu helfen gäbe es da nichts, aber ob er mir vielleicht ein wenig über seine Pfarre erzählen möchte?
Wir gehen aufeinander zu, knapp vor dem Altar treffen sich unsere Wege, der alte Herr beugt sich zu mir und gerät rasch ins Schwelgen: über die Aufbauarbeit, die seine Ordensgemeinschaft in dieser Pfarre geleistet habe, über jene Tage, in denen die Kirchengemeinden noch gewachsen sind, über die drei Kirchen, die er seit Jahren zu betreuen habe, und warum ihm die, in der wir stehen, die liebste sei. Da könne sich nämlich „niemand verstecken“: „Da hab ich alle im Auge, ich schaue hinein, sehe, wie viele Leute da sind, und die Geschichte hat sich“, sagt er, und er wäre nicht der Schelm, der er mir in seinem kurzen Zwinkern scheint, würde er aus solcher kirchenräumlichen Allmacht nicht auch ein wenig Genuss ziehen.
Mit all dem freilich, fügt er rasch hinzu, und seine Miene trübt sich merklich ein, sei es demnächst vorbei. Er werde in den Ruhestand geschickt. Wie das? „Weil ich über 80 bin.“
Zugegeben, Pensionsantritt mit 80 Jahren, das wäre anderweitig nicht zu viel verlangt. Andererseits, in einer Institution, für deren Führung man offenbar erst im höheren Rentneralter taugt . . . Im Übrigen, jenseits jeder Höflichkeitsfloskelei: Man sieht dem alten Herrn die 80 Jahre wirklich nicht an, und so enragiert, wie er Sekunden später über die „Höheren“ in der Diözese herfällt, die ihm den Abschied aufgenötigt haben, lässt er wenig Zweifel daran, wie viel Energie noch in ihm steckt. „Ich sehe es nicht ein, aber ich akzeptiere es, ich sag null Komma nix“, sagt er, um dann doch so einiges zu sagen. „Ich bin nicht einer, der wartet, bis er auf allen Vieren daherkräult“, sagt er beispielsweise, er habe „denen“, nämlich denen in der Diözese, auch versichert, wenn er merke, es geht nicht mehr, mache er Schluss. „Aber die“ – nämlich die in der Diözese –, „die bilden sich ein, sie müssen planen. Sollen sie planen. Sie planen eh so viel.“ Und eine abfällige Handbewegung später schlagen zwischen zähneknirschender Subordination, Bitterkeit und Resigniertheit doch auch noch – siehe oben – „Trottelei“ und „hirnlos“ durch: „Sie wissen eh nicht, was sie tun sollen, weil keine Leute mehr da sind. Aber wenn man sich anschaut, was sie so treiben, dann könnt man fast meinen, es sind noch immer zu viele da.“
Seine Zukunft? Die sieht er leidenschaftslos: „Ich geh in meinen Orden zurück und fadisier mich. Wir sind ja nur mehr fünf im ganzen Kloster. Wenn alle da sind.“ Er sei zwar der Älteste, freilich: kaum einer, der deutlich jünger wäre als er. „Und was ist, wenn niemand mehr nachkommt?“ Seine drei Kirchen, die werden einer Nachbarpfarre zugeschlagen. „Wie heißt die doch gleich?“, fragt er seinen guten Kirchengeist, Anna, die während unseres Gesprächs den Blumenschmuck der Altäre zurechtzupft, neue Kerzen einsetzt, wo alte abgebrannt sind. Und Anna gibt ihm eilfertig Bescheid. „Ich vergess ja schon alles“, sagt der alte Herr, und es ist doch ein bisschen mehr als bloße Koketterie.
Im April 2010 meldet die Diözese Innsbruck 180 aktive Pfarrer, Durchschnittsalter 63 Jahre: Bis 2015 werde sich die Priesterzahl auf „70 bis 80“ reduziert haben. Für die Diözese Linz heißt es im Februar 2012: „Jede dritte Gemeinde ohne Pfarrer“. Anfang September desselben Jahres folgt Statistisches aus Weinviertel und Marchfeld: Auf 275 Pfarren kämen nur mehr 147 aktive Priester. Drei Wochen später kündigt Kardinal Christoph Schönborn eine strukturelle Reform in seiner Erzdiözese an – mit weniger, dafür größeren Pfarren. Gleichzeitig macht die Rede von „Blaulichtpfarrern“ und vom „Kirchen-Hopping“ die katholische Runde, von Stresssyndromen, vom Herztod im Pfarrhaus, vom „Burn-out im Talar“.
Und der alte Herr steht in seiner Kirche und versteht die Kirchenwelt nicht mehr. Nein, er ist kein Widerständiger, kein Ungehorsamer, und pfarrerinitiativ ist er schon gar nicht. Er ist ein ganz normaler Pfarrer vom Land – und trotz 80 Lebensjahren noch nicht alt genug, zwei und zwei nicht mehr zusammenzählen zu können. „Die Kirche ist aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen“, soll Papst Franziskus programmatisch verkündet haben, da war er noch einer von 115 Kardinälen im Vorkonklave. Was aber dort, wo in dieser Kirche nur mehr die allerwenigsten mit ganzem Leib und, ja, mit ganzer Seele drinnen sind?
„Ich glaub, ich hab genug gearbeitet“, sagt der alte Herr. Und: „Ich beuge mich, ohne etwas zu sagen. Es hat keinen Sinn.“ Frohe Botschaften hören sich anders an.
Wolfgang Freitag, „Spectrum“, „Die Presse“, 30. März 2013