Erfurt: Borax mit Bordeaux

Thüringens Hauptstadt sei die „drittbeste Stadt im Osten“, meldet die „Thüringer Allgemeine“. Stimmt. Hinter Dresden und Chemnitz. Und hinter 41 Städten aus dem deutschen Westen. Erfurt: über Hüblinge, Drüblinge und den beneideten Nachbarn Weimar.


Eine Staffelei, darauf eine kleine schwarze Schultafel, auf der mit weißer Kreide „an die Opfer des 26. April 2002“ erinnert wird. Und davor die Gegenstände, mit denen man die Erinnerung an die Opfer „am Leben erhalten“ will, wenn sie denn selbst schon tot sind: Hefte, Fotografien, weiße Rosen, ausgebreitet auf gut zehn Quadratmetern des Doms von Erfurt.

Zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und den Polizeihauptmeister Andreas Gorski hatte der 19-jährige Schüler Robert Steinhäuser an jenem Freitagvormittag vor drei Jahren innerhalb weniger Minuten am örtlichen Gutenberg-Gymnasium erschossen und abschließend sich selbst getötet. Und wochenlang hatten sich Medien aller Art in üppigen Spekulationen ergangen über das „Massaker“, den „Amoklauf“, das „Blutbad“ samt dem üblichen ferndiagnostischen Begleitgedröhn, vom Versagen der Eltern über das Versagen der Lehrer bis zum gar unwiderstehlich schrecklichen Einfluss von Gewaltvideos und Computerspielen auf Kinderherzen und -hirne. Und dann war er weitergezogen, der Tross der internationalen Katastrophenreportanten, Unglücksfälle aller Art en gros und bis ins peinlichste Detail, und die Stadt an der Gera war wieder im Dunkel medialer Ignoranz versunken. 20 Prozent Arbeitslosigkeit, leer stehende Wohnungen, Rechtsextremismus: Wen interessiert das noch hier, in Deutschland-Ost?

Gar nicht zu reden von der ruhmreichen Vergangenheit: „Martin Luther hat hier studiert, Adam Riese seine ersten beiden Rechenbücher verfasst. Aber alle sprechen, wenn’s denn einmal um Erfurt geht, bestenfalls vom Gutenberg-Gymnasium“, hört man Einheimische sagen und gleichzeitig die Ungerechtigkeit der Welt am Beispiel des unbeschädigten Rufs der kleinen Nachbarstadt Weimar beklagen: Ja, Weimar, da denken alle an Goethe, Schiller, an deutsche Klassik und gerade noch an die im Vorjahr abgebrannte Bibliothek der Anna Amalia – und keiner redet vom KZ Buchenwald vor Weimars Toren.

Tatsächlich, weder Nationalsozialismus und ein besonders rühriger Gauleiter, Fritz Sauckel, noch die nicht besonders ruhmreiche Geschichte der in Weimar 1919 begründeten „Weimarer Republik“ vermochten das Ansehen der Goethe-Stadt nachhaltig zu lädieren – während Erfurt, eine Viertel ICE-Stunde weiter im Westen, gut dreimal so groß und mit einer mittelalterlichen Bausubstanz versehen, dass man vor lauter Fachwerk die Stadt fast nicht mehr sieht, während dieses Erfurt schon froh sein müsste, überhaupt irgendein Image vorweisen zu können, das über Thüringens Landesgrenzen hinaus halbwegs dauerhaft zu sein verspricht.

Andererseits: Was soll man sich von einem Gemeinwesen denken, und sei es auch eine Landeshauptstadt, das sich zwecks Eigenmarketing ein Maskottchen namens „Puffbohne“ erkoren hat? Gut, die Erfurter Samenzüchter sind ein Stück Wirtschaftsgeschichte, und ja, die Puffbohne, auch als Saubohne geläufig, ist in ihrem realen Pflanzenleben ein durchaus honoriges Gewächs. Aber in Plüsch? Immerhin, nimmt man jüngere Meinungsäußerungen in lokalen Medien als Maß, dann werden die Erfurter selbst weit mehrheitlich solcher Vermarktungsstrategie nicht froh. Was wiederum vermutlich ihre geringste Sorge ist.


„Erfurt drittbeste Stadt im Osten“, meldete die „Thüringer Allgemeine“ vor Kurzem fröhlich. So kann man’s auch sehen. Ein Ranking der „Initiative Neue Soziale Markwirtschaft“, erstellt nach wirtschaftlichen Kriterien, hatte Erfurt Platz 44 unter den 50 einwohnerstärksten Großstädten Deutschlands zugewiesen; und tatsächlich, nur zwei Ost-Städte, Dresden und Chemnitz, waren besser gereiht. 41 von 42 West-Städten auch. Aber das regt niemanden mehr auf. Schließlich hat man doch sogar Gelsenkirchen hinter sich gelassen. Und außerdem: „In keiner anderen der 50 deutschen Städte“ seien „die Arbeitskosten so günstig wie hier“. Ist ja auch was. Wer da zwischenruft, das habe möglicherweise etwas mit Angebot und Nachfrage zu tun, also mit zu großem Arbeitskräfteangebot bei zu geringer Arbeitskräftenachfrage, und wie solle denn ein noch so arbeitskostengünstiger Arbeiter ohne Arbeit auf seine Kosten kommen, der hat sich sofort als Miesepeter decouvriert, womöglich gar als Kommunist. „Ja wollen Sie denn die DDR zurück?“, ist da schnell gefragt in mittlerweile wohleingeübter westdeutsch-ostdeutschländischer Missverständlichkeit.

Und wenn einer wie Henryk M. Broder über das Programmangebot des – gewiss einigermaßen drögen – Mitteldeutschen Rundfunks mit Sitz in Leipzig von der hohen Hamburger „Spiegel“-Warte aus herfällt, als habe Deutschland-West das Entertainment erfunden („so erfrischend und spontan wie eine Ansprache von Egon Krenz bei einem Fest der Jungen Pioniere“), dann lässt sich am Aufwand an Polemik für eine vergleichsweise marginale Angelegenheit ungefähr erahnen, wie viel an wechselseitigen Animositäten sich da im Lauf der vergangenen wiedervereinigten Jahre in der angeblichen Volksgemeinschaft angesammelt haben muss.

„Wenn Sie aus Westdeutschland kämen, dann hätte ich erst in zwei Wochen Zeit für Sie gehabt“, bekennt Manfred Soldan freimütig. Mein Österreicher-Bonus, der Türen öffnet, wo dem Wessi, dem „Drübling“, einzig trotzige Abwehr entgegenschlüge. In früheren Tagen war Soldan bei der Flugsicherung auf dem alten Flughafen Erfurt-Bindersleben beschäftigt; mittlerweile ist dort alles neu, der Flughafen, das Management, das Personal, da ist kein Platz mehr für einen Mittfünfziger, der sich beharrlich weigert, Vergangenes als Vergessenes hinter sich zu lassen. Und so sitzt Soldan in seiner DDR-Plattenbau-Puppenstube in der Sofioter Straße, bastelt an seiner Homepage zur Fluggeschichte Erfurts (www.luftfahrt-erfurt.de) und erinnert sich an Zeiten, in denen er sich noch gebraucht fühlte. Und an das, von dem alle, die es erlebten, bis heute schwärmen, als hätte es Stasi und Diktatur, Spitzel, Zensur und Reiseverbote nie gegeben: Ja, aber die Solidarität! Das Einander-zur-Seite-Stehen! Der Tauschhandel, mit dem man sich über die Unbilden der Mangelwirtschaft hinweghalf: Gibst du mir einen Dichtungsring, geb ich dir einen Ziegel.

Etwa Frau Malluche: Anfang der Siebziger hat sie eine leer stehende Gründerzeit-Villa in einem der nobleren Viertel Erfurts erstanden und die Ruine gemeinsam mit ihrem Mann Stück für Stück instand gesetzt: „Das war damals schwierig, man ist ja nicht einfach in den nächsten Baumarkt gefahren, um einzukaufen; aber irgendwie ist es gegangen, weil alle aufeinander angewiesen waren und bereit, einander zu helfen, wo es ging.“ Erst nach der Wende freilich konnten Malluches ihr Schmuckstück zu einer Pension mit Gästezimmern umbauen, die heute ein recht ordentliches Zubrot zum Familieneinkommen liefert. Und trotzdem: Dieses Damals, das Damals hinter Mauer und Todesstreifen, das Damals der Selbstschussanlagen und der „Informellen Mitarbeiter“, dieses Damals, so Frau Malluche, „war nicht so schlecht“.

Wer meint, da würden sich halt ein paar „Systemverlierer“ aus Reminiszenzen an ein angeblich besseres Gestern ihre Fluchtburgen vor ihrem misslichen Heute bauen, der irrt: Es sind nicht zuletzt manche Erfolgreiche, die ihres Erfolgs nicht wirklich froh werden. Solche wie Walter Straßburg: Nach der Wende hat der Drogist rasch eingesehen, dass er mit seinem besteingeführten Familienbetrieb mitten in der Altstadt von Erfurt gegen all die Drogeriemärkte, die Schleckers und dms, die alsbald ins Land fluteten, nicht bestehen würde. Also hat er in seinen Laden Tische und Stühle gestellt, in den hinteren Räumen eine Küche eingerichtet – und fertig war das Bistro „Drogerie am Wenigemarkt“, auch als „Alte Drogerie“ geläufig. Heute kann er sich über eine treue Stammkundschaft und jede Menge prominenter Gäste freuen, sein Lokal ist „hip“ und „in“ und meinethalben „angesagt“, und doch, wenn er so dasitzt unter seinen historischen Regalen, in denen nebst Bordeaux, Birnenschnaps und Zigaretten noch immer die alten Benzol- und Borax- und Gummiarabikum-Gläser thronen, und über die Welt an sich und besonders die im Osten Deutschlands räsoniert, scheint er nur einer mehr von jenen vielen, die nach 1989 in ihrer eigenen Heimat heimatlos geworden sind.


„Zehn Jahre länger DDR, und die Altstadt von Erfurt wäre rettungslos zerbröselt gewesen.“ Davon sind nicht nur übelmeinende Wessis überzeugt, darüber herrscht seltene traute Wiedervereinigtheit. Heute präsentiert sich das historische Zentrum, in längst vergangenen Tagen Mittelpunkt einer veritablen Handelsmetropole zwischen Ost und West, als mittelalterlich pittoreske Tourismus-Preziose, so kompakt malerisch, dass man sich über jede Baustelle freut.

Geschniegelt, geschnäuzt und gekampelt kommen auch viele Gründerzeit-Quartiere daher, als hätte eine gute Fee über sie füllhornweise frische Farbe und Verputz geschüttet. Nun, die gute Fee, sie kam nur gegen gutes Geld, ihr Füllhorn fordert angemessene Rendite, und die ist, nimmt man die „Wohnung-zu-vermieten“-Schilder als Maß, die den Besucher treu wie nichts sonst durch die besten und die allerbesten Wohnlagen geleiten, jedenfalls derzeit mit Erfurter Immobilien kaum zu lukrieren. Fassaden vom Allerfeinsten, hinter denen nichts sich regt: die Stadt als Simulation, als potemkinsches Wohlstandsdorf, um das es alles andere denn wohl steht. Vitalität sieht anders aus.


René Wildner zeigt alles her. Nicht nur Goethes Gartenhaus und Goethes Wohnhaus und Schillers Wohnhaus und das Cranach-Haus und die Herder-Kirche und das Nietzsche-Archiv, nein, das ganze Weimar, also auch Fritz Sauckels megalomanes „Gauforum“, zur höheren Ehre der NSDAP errichtet, das demnächst als Einkaufszentrum eine heutigen Zeiten offenbar angemessene Transformation erfahren wird: von der Nazi-Weihestatt zum Konsumtempel.

Wildner stammt aus Berlin-Ost, doch schon seit 30 Jahren lebt er in Weimar: Und wer sich auf eine Stadtrundfahrt mit ihm einlässt, der sollte sich keine Schiller-Goethe-Festspiele nach Gusto des örtlichen Fremdenverkehrsverbands erwarten. „Der Fluss durch Weimar, die Ilm“, erzählt er etwa, „die war früher eine graue Brühe. Industrieabwässer, verstehen Sie. Und schauen Sie sich jetzt das Wasser an: klar und rein. Die Industrie ist weg. Und die Arbeitslosen, die sie hinterlassen hat, die können ja jetzt fischen gehen.“ Nachsatz: „Wenn sie sich die Anglerkarte leisten können.“

An eine Feuermauer mitten im Zentrum von Weimar gepinselt, findet sich ein Zitat von Kurt Tucholsky: „Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt.“ Und jetzt? Was jetzt?


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 11. Juni 2005

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