Olrik Kohlhoff und der Sinn im Widersinn

Vom „Wunderland der Unfälle“ bis zum Ringkampf mit Wirbelstürmen. Wo mit dem Schrecken Spaß getrieben wird und mit der Schönheit Scherz: „Kohlhoffs Garten“ – mein „Comic des Monats“ im Februar 2024.

In einem Garten gedeihen ja oft die sonderbarsten Gewächse. Und es ist nicht immer der Gärtner, der letzthin entscheidet, was da wächst – und was nicht. Da kann es schon geschehen, dass sich gegen jede Wahrscheinlichkeit entwickelt, was sich unter geregelten Gegebenheiten eigentlich niemals hätte entwickeln sollen. Und dass sich begibt, was sich nie hätte begeben dürfen.

Was alles sich allerdings in „Kohlhoffs Garten“ versammelt findet, das überspannt selbst die überspanntesten Vorstellungen davon, wie viel in einem Garten möglich ist. Wo sonst könnte man King Kong leibhaftig auf freiem Feld begegnen? Wo sonst ließe sich auf gläsernem Meer über gläserne Schaumkronen spazieren? Wo sonst hätte man je einen „Park der Reiterstandbilder“ gesehen?

Wir ahnen schon, es ist kein ganz gewöhnlicher Garten, von dem hier die Rede ist, und das ist nicht weiter verwunderlich, schließlich ist sein Schöpfer, Olrik Kohlhoff, auch kein Gärtner, sondern bildender Künstler – und, wie soll ich sagen, mit einem überaus flexiblen Zugang zu dem ausgestattet, was unsereiner bescheiden Wirklichkeit nennt.

Detailgenau realistisch buchstabiert Kohlhoff uns eine Welt aus, die nichts weniger als real sein kann – und gleichermaßen mehr über diese unsere reale Welt erzählt, als es die reale je vermöchte. Wahn, zur Wirklichkeit entstellt: Was hier ist, kann gar nicht sein – und ist doch wahrer als jede unserer alltäglichen Wahrheiten. In „Kohlhoffs Garten“ blüht der Widersinn und blüht doch so konkret konturiert, als wäre Sinn nur im Widersinn zu finden.

So nimmt es auch nicht wunder, dass „Kohlhoffs Garten“ den Rahmen des Botanischen weit überschreitet. Mehr Panoptikum denn beschaulicher Bewahrort des Floralen, präsentiert sich, was sich hinter dem historisierenden Gusseisengittertor öffnet, eher als großes Zauberland der Sehnsüchte und Abgründe, ein Entertainmentpark, in dem mit dem Schrecken Spaß getrieben wird und mit der Schönheit Scherz, in dem auf den ersten Blick alles auf dem rechten Platz scheint und doch nichts richtig ist. „Genieße die Sinnlosigkeit!“, werden wir da auf der einen Seite aufgefordert, und auf der Seite gegenüber sehen wir ein „Wunderland der Unfälle“, ein halb versunkenes „Titanic“-Modell, auf dem Besucher fröhlich rittlings sitzen, samt einer dazu passenden Spiel-„Hindenburg“ hoch in der Luft, Reminszenz an die Absturz-Katastrophe von Lakehurst 1937.

Hie wird keck behauptet, das Gefühl zu sterben sei „eine wunderbare Erfrischung“, und da wird auch schon entsprechend erfrischt: auf dem „Giant swing boat“, das mit seiner menschlichen Ladung in rasendem Flug durch das Dickicht der Waldeswipfel rauscht, als könnt’s kein Morgen geben. Braucht’s denn tatsächlich Todesangst, um wieder Lust am Leben zu verspüren?

Gedanken an unseren Unterhaltungsüberdruss werden wach, und wie er sich heute nicht so selten artikuliert: in der Gier nach Abenteuern, in denen gezielt Grenzen gesucht und überschritten werden, vom Bungee-Jumping in brodelnden Vulkankegeln bis zur mehrwöchigen Survival-Tour durch die Arktis. Als wäre die Welt, klaren Sinns betrachtet, nicht schon so, wie sie ist, geeignet, uns Schauer über den Rücken zu jagen.

Doch vielleicht ist es ja gerade die Flucht aus jenem realen Grauen, das uns dieses andere suchen lässt, dieses andere, das uns immerhin ein gewisses Maß an Kontrolle verspricht, während wir uns doch jenem realen weit mehrheitlich hilflos ausgeliefert fühlen. Oder ist es am Ende ein alle Sinne abstumpfender Alltag, der nach einem quasi existenziellen Ausgleichssport verlangt, auf dass wir nicht vergessen, was und wer wir recht eigentlich doch sind?

Wie in den Freakshows vergangener Tage, in den Abnormitätenschauen, wie sie lange Zeit zum Standardrepertoire von Jahrmärkten und sogenannten Kuriositätensammlungen gehörten, begegnen wir in „Kohlhoffs Garten“ Absonderlichkeiten sonder Zahl. Ein „Museum der Angst und des Bösen“ hält einen Menschenkopf mit Teufelshörnern, einen anderen halb Frau, halb Mann bereit. Da ist es dann nicht mehr weit bis zum Muskelmann, an dessen „magnetischem Bizeps“ sich Besteck wie Fleischerhacke versammeln. Nicht zu vergessen das „Taxi aus Fleisch“, ein Riesenschwein, das Kinder durch „Kohlhoffs Garten“ trägt.

Wie war das doch gleich bei Franz Kafkas „Hungerkünstler“? Jahrmarktsattraktion auch er, an der Kafka schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gesetzmäßigkeiten einer Aufmerksamkeitsökonomie formuliert, wie sie gegenwärtiger nicht sein könnten: vom Aufruhr, den die Sensation zu Beginn erzeugt, über ihre allmähliche Eingemeindung ins Gewöhnliche bis hin zum völligen Vergessen aus Interesselosigkeit – bis heute an Anlassfällen aller Art nachzuvollziehen, vom Amoklauf bis zur Naturkatastrophe.

Dann wieder dieser Jaguar in „Kohlhoffs Garten“ und wie er, einen toten Affen in den Fängen, traurig ins Rund seiner Zuschauer blickt, Bruder im Geiste jenes Panthers, den einst Rainer Maria Rilke in Verse fasste:
„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, da
ss er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.“
Es ist ein großes, weites, schier endloses Feld der Assoziationen, das Olrik Kohlhoff in seinem doch so sorgsam eingezäunten Garten öffnet. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass er ihn zeitlich im Ungefähren lässt: Der Kleidung der Gartenbesucher nach weisen die Bilder in die unmittelbaren Nachkriegsjahre. Das „Hotel Storch“ wiederum, erstes Haus am Kohlhoff’schen Platze, gibt sich als historistischer Palast zu erkennen. Das Plakat dagegen, das „nach dem Sex Duftseifen aus Kohlhoffs Garten“ empfiehlt, verspräche selbst heute nur in Sonderfällen Erfolg.

So verharrt „Kohlhoffs Garten“ im Irgendwann und Irgendwo – und zur selben Zeit tief in uns drinnen. Wo Renaissance und Gotik in einer „Schlacht der Architekturen“ aufeinander eindreschen, wo „Tornado Brothers“ mit Wirbelstürmen ringen, wo angeboten wird, Reklamesprüche auf lebende Insekten zu drucken, dort gibt es keinen Ort und keine Zeit, da trifft die Absurdität des Daseins auf das triftigste Mittel, ihr zu entrinnen – die Fantasie.

Was das alles mit einem Comic zu tun hat? Formal auf den ersten Blick nicht viel. In die Kategorie „Sequenzielle Kunst“ scheinen sich die Zeichnungen, so kunstvoll sie ausgeführt sind, nicht recht zu fügen, präsentiert sich „Kohlhoffs Garten“ doch eher als Ausstellungskatalog denn als Erzählung in Bildern.

Und dennoch, so einzeln, Stück für Stück für sich stehend, können sie gar nicht sein, dass sie in ihrer Gesamtheit nicht doch eine Geschichte erzählten: eine Geschichte von jenen Verirrungen, jenen Abwegen und Sonderbarkeiten, die uns allenthalben den Kopf schütteln lassen und dann doch wieder so weit faszinieren, dass wir ihnen Platz in unseren Köpfen und in unserem Dasein einräumen. So zeigt sich, was im schlechtesten Fall ein Pandämonium der Schrecken wäre, zugleich als Quelle verzaubernder Poesie. Und Hand aufs Herz: Wer könnte sich schon der faszinierenden Idee entziehen, in „Kohlhoffs Garten“ einem „schwarzen Feuerwerk“ beizuwohnen?

Der „Comic des Monats“ im Februar 2024
O
lrik Kohlhoff
Kohlhoffs Garten
80 S., € 24
(Avant Verlag, Berlin)

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