Franquin zum 100. Geburtstag: Er zeichnete das lustvolle Chaos

André Franquin schuf Figuren wie Gaston und das Marsupilami – und frönte der Lust an der Alltagskatastrophe: Der große Zeichner wäre nun 100 geworden.

Viele der berühmtesten Franzosen sind ja in Wahrheit Belgier. Sagen die Belgier. Sie können auf frankofone Allzeitmeister wie Jacques Brel, Georges Simenon oder César Franck verweisen. Was im kulturell Allgemeinen noch auf Einzelfälle beschränkt scheint, ist in Sachen Comic-Kultur ein generelles Phänomen: Das als französisch Wahrgenommene erweist sich erstaunlich oft als made in Belgium.

So haben Klassiker wie „Tim und Struppi“ oder „Lucky Luke“ ihren Geburtsort im südbelgischen Marcinelle, Heimstatt des Dupuis-Verlags – und damit des 1938 gegründeten Comicmagazins „Spirou“. Und „Spirou“ war es auch, das einem jungen Zeichner aus dem Brüsseler Vorort Etterbeek Mitte der 1940er-Jahre die Chance bot, zur einflussreichsten Größe des europäischen Comics seiner Zeit zu wachsen: André Franquin, geboren am 3. Jänner vor 100 Jahren.

Als Franquin 1946 die Serie „Spirou und Fantasio“ übernahm, ließ sich derlei kaum erahnen. Die kreuzbraven Abenteuergeschichten rund um den Hotelpagen Spirou und seinen trotteligen Lebenskünstler-Freund Fantasio entwickelten erst in Franquins Hand jene Dynamik, die Kenner bis heute bewundern. Fantasio mutierte bei ihm vom Tollpatsch zum rasenden Reporter, und er gesellte den Protagonisten ein Ensemble markanter Nebenfiguren bei.

Spätestens als im Jänner 1952 das mysteriöse Fabeltier Marsupilami bei „Spirou und Fantasio“ seinen ersten Auftritt hatte, war sich Franquin im Comicuniversum Unsterblichkeit sicher. Hüpffreudig wie ein Känguru, gefleckt wie ein Gepard, stark wie ein Bär, mit nimmermüdem Appetit gesegnet und einem Schwanz, der in puncto Länge und Anwendungsfähigkeit alles übertrifft, was die Natur auf Erden je erdacht hat: Wer könnte sich der Faszination einer so charmanten Kreatur entziehen? Von seiner Heimat aus, den Urwäldern des fiktiven südamerikanischen Staats Palumbien, eroberte das Marsupilami mit viel „Huba! Huba!“ binnen Kürze die Herzen der Leserschaft. Und mit seiner handfesten Wehrhaftigkeit alsbald die Hirne linker Gruppierungen, die in ihm einen Verbündeten in ihrem Widerstand gegen was oder wen auch immer erkannten.

Durchweg widerständig zeigt sich auch die zweite Figur, die mit Franquin untrennbar verbunden ist: Gaston, der Redaktionsbote. Dem Chaos, das er fortwährend gebiert, liegt eine radikale Verweigerung zugrunde: von Nützlichkeitsdoktrinen des Arbeitslebens wie auch von Naturgesetzen, die Gaston mit absurden Erfindungen herausfordert. Die Physik kommt freilich stets zu ihrem Recht – aufs Vergnüglichste. Wenn sich Gastons Zimmer wieder einmal explosionsartig atomisiert, zeigt sich die ganze zeichnerische Kunst: So herzzerreißend komisch wird Alltagskatastrophe nie wieder sein.

Als Franquin 1957 die Serie „Spirou und Fantasio“ abgab, behielt er die Rechte an Marsupilami und Gaston, nahm sie mit in eine Zukunft, die ihn nach Phasen manischer Arbeitswut immer wieder durch schwere Depressionen trieb. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre dann der letzte Schaffenshöhepunkt: Mit seinen „Schwarzen Gedanken“, gallig-bissigen Ein- bis Zweiseitern voll abgründiger Visionen, verließ Franquin den Boden eines arglos scheinenden Entertainments in Richtung politischen Engagements.

1997, mit 73 Jahren, starb Franquin. Sein imposantes Œuvre lebt weiter, nicht nur in jenen Sondereditionen, mit denen sein deutscher Verlag, Carlsen, seinen 100. Geburtstag würdigt, sondern auch in Fortschreibungen, wie sie Flix oder Frank Pé zuletzt hinzugefügt haben. Vor allem aber in einer ganzen franko-belgischen Zeichnergeneration, geschult an seinem Werk und Vorbild.

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, 3. Jänner 2024

 

 

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