„Net amol ignorieren, das kann man sich auf die Dauer nicht bieten lassen. Ich werde mich immer gegen diese Art Demokratur wehren.“ Roland Rainer über Wiener Planungskabalen, seine Liebe zum Ebenerdigen, über Fernsehen, pannonische Flora, Blauschwarz und Funktionärsbarock. Ein Gespräch zum 90. Geburtstag.
Roland Rainer, wenn man so prominent ist wie Sie, dann hat man im Alter von 90 Jahren schon eine Fülle ehrender Glückwunschadressen hinter sich. Je älter man wird, in desto kürzeren Abständen melden sich Gratulanten und referieren zum abermalsten Male die großen Leistungen des jeweils zu Ehrenden. Versuchen wir es einmal andersrum: Erzählen Sie uns bitte anlässlich Ihres 90. Geburtstags, was im Laufe Ihres Architektenlebens schiefgegangen ist.
Für mich stand immer die Frage im Vordergrund: Wie weit kann ich Dinge, die ich für richtig halte, durchbringen? Das war ein ständiger Kampf. Als ich in Wien Stadtplaner war, von 1958 bis 1963, da war das vielleicht besonders schwierig, denn meine Überzeugungen haben sich nicht immer gedeckt mit jenen der Behörde. Und damals hab‘ ich noch keine so große Autorität gehabt. Ich hab‘ manche Dinge nicht erreichen können. Ein Beispiel: Ich wollte die Wiener Grünbergstraße nicht so mächtig ausgebaut sehen, wie sie dann ausgebaut worden ist.
Etwas anderes, was mich bis heute bewegt, sind die Probleme rund um den Karlsplatz. Der beschäftigt mich schon seit 1936. Mittlerweile habe ich insgesamt viermal über den Karlsplatz geschrieben und noch viel öfter darüber gesprochen. Und das Ergebnis in der Wirklichkeit war nicht sehr groß. Ich kann nicht sagen, dass es gar nichts war. Man hat eine Menge von Straßenflächen aufgehoben, man hat einen Wettbewerb für eine Grünflächengestaltung gemacht, den ich als Stadtplaner vorgeschlagen habe; der ist auch sehr gut ausgegangen, das Siegerprojekt war von hervorragenden dänischen Architekten, die haben einen sehr guten Wettbewerbsbeitrag geliefert. Aber die zuständigen Behörden haben das Konzept sozusagen kleingehackt. Es ist fast nichts mehr übrig geblieben.
Ihnen ist auch etwas passiert, was nicht vielen renommierten Architekten widerfährt: Ihnen hat man sozusagen vor der Nase eines Ihrer bedeutenderen Gebäude abgerissen – das Franz-Domes-Heim der Arbeiterkammer in der Wiener Theresianumgasse.
Ich bin überhaupt nicht gefragt worden. Eines Tages war es weg.
Und wie fühlt man sich da?
Überrascht. Wissen Sie, das Beste war ja, dass nach dem Abriss des Domes-Heimes das haargenaue Gegenteil entstanden ist. Das war eine Demonstration. Was ich nicht verstehen konnte: dass auch der soziale Gedanke, der Gehalt der Sache, ins Gegenteil verkehrt worden ist. Seinerzeit, als das Domes-Heim gebaut wurde, hat das damalige Arbeiterkammer-Präsidium durchaus bewusst an dieser Stelle das Heim gebaut, genau gegenüber dem Theresianum, weil sie sich gesagt haben, warum sollen Lehrlinge eine schlechtere Position in der Stadt haben als die Gymnasiasten des Theresianums, umso mehr als ja Lehrlinge das Bildungsangebot in der Stadt noch nötiger brauchen als andere. Das war ein sehr schöner und richtiger Gedanke. Und eines Tages wurden die Lehrlinge ausgesiedelt in zwei Hochhäuser am Wiental, und an die Stelle unseres Gebäudes trat, wie soll ich sagen . . . ein im Funktionärsbarock gehaltener Tempel. Unglaublich.
Welche Lehren haben Sie aus solchen Erfahrungen gezogen?
Zumindest gehört werden, das müsste selbstverständlich sein. Ich verstehe schon, dass Politiker andere Gesichtspunkte haben als Fachleute, ich könnte mir vorstellen, dass man so etwas diskutiert, dass man sagt, es gibt diese und jene städtebauliche Überlegung, diese und jene psychologische Überlegung und so weiter, und wenn man das bespricht, könnte sicher eine gute Lösung entstehen. Aber das geschieht nicht. Da sind wir bei der Frage der Demokratie – oder der Demokratur, wie ich es immer nenne. Nehmen Sie das Beispiel Karlsplatz. Im vergangenen Jahr hat es im Künstlerhaus eine Sitzung gegeben, da ist diskutiert worden, das war ein schöner Ansatz, die Magistratsabteilungen waren da, das Künstlerhaus war da, sogar ich war eingeladen. Und wie geht so etwas weiter? Ich hab‘ damals einen konkreten Vorschlag gemacht, mit einem Plan belegt, dass man aus der Wiedner Hauptstraße eine Fußgängerzone machen sollte. Das ist eigentlich nicht bestritten worden. Mittlerweile ist ein halbes Jahr geschwiegen worden, und jetzt wird das genaue Gegenteil präsentiert. Das ist weder Demokratie noch überhaupt ein vernünftiges Agieren.
Ich könnte mir vorstellen, dass gewisse Abteilungen sagen: Das wollen wir nicht. Aber net amol ignorieren, das ist für eine Planungsabteilung und für einen Planungsdirektor zuwenig. Das kann man sich auf die Dauer nicht bieten lassen. Ich werde mich immer gegen diese Art Demokratur wehren. So können wir nicht weiterkommen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: das Museumsquartier. Da hat man in einem – man kann fast sagen – jahrzehntelangen Prozess versucht, möglichst alle Wünsche zu befriedigen; herausgekommen ist ein Kompromiss, mit dem zumindest hinter vorgehaltener Hand keiner wirklich glücklich ist.
Na ja, welche Wünsche hat man denn befriedigt?
Nehmen wir als banalsten Punkt den berüchtigten Leseturm. Der ist gefallen.
Die Diskussion rund um das Museumsquartier war ja in jeder Weise enttäuschend, denn die wichtigen Fragen sind gar nicht angesprochen worden.
Die da wären?
Wie wird die Hangkante gestaltet, die vom siebenten Bezirk herunterfällt? Dort oben, an der Breitegasse entlang, dort hätte es die Möglichkeit gegeben, eine langsam nach unten gestaffelte Anlage zu schaffen. Alles nach Norden orientiert, was sehr gut ist für ein Museum. Alles mit großem Blick über die ganze Innenstadt. Und ohne den Fischer von Erlach auch nur im Mindesten zu stören. Es hat einen Entwurf gegeben, der hat diese Hangsituation genutzt, aber der ist sang- und klanglos verschwunden. Ich war auch sehr glücklich, dass ich mich am Wettbewerb nicht beteiligt habe, denn wer die Jury gesehen hat, der konnte nicht erwarten, dass jemand wie ich da sehr viel Glück haben würde.
Sie waren doch selbst in der Jury.
Nur deshalb, weil ich mich nicht beworben hatte. Ich glaube, dass man beim Museumsquartier einfach nicht genug aus dieser wundervollen Situation gemacht hat. Es ist auch so zaghaft, so unentschieden, so unklar gebaut worden, dass nichts herauskommen konnte.
Das ist doch ein häufiges Problem demokratischer Prozesse, dass vieles lange dauert.
Keine Rede davon! Sonst könnte man in einer Demokratie niemals ein anständiges Gebäude errichten. Die Wiener Stadthalle hat ganz genau gezeigt, wie in einer Demokratie ein großes Bauvorhaben abgewickelt werden kann. Und es ist sehr schnell abgewickelt worden. 1952 fand ein international besetzter Wettbewerb statt. Anfang 1953 wurde entschieden, dann gab’s noch Untersuchungen, ob das Projekt von Alvar Aalto oder meines realisiert wird. Das waren ein paar Monate. 1954 hab‘ ich den Auftrag bekommen, 1958 war der gesamte Komplex spielbereit, fix und fertig. Das war ganz demokratisch, es war ein offener Wettbewerb, es ist offen diskutiert worden, immer sind alle Pläne gezeigt worden, niemals hat es eine besondere Schwierigkeit gegeben. Es war eben alles sachlich und korrekt. Jetzt vergleichen Sie das mit dem Museumsquartier!
Denken Sie zum Beispiel auch an meine Reihenhausanlage in Puchenau bei Linz: Das ist eine Stadt von zwei Kilometer Länge, fast 1000 Wohnungen, und sie ist etappenweise entstanden von 1963 an, jetzt ist sie fertig – auf durchaus demokratische Weise. Der Bauherr, die „Neue Heimat“, hat erst einmal im Linzer Bauzentrum eine Ausstellung gemacht, ich glaube, das war 1962/63. Und er hat in dieser Ausstellung ein Modell gezeigt vom ersten Bauabschnitt. Das waren 224 Wohnungen. Das Publikum ist befragt worden. Und als die Leute die Modelle gesehen haben, haben sie sich zum größeren Teil für zweigeschoßige Häuser entschieden. Das war das, was damals üblich war. Dann hat man eine Gruppe von Häusern gebaut, von jedem Typ einige Exemplare, und hat die voll möbliert, die Gärten möbliert, hat dann wieder die Leute eingeladen und hat gefragt: Was ist euch lieber? Und da haben die Leute weniger zweigeschoßige gewollt als ebenerdige. Also wurde der Bebauungsplan geändert.
Als das Ganze besiedelt war, ist eine Kommission eingesetzt worden, die die Bevölkerung befragt hat. Und damals hat sich etwas gezeigt, wovon heute niemand etwas wissen will: dass die Leute die ebenerdigen Häuser bevorzugen. Sagen Sie mir, ob es etwas Demokratischeres gibt? Kürzlich hat ein sehr prominenter Wohnungspolitiker gemeint: Wenn er gewusst hätte, dass die Leute das Einfamilienhaus bevorzugen, dann hätt‘ er immer nur Einfamilienhäuser bauen lassen statt der Hochhäuser, die jetzt gebaut werden. Was soll ich da sagen?
Ist das Reihenhaus wirklich die richtige Antwort auf alle Wohnungsfragen der Gegenwart? Ich beispielsweise lebe gerne im Stadtzentrum, genieße die hohen Räume meiner Altbauwohnung . . .
Ich werde Ihnen etwas sagen: In Wien gibt es 96 Prozent solcher Wohnungen – und Einfamilienhäuser gibt es insgesamt nur vier Prozent. Na glauben Sie nicht, dass es Leute gibt, die doch so wohnen wollen? Ich baue ja nicht so, weil ich glaube, dass alle so wohnen müssen. Aber hat man die Leute, die eine Wohnung brauchen, hat man die alle gefragt, ob sie so oder so wohnen wollen? Wir haben gefragt. Das ist der Unterschied.
Fest steht, und das können Sie mit Ihrer Vorliebe für die alten Häuser nicht ändern, dass meine Häuser immer ausnahmslos verkauft wurden, bevor sie noch fertig waren. Wissen Sie, wie viele Zehntausende fertige neue Wohnungen heute leer stehen? Es wird nicht angegeben, wie viele Wohnungen am Simmeringer Leberberg und an der Brünner Straße und an der Wagramer Straße leer stehen. Und man kann doch nicht sagen, dass das, was die Leute bevorzugen, indem sie es kaufen, schlechter ist als das, was sie nicht kaufen.
Die Frage ist: Erfüllt diese Art von Reihenhausanlage das, was Sie sich von ihr erwarten? Sie sehen darin ja auch das ideale Mittel gegen die Zersiedlung: Wer so ein Reihenhaus mit Handtuchgarten hat, braucht quasi nicht mehr das Zweithaus irgendwo in einem Dorf auf dem Land. Ist die Rechnung so einfach?
Ich glaube, dass die Zersiedelung zu sehr großen Teilen auf diese Weise verhindert wird.
Jetzt könnte ich polemisch sein . . .
Na seien Sie es doch!
. . . und sagen: Ich nehme an, Sie selbst haben für sich die Wohnungsfrage in Wien einigermaßen zufriedenstellend gelöst. Sie haben aber trotzdem ein Sommerhaus im burgenländischen Sankt Margarethen.
Das mit dem Sommerhaus ist etwas ganz anderes. Ich habe mich immer sehr mit ökologischen und botanischen Dingen beschäftigt, und das Sommerhaus ist in der Hauptsache der Versuch gewesen, pannonische Flora zu regenerieren. Außerdem müssen Sie einem Architekten zubilligen, dass er alles Mögliche ausprobieren will. Wenn ein Musiker sich zwei Geigen kauft oder zwei Klaviere, das muss man ihm auch zugestehen.
Apropos Ökologie: Ein durchgängiger Punkt in Ihren öffentlichen Äußerungen, auch in Ihrer Philosophie des Bauens, ist eine beträchtliche Technik-Skepsis. Gustav Peichl nannte Sie den „ersten Grünen der Architektur“ . . .
Das ist keine Beschimpfung.
Nein, warum auch?
Ich bin keineswegs technikfeindlich. Die Technik hat uns geholfen, viele Gedanken klarer zu machen. Und wenn Sie meine Gebäude anschauen, dann würde ich von Ihnen gerne wissen, ob Sie irgendwo in der Welt Dinge sehen, die technisch konsequenter als meine Wiener E-Halle, meine Halle in Ludwigshafen, meine Halle in Bremen sind. Es gibt aber Dinge, wo Technik nicht so wichtig ist; eine Welt, die eh den ganzen Tag von Technik lebt und mit Technik gefüllt ist, die kann auch einmal am Feierabend ein bisschen was ohne Technik vertragen. Technik ja, als dienendes Element, um einen Baugedanken zu formulieren, einen Raum zu bilden. Aber beim Wohnen brauche ich nicht Technik, sondern Gemütlichkeit. Ich geniere mich gar nicht zu sagen: Es muss auch gemütlich sein.
Wie steht’s um die Technik am Arbeitsplatz? Vor fünf Jahren glaubten Sie Ihren Mitarbeitern noch die Tätigkeit am Computer ersparen zu müssen, weil Sie Gesundheitsschäden fürchteten.
Wir haben Schreibcomputer, selbstverständlich, das haben ja schon alle. Nur gezeichnet wird damit nicht. Denn es zeigt sich, dass man viel schöner auf die übliche Art zeichnet. Und ich bin auch überzeugt davon, dass der Siegeszug des Zeichencomputers erst recht den Wert der Handzeichnung steigern wird. Denn wenn die Handzeichnung etwas sehr Seltenes geworden ist, dann wird sie mehr geschätzt werden. Und sie hat Qualitäten, die der Computer nicht hat.
Es ist auch nicht so lange her, da legten Sie – immerhin Planer des ORF-Zentrums auf dem Küniglberg – Wert darauf, kein TV-Gerät zu besitzen.
Ich hab‘ derzeit zwei Fernsehapparate: Einen hat meine Frau, und einen hab‘ ich geschenkt gekriegt. Ich brauch‘ keinen, aber meine Frau hat immer einen gehabt. Ich schau‘ manchmal auch hinein, aber nur Nachrichten und solche Sachen. In der kurzen Zeit, die mir bleibt, höre ich lieber Musik.
Welche Musik?
Zum Beispiel Ravel. Auch die Moderne mag ich durchaus, und je mehr sich die Dinge entwickeln, desto weniger ist man fasziniert von der klassischen Musik, weil sie einfach nicht so viel Spannung hat. Ligeti beispielsweise ist wunderbar. Und es kommt immer wieder etwas Neues. Mir ist abends wichtiger, Musik zu hören, als die Nachrichten im Bild zu sehen, die ich eh schon gehört hab‘. Wie viel Grad es morgen haben wird oder wer gestern erschossen worden ist, das kann ich hören, das brauch‘ ich nicht zu sehen.
Sie gelten als SP-nahe . . .
Ich war früher Mitglied des Bundes Sozialistischer Akademiker, aber heute bin ich bei keiner Partei. Ich möcht’s jetzt auch gar nicht sein. Was sich in letzter Zeit abgespielt hat, ist für alle gleich schlecht.
Gab es einen konkreten Grund, warum Sie aus dem Bund Sozialistischer Akademiker ausgetreten sind?
Das hat mit keinen konkreten Dingen zu tun, ich weiß das wirklich nicht mehr. Aber es war nicht so, dass ich enttäuscht war. Für mich war das einfach nicht mehr wichtig.
In welcher Beziehung wichtig?
Für mich als Person. Mein Vater hat sozialistisch gedacht, ich weiß nicht, ob er organisiert war, aber soziales Verantwortungsbewusstsein war eine wichtige Sache seit meiner frühen Jugend. Ebenso wie künstlerisches Bewusstsein. Das hat sich natürlich fortgesetzt. Andererseits: Was ich jetzt sehe und höre von der anderen Seite, ist nicht so, dass es mich sehr verlockt. Wenn jemand so agiert wie die jetzige Regierung, überzeugt mich das nicht.
Was stört Sie daran?
Alles. Die ganze Art. Es ist doch offenkundig, dass da sehr viel persönlicher Ehrgeiz dahintersteckt. Ich hätte heuer in Kärnten einen Architekturpreis kriegen sollen, ich hab‘ ihn nicht genommen, weil ich von Herrn Haider keinen Preis entgegennehmen wollte.
Sie sind gebürtiger Kärntner.
Ich bin zufällig in Kärnten geboren, weil mein Vater damals als Zeichenlehrer dorthin versetzt war. Seit meinem zweiten Lebensjahr bin ich in Wien. Ich bin in Ober-Sankt-Veit aufgewachsen, in einem zweigeschoßigen Haus, mit Blick auf den Wienerwald, mit Blick auf Steinhof. Das ist für mich ein gutes Symbol, Steinhof, nicht wegen der Patienten, sondern wegen Otto Wagner. Ich habe damals schon die Zinskasernen kennengelernt und habe sie auch nicht sehr schön gefunden, denn Sie müssen bedenken: Ihre Wohnung ist ja nicht die Bassena-Wohnung. Die wollen Sie doch auch nicht.
Aber das Revitalisieren der Bassena-Wohnungen ist Ihnen ja auch nicht recht.
Die Bassena-Wohnungen, da können Sie machen, was Sie wollen, die können Sie nicht revitalisieren. Man kann ein bisserl was verbessern, aber es wird niemals gut. Warum? Weil die Höfe zu eng sind. Wenn ein Bereich so dicht bebaut ist, dass ich wirklich keine Sonne und keine Luft mehr kriege, dann hat es keinen Sinn, innen die Bäder zu verbessern – denn die Umwelt kann ich nicht verbessern.
Schuld daran ist die erste große Welle der Bodenspekulation nach 1870. Das war ein weltweites Phänomen. Damals ist der Boden rings um die Städte aufgekauft worden, einige Blöcke sind dicht bebaut worden, dadurch ist im ganzen Bereich der Bodenpreis in die Höhe gegangen. Nach dem Ersten Weltkrieg kam ein Rückschlag für die Spekulanten. Man hat begonnen zu fragen: Hat das einen Sinn? Denn man muss eines bedenken: Das war ein unbeschreibliches Wohnungselend, die Zinskasernen, wo ein Raum mit vorgelagerter Kuchl sechs Personen plus Tagschläfer aufnehmen musste. Und dagegen hat es eine Reformbewegung gegeben, getragen vom Gartenstadt-Gedanken.
Jetzt haben wir genau dasselbe, was wir 1870 gehabt haben: Jetzt haben wir statt der Spekulanten den sogenannten Investor, der macht dasselbe. Nur ist er durch unsere heutigen baupolizeilichen Bestimmungen eingeschränkt, dadurch wird das Ärgste verhindert. Ich frage nur, ob das, was übrig bleibt, ob das nicht mindestens so arg ist, wenn nicht ärger als das, was 1870 entstanden ist. Haben Sie hinuntergeschaut aus den Hochhäusern an der Wagramer Straße in die Tiefe? Da muss ich sagen: Heiliger Le Corbusier, schau oba! Die Idee des Hochhauses mit den großen Grünflächen dazwischen – davon ist nur das Hochhaus geblieben, die große Grünfläche ist schnell dahingeschmolzen, weil auch heute wieder der Boden der Spekulation unterworfen ist.
Sie haben die weitaus meiste Zeit Ihres Lebens in Wien verbracht . . .
Ich bin froh darüber, ich hab‘ mich immer gefreut über die kulturellen Leistungen dieser Stadt.
Andererseits haben Sie einmal gesagt, Sie hätten in der falschen Stadt gearbeitet.
Ja, das ist sicher.
Wo hätten Sie lieber gearbeitet?
In Los Angeles.
Da gibt’s aber auch Hochhäuser.
Nur Downtown. Los Angeles ist vor allem eine Stadt von einem herrlichen Flachbau. Aber sicher war es auch schön, in Wien zu arbeiten, schon deshalb, weil es eben zum Widerspruch herausfordert. Die hohen Qualitäten von Wien sind durch die vielen Dinge, die nicht so schön sind, ja nicht in Frage gestellt: die Qualität der Landschaft zum Beispiel. Ich habe immer eines gesagt: Wien ist eine Stadt zum Leben. Zum Arbeiten ist es nicht so leicht.
Ich zitiere einen Satz aus dem Jahre 1995: „An meinem Denken hat sich eigentlich nie etwas geändert, meine Grundauffassungen waren immer die gleichen.“ Ehrlich gesagt: Es würde mich nervös machen, wäre das meine Bilanz eines neun Jahrzehnte währenden Lebens.
Natürlich lernt man dazu. Aber ich bin selbst überrascht, wenn ich meine Aufsätze lese und wenn ich meine Entwürfe sehe. Ich würde das Böhler-Haus, das stammt aus dem Jahr 1958, heute nicht viel anders bauen. Ich würde die Stadthalle nicht anders bauen. Und ich würde auch Puchenau nicht anders bauen.
Was würden Sie anders bauen?
Na ja, manches habe ich nicht so bauen dürfen, wie ich wollte. Aber im Allgemeinen . . . Wenn ich meine Sachen anschau‘, weiß ich kein Haus, von dem ich sagen würde, da geniere ich mich, oder das möchte ich nicht gebaut haben. Natürlich kann man von einem Haus, das 1950 gebaut worden ist, nicht unbedingt sagen, dass man es heute genauso bauen würde. Aber im Wesen, in der Art, wie es gedacht ist, wie die Aufgabenstellung gelöst ist, ist es bis heute vertretbar. Ich weiß schon: Das ist das Gegenteil von dem, was viele Architekten wollen. Es glauben doch viele Architekten, sie müssen jedes Jahr etwas Neues machen. Und wenn ich etwas sage, dann antwortet man mir manchmal: Na ja, das haben Sie schon immer gesagt. Klar habe ich es schon immer gesagt. Ich will ja nicht etwas Neues, ich will einfach das Richtige.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 22. April 2000