Schöner Sterben? Franz ist nicht mehr da

Ein paar Notizen auf dem Tisch. Brille, Uhr, Rasierapparat. Ein Konvolut Inkontinenzeinlagen. Und die Erinnerung. Was bleibt am Ende aller unserer Tage? Nachrichten vom Sterben.


Der kleine Schreibblock auf dem Tisch spricht slowakisch-deutsch. „Už ste to dostali?“, steht da geschrieben, also: „Haben Sie das schon bekommen?“ Und: „Idem do lekárne.“ – „Ich gehe in die Apotheke.“ Übersetzungshilfen für Ilona und Maria, die beiden slowakischen 24-Stunden-Pflegerinnen. Übersetzungshilfen, um sich Franz, ihrem Pflegling, leichter verständlich zu machen. Dass „metla“ Besen heißt und „zametat“ kehren. Übersetzungshilfen auch, um seine Angehörigen über Franz’ Zustand ins Klare zu setzen: „Je velmi zmatený.“ – „Er ist sehr verwirrt.“ Und: „Je velmi namáhaný na opatrenie.“ – „Er ist sehr anstrengend zu behandeln.“

Seit Wochen liegt der kleine Schreibblock nun schon da auf dem Tisch, unberührt, ein kurzes, abgeschlossenes Vokabular. Seit jenem Sommermittwochabend, da Franz ins Krankenhaus gebracht wurde.

Stunden davor habe ich Franz ein letztes Mal in seinem Heim gesehen: So still, so ruhig lag er in seinem Bett wie schon seit vielen Tagen nicht. Tage, in denen er sich Gott weiß was von der Seele zu arbeiten schien, nicht mehr fähig, das Bett zu verlassen, und doch beständig mit allen Gliedern in Bewegung, als gelte es, eine unsichtbare Last immer wieder abzustreifen, abzuschütteln, von sich abzuwälzen. Nicht mehr bei uns und doch in grausamer Weise bei sich selbst, einer, der keinen anderen mehr kennen mochte, aber seinen eigenen Tiefen näher schien denn je.

Und jetzt plötzlich diese Ruhe, diese Stille. Seit gestern Mittag liege Franz so da, berichtete Maria, als könnte sie es selbst nicht glauben. Und nichts sonst als diese Ruhe, diese Stille nach den vielen Tagen voller täglichem Kampf und nächtlicher Angstschreie war ungewöhnlich. Der Atem vielleicht ein wenig flach. Aber was konnte das schon zu bedeuten haben? „Vielleicht hat aufgegeben“, meinte Maria in ihrem gebrochenen Deutsch. Sie kenne sich da aus. Bei ihrem letzten Pflegling, in Baden, Alzheimer, sei es gegen Ende ähnlich hergegangen. Franz ist anders. Franz gibt nicht auf. Nicht so leicht. Seit Jahren hat er sich an seinem Morbus Parkinson abgerackert, hat sich ihm, so gut es eben ging, entgegengestemmt, mit allem, was ihm zu Gebote stand, erst den körperlichen, dann, in diesem Frühjahr, auch den immer rascher fortschreitenden geistigen Einschränkungen auf je eigene Weise Paroli geboten, um sie, hatten sie ihn letztlich doch niedergerungen, als neuen Teil seines 85 Jahre alten Lebens hinzunehmen.

Keinen Zentimeter hatte er freiwillig geräumt, und doch in jedem neuen Oktroi die neue Möglichkeit gesucht. Der Stock wurde ihm zum Wanderstab, der Rollator, nach zähem Widerstand, zur wohlgelittenen Chance, den eigenen Bewegungskreis doch noch einmal zu erweitern, die 24-Stunden-Pflegerinnen, waren sie nur erst im Haus, zu hochgeschätzten Köchinnen der von ihm so sehr geliebten resoluten Hausmannskost. Und selbst als ihn Stück für Stück der Sinn fürs Wirkliche verließ, wuchs die Schwäche ihm zum Gewinn, der dem nunmehr ins Bett Gezwungenen stundenlange Ausflüge erlaubte, Reisen im Kopf, von denen er seinen Besuchern voll Begeisterung erzählte.

Und die hörten geduldig zu. So weit sie ihn noch verstehen konnten. Ihn, dem die Koordination von Zunge, Lippen, Kiefer mehr und mehr abhanden kam, ihn, der letztlich selbst Wasser nicht mehr schlucken konnte, weil sein Körper nicht mehr wusste, was Schlucken ist. Doch an diesem Sommermittwochnachmittag: Ruhe, Stille. Wenige Stunden später wird Maria den Notarzt rufen, kurz darauf wird Franz sein Heim gegen ein Krankenhauszimmer getauscht haben. Für die folgenden fünf Wochen. Die letzten seines Lebens.

Fünf Wochen, in denen daheim auf der Kredenz die nächtliche Medikamentenration jenes Mittwochs auf Franz wartet: drei Tabletten von mehr als zwei Dutzend täglich, die ihm Maria und Ilona zuletzt nur mehr unter süßen Brei gemengt einzuflößen vermochten. Und so gut ihm all die Medizinen zu Lebzeiten geholfen haben mögen: Das Mittel für ein schöneres Sterben war nicht dabei.


Ins „Heim“ will keiner. Ins Altersheim. Ins „Heim“ wird man „abgeschoben“. Ins „Heim“ werden die Alten „gesteckt“, wenn sie sich nicht wohlverhalten, eine Art Strafkolonie für unbotmäßige Senioren. Das „Heim“ ist die Rache der Enterbten – und den Erben fallweise rechtes Mittel, die Früchte ihrer Ahnen schon vor deren Ableben für sich allein zu haben. Das „Heim“ ist der Underdog der Sozialmedizin. Und es ist, zugegeben, nicht die üble Nachred allein, die ihm imagemäßig zu schaffen macht. Wer würde 60, 70, 80, 100 Quadratmeter mitten im Leben ohne äußere Not tauschen wollen gegen einen Bruchteil davon mitten in allen geriatrischen Qualen dieser Welt?

Dass der Wunsch, seinen Lebensabend, und wenn möglich auch die Lebensnacht, in den eigenen vier Wänden zubringen zu dürfen, solide mehrheitsfähig ist, wird keiner langen soziologischen Untersuchungen bedürfen: Man frage einfach bei sich selber nach. Dass dieser Wunsch nicht allzu oft erfüllt wird, ist genauso wenig zu bestreiten: Mehr als die Hälfte aller Todesfälle ereignet sich hierzulande in Krankenhäusern, knapp ein Fünftel in Heimen unterschiedlicher Nuancierung, die Sehnsucht einer Überzahl bleibt Unterzahlfortüne.

Und dennoch, eines Frühlingstages in diesem Jahr 2010 stehe ich dann doch in einer dieser allenthalben so scheel betrachteten Einrichtungen, die wir genauso dringend brauchen, wie wir sie nicht leiden mögen: Schließlich, alt werden die meisten von uns, doch dass wir dieses Alter bis zum letzten Tag in voller Handlungsfähigkeit genießen dürfen, wird nur den wenigsten beschieden sein. Ein unleugbares Faktum, das wir freilich weit von uns weisen, im unerschütterlichen Vertrauen, einer dieser sehr, sehr wenigen zu sein. Das hat nicht viel mit Wirklichkeitssinn zu tun und sehr viel mit gutfreudianischer Verdrängung. Andererseits: Warum sollten wir im Privaten so viel klüger sein als unsere gesundheitspolitischen Akteure, die erst in der allerjüngsten Vergangenheit dem uralten statistischen Befund, eine Gesellschaft immer Älterer werde auch mehr Pflegeplätze nötig haben, bauliche Taten folgen ließen.

Seither wachsen Pflegehäuser aller Art an allen Orten, die Architektur hat eine noch ziemlich ungewohnte Bauaufgabe entdeckt. Und durch eines dieser jungen Wunderdinge für die „späten Jahre“ werde ich denn an diesem Frühlingstag geleitet. „Pflegekrankenhaus“ ist die korrekte Bezeichnung des Instituts, eine überraschende „Gemütlichkeit“ hat ihm eine Architekturkritik gutgeschrieben, und es ist gewiss eines der besten seiner Art in Wien: Aber was in aller Welt sollte mich bewegen, freiwillig hierher zu übersiedeln, wie es die beiden rüstigen Damen planen, die an meiner Seite durch die Räume ziehen? In ein, je nun, eben „Krankenhaus“ – mit Krankenbetten, Krankenzimmern, denen nur durch eine Handvoll persönlicher Versatzstücke eine Ahnung von Intimität verliehen werden kann: eine Wanduhr da, eine Vase dort, hier das Foto einer munteren Erbenschar, dort das eines verstorbenen Gefährten.

84 Jahre lang hat auch Franz die Frage Pflegeheim weit von sich geschoben; und ich bekenne: Ich haben ihn nicht sehr nachdrücklich damit behelligt. Im 85. nun bleibt ihm keine Wahl. Franz ist ein Pflegefall, und dass die Betreuung zu Hause einmal enden muss, dazu zwingt ihn schon die Ökonomie: Trotz einer ziemlich ansehnlichen Pension, trotz Pflegegeld und einer zusätzlichen Förderung der 24-Stunden-Pflege reißen ihre Kosten Monat für Monat große Löcher in seine Ersparnisse.

Gewiss, die tief in ihm sitzende Angst, die letzten Tage, mittellos geworden, womöglich im „Asyl“, wie er es nennt, also im Armenhaus für Alte zubringen zu müssen, ist unter gegenwärtigen sozialen Gegebenheiten unbegründet – aber was alles war ihm schon Gegenwart? In den Dreißigerjahren das Elend der Ausgesteuerten, jener Arbeitslosen, die keinerlei Unterstützung mehr erhielten, in der Nachkriegszeit Wirtschafts- und Sozialstaatswunder, heute wiederum die lustvolle Demontage vieler jener guten sozialen Dinge, die seine Generation für alle folgenden zu schaffen meinte. Wem sollte er da vertrauen, dass morgen noch gelten wird, was heute Recht ist?

Es ist die Sicherheit, die Sicherheit vor dem Schreckensbild „Asyl“, die ihn einer Übersiedlung in ein Pflegeheim geneigt macht; und nimmt man die Zähigkeit als Maß, mit der er sich bis dahin jeder Beschneidung seiner Selbstständigkeit widersetzte, kann man ahnen, wie wichtig ihm diese Sicherheit gewesen sein muss. Seite an Seite begeben wir uns auf den Weg durch die Sozialbürokratie, kämpfen uns durch neun Seiten „Antrag auf Förderung für stationäre Pflege und Betreuung“, die sich als genauso umwegig erweisen, wie es ihr Name signalisiert. Und spätestens als ich Wochen später telefonisch Auskunft über den Fortgang der Amtsbehandlung zu erbitten suche und tagelang kein Ansprechpartner zu erreichen ist, frage ich mich, wie viele jener, die da genau wie Franz auf einen Pflegeheimplatz hoffen müssen, irgendwann auf ihr gutes Recht verzichten – oder es erst posthum erhalten mögen.

Ende Februar wird der Antrag abgeschickt, Mitte Juni ist er genehmigt. Da weiß Franz nichts mehr von Pflegeheim und Bürokratie – und nur mehr dann und wann etwas von sich selbst.


Der jungen Neurologin ist es um Aufklärung getan: „Wissen Sie, die Sache ist die: Es gibt zwar ein Mittel, das diese Unruhe- und Angstzustände eindämmen könnte, aber bei seiner Anwendung bleibt ein Risiko: Dieses Mittel steht im Verdacht, in seltenen Fällen das Knochenmark des Patienten zu schädigen.“ Ich schaue sie ungläubig an. Meint sie tatsächlich, was sie sagt? Rechts neben mir, im Spitalsbett: der zuckende, von ungekannten Qualen hin und her geworfene Körper eines todkranken 85-Jährigen. Links neben mir: die Ärztin, die ein Mittel wüsste, ihm die letzten Tage, Wochen, vielleicht Monate zu erleichtern – und sich stattdessen um das Wohlergehen seines Knochenmarks grämt, als sei das noch von irgendeiner Bedeutung.

Bis dahin habe ich sie ja immer für moderne Fabeln gehalten, die Erzählungen, dass Ärzte, nicht lange soll es her sein, todgeweihten Krebskranken die schmerzlösenden Morphingaben verweigerten, um sie davor zu schützen, womöglich süchtig zu werden. Mittlerweile weiß ich, dass das keine Fabeln sind – und dass bis heute etwa in Deutschland ernsthaften Schätzungen zufolge drei Vierteln aller Patienten, die eine entsprechende Schmerztherapie nötig hätten, diese Behandlung vorenthalten wird.

„In vielen hoch entwickelten Ländern ist die medizinische Versorgung zu stark darauf gepolt, den Tod zu verhindern, statt Menschen beim Sterben ohne Schmerzen, Beschwerden und Stress zu helfen“, heißt es in einer internationalen Studie, die der Weltverband für Palliativpflege vergangenen Juli veröffentlichte – mit einem Ranking von Staaten nach „höchster Sterbensqualität“, das Österreich immerhin auf Platz sechs sieht. Wie mag es da wohl in den Ländern auf den hinteren Rängen hergehen, wenn das Ende naht?

Franz hat Pech. Und Franz hat Glück. Als er an jenem Sommermittwochabend zur weiteren Behandlung in ein Krankenhaus eingewiesen wird, bewusstlos, Verdacht auf Lungenentzündung, da gerät er zwar nicht in eines jener Institute, das schon heute auf wesentliche Erfahrung in der Begleitung Sterbender samt dem dafür vorhandenen Personal verweisen könnte. Aber es bleibt ihm auch erspart, den finstersten Apologeten der Apparatemedizin in die Hände zu fallen. Und vielleicht gibt es die ja auch nur in der düsteren Vorstellungswelt überkritischer Nichtmediziner.

Meine erste Begegnung mit einem behandelnden Arzt jedenfalls fühlt sich anders an. Ich weiß, dass mir kein Mitspracherecht zusteht, was mit Franz zu tun oder zu lassen ist. Ich weiß, dass Franz keinerlei entsprechende Vorsorge getroffen hat, keine Patientenverfügung, die bestimmte Behandlungsmethoden ausschlösse, keine Vorsorgevollmacht, die ihm, unansprechbar, wie er ist, einen Vertreter verschaffte. Ich weiß auch, dass mich der Herr Doktor vis-à-vis selbst dann, so er es für angezeigt hielte, überstimmen könnte. Und ich habe mir für diesen Fall eine Handvoll rhetorischer Finten und Machtgebärden zurechtgelegt. Doch die braucht’s gar nicht. So vorsichtig, wie er mich in ein kleines, gerade nicht belegtes Krankenzimmer zieht, so vorsichtig versucht er mich dort über den Ernst der Lage aufzuklären, als könnte der mir entgangen sein: dass es für Franz nur mehr darum gehe, wie und wann er von hier ins Drüben kommt. Und so erleichtert ist er, dass ich mir darüber ohnehin im Klaren bin – und dass ich nichts vom Anwerfen der großen intensivmedizinischen Maschine wissen will. „Sie können sich gar nicht vorstellen“, sagt er dann, „wie oft Angehörige in Ihrer Situation gerade das von uns verlangen.“ Wie lange Franz noch zu leben haben werde? „Wochen, Monate. Im besten Falle schläft er morgen ein und wacht nach einem Herzversagen nicht mehr auf.“

Ein Herzversagen ist es denn tatsächlich, das Franz erlöst, doch nicht am nächsten Tag, sondern viereinhalb Wochen später: viereinhalb Wochen, in denen sich sein Körper, nach vollkommener Agonie, noch einmal unter irrwitzigen Visionen aufbäumt, dass man ihn tatsächlich und wahrhaftig ans Bett fesseln muss, um Schlimmeres zu verhindern. Viereinhalb Wochen, in denen seine Arme anschwellen unter den Infusionen, die von immer brüchigeren Venen nicht mehr zu fassen sind. Viereinhalb Wochen, in denen ich lerne, dass vom guten, vom richtigen Sterben ein Durchschnittsarzt möglicherweise nicht mehr versteht als ich. Und was versteh schon ich davon?

Muss Franz aus irgendwelchen obskuren medizinischen Gründen tatsächlich diese Qualen durchleben, ans Bett gebunden, krampfgeschüttelt – oder kann man ihm ohne viel Schaden Linderung verschaffen? Wird denn eine Magensonde Franz wirklich Erleichterung sein – oder höhlt sie ihn endgültig zum lebenden Leichnam aus, verdammt, weiter und weiter zu existieren bis zum Jüngsten Tag?

Auf manche dieser Fragen gibt es mehr als eine richtige Antwort. Und gerade die sind es, mit denen ich letztlich allein bleibe: alleingelassen von aller Medizin, die – so scheint’s – im Angesicht des Todes nicht mehr als Optionen bieten will, entscheiden muss ich selbst. Man könnte das Freiraum nennen. Ein Freiraum freilich, der sich vielleicht nur der ärztlichen Neigung verdankt, sich dort, wo keine Heilung mehr als Gewinn fürs Mediziner-Ego zu erwarten ist, aus der Verantwortung zu stehlen.

Gleichviel: Am Ende hat Franz dann doch noch zur Ruhe finden dürfen; eine palliativ geschulte Ärztin hat ihm die letzten Tage verschönt. Er soll, so wurde mir berichtet, an einem sonnigen Augusttag gelassen eingeschlafen sein. Ich habe ihn nicht mehr wiedergesehen.


Was bleibt am Ende aller unserer Tage? In Franz’ Zimmer finde ich: Uhr, Brille, Rasierapparat. Ein Konvolut Inkontinenzeinlagen. Desinfektionsmittel, Einweghandschuhe, Nagelschere, Körpercreme. Einen Spray zur Luftverbesserung. Das ganze Bettlägrigkeitselend seiner letzten Wochen daheim. Und versteckt in einem Stapel Nebensächlichkeiten einen Brief, nie abgesandt und nie vollendet. „Meine Lieben!“, hebt er bedrohlich an. „Im 85. Jahr meines Lebens habe ich endlich entschieden, all das aufzuschreiben, was mir in diesen 85 Jahren nicht gefallen hat.“ Und nach ein paar kurzen Präliminarien kommt Franz auf den Anlass seiner drängenden Empörung zu sprechen: „Das Handy! Es ist das sinnloseste Gerät, das die Menschheit je erzeugt hat. Hat man es ständig eingeschaltet, dann versklavt man sich. Schaltet man es zeitweise aus, entsteht die Frage: Wozu ein Handy, wenn man es nicht immer eingeschaltet hat?“

Ich schaue auf das Stück Papier und denke an die vielen vergeblichen Versuche, Franz für die Segnungen der Mobiltelefonie zu gewinnen. Und dennoch: Wer hätte gedacht, mit wie viel Wut er solchem Ansinnen in seinem tiefen Inneren begegnet sein muss? Ich schaue auf das Stück Papier und sehe noch etwas anderes: wie die Schrift mehr und mehr ins Schlingern gerät, wie sie sich viele Zeilen lang dagegen sträubt, ihre Ordnung zu verlieren, bis sie letztlich doch unterliegt, Franz’ Worte, ins Unleserliche platt gedrückt, willkürlich über das Blatt zu tanzen beginnen, als wären es längst nicht mehr die seinen.

Mittlerweile sind alle Beileidsadressen, die beiläufigen und die aufrichtigen, hingenommen, alle Beileidsdankadressen, die beiläufigen und die aufrichtigen, versandt, alle Erbschaftsangelegenheiten in die Wege geleitet. Verlassenschaft nennt man das, was einer verlassen hat. Ein Teil dieser Verlassenschaft bin ich selber. Franz ist nicht mehr da. Doch wer mich erbt, muss sich vorsehen: Ein Stück von ihm, ein Stück von seiner Lebenswut und seinem Widerstandssinn lebt in mir.


Wolfgang Freitag in: „Die Presse“, „Spectrum“, 18. September 2010

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