Ein Museum, das im Boden verschwindet. Eine Müllverbrennungsanlage mit Skiabfahrt. Eine Ziegelskulptur als Unternehmenssitz. Eine Nachschau in Vejle und Helsingör, Billund und der „Welthauptstadt der Architektur“ – Kopenhagen.
Die längste Zeit seiner Geschichte muss Vejle ein fast schon auffällig unauffälliger Flecken gewesen sein. Seit Ende der 1960er konnte man sich allenfalls damit rühmen, taugliche Ausgangsbasis für einen Besuch im knapp 30 Kilometer entfernt gelegenen Legoland zu sein. Doch Vejle selbst? Noch als Aufregendstes, das die 60.000-Einwohner-Stadt in der Mitte Dänemarks zu bieten hatte, durfte die Autobahnbrücke gelten, die ab 1980 den langgestreckten Fjord im Osten seines Hafens überspannte.
Mittlerweile freilich ist’s mit so viel Unscheinbarkeit vorbei. Der Grund für die so unvermittelt erwachte Attraktivität: zeitgenössische Architektur. Noch in den 2000ern verpasste Henning Larsen Architects dem bis dahin trübseligen Hafen mit dem Luxus-Wohnprojekt „Bølgen“ (Wellen) eine erste Landmark. Und seit zehn Jahre später quasi gleich nebenan Ólafur Elíassons „Fjordenhus“ im Ostseewasser gelandet ist, hat’s mit gehabter Mediokrität endgültig ein End: Jenseits von Raum und Zeit steht es in den Fluten, ganz und gar im Heute und doch, als wär’s immer schon dagewesen, und dass es sich bei dem knapp 30 Meter hohen Wunderding um keinen Kulturtempel welcher Art auch immer handelt, vielmehr schlicht um die Unternehmenszentrale eines Großinvestors namens Kirk Kapital, macht die Angelegenheit nur noch erstaunlicher.
Andererseits, hinter Kirk Kapital verbirgt sich niemand anderer als die Erbengemeinschaft des Lego-Begründers, Ole Kirk Christiansen, und wer könnte es sich eher leisten, als Architekten einen der weltweit angesehensten Künstler der Gegenwart zu engagieren?
Elíasson, seit Jahren mit Ehrungen, zuletzt dem japanischen Praemium Imperiale, nachgerade überhäuft, hat sich einer Bauaufgabe, die sonst regelmäßig in trostlose Beton-Glas-Stahl-Ödnis mündet, betont skulptural angenähert: mit einem aus bunten Lehmziegeln gefügten Objekt, das erst auf den zweiten Blick ahnen lässt, tatsächlich einem Zweck zu dienen außer jenem aller Kunst, nämlich dem, schlicht da zu sein. Und dass sich hinter der Selbstverständlichkeit, mit der es seine Besucher empfängt, als sei es nicht geschaffen worden, vielmehr gleichsam auf natürlichem Weg aus dem Meer gewachsen, in Wahrheit Technologie auf der Höhe der Zeit verbirgt, Fotovoltaik und natürliche Klimatisierung inklusive, vermag da gar nicht mehr zu überraschen.
Elíassons „Fjordenhus“ ist kein Ausnahmefall: Von Nord- bis Ostsee, vom Skagerrak bis zur Flensburger Förde verlassen sich dänische Städte nicht mehr auf große Zeugnisse der Vergangenheit, wenn es um bauliche Selbstdarstellung geht. Was anderweitig häufig als Anfang vom Ende aller Stadtbildschönheit gefürchtet ist, zeitgenössische Architektur nämlich, hier wird es Ereignis, das bis hinein in die Reiseführerliteratur gleichberechtigt neben dem Denkmalgeschützt-Kanonisierten steht. Seite an Seite gewissermaßen, fallweise durchaus wortwörtlich.
Nehmen wir das Beispiel Helsingör: Kein Zweifel, an den Nordostzipfel der Insel Seeland begibt sich vor allem, wer auf den Spuren von Prinz Hamlet Schloss Kronborg seine Reverenz erweisen will. Dass freilich heute zumindest architektonisch rein gar nichts faul ist im Staate Dänemark, erfahren Besucher schon auf dem Weg dahin: Da öffnet sich vor ihnen das Trockendock einer ehemaligen Schiffswerft, in dem sich seit 2014 das dänische Seefahrtsmuseum eingebaut findet. Genauer gesagt: Architekt Bjarke Ingels hat es rund um das Trockendock ins Erdreich eingraben lassen, das Trockendock seinerseits blieb bis auf Erschließungs- und Verbindungsgänge unberührt: als größtes Schaustück des Museums, dem es Heimstatt ist. Ein raffinierter Kniff, der nicht zuletzt dem Projekt international große Aufmerksamkeit und viele Auszeichnungen verschaffte.
Dass Ingels seine Bauten nicht immer so zurückhaltend, dafür aber verlässlich spektakulär und selbstbewusst platziert, signalisiert nicht allein das Kürzel seines Büros, BIG (für Bjarke Ingels Group), sondern auch ein Portfolio, das immer wieder überraschende Interpretationen überkommener Bauaufgaben enthält: etwa eine Müllverbrennungsanlage für seine Heimatstadt, Kopenhagen, die nicht nur Fernwärme produziert, sondern zugleich auch Entertainment – das Dach trägt eine ganzjährig nutzbare Kunstschneepiste. Und wer wäre bei so viel Lust am Spielerischen besser geeignet, der Lego Group einen neuen Erlebnisraum am Unternehmenssitz, dem kleinen Städtchen Billund, zu errichten? Eben. 2017 stand es fertig da, das neue Lego House – als habe Klein-Bjarke wieder einmal seine Bausteine hervorgeholt, nur mit ein bisserl mehr Know-how in Sachen Organisationsdesign und Publikumsführung.
Und apropos Kopenhagen: Auch die dänische Kapitale hat, wenig überraschend, sehr viel mehr zu bieten als erhabene Zeugnisse einer nicht immer erhabenen Vergangenheit, die einer Kolonialmacht a.D. Da wäre einmal die Heimstatt des Dänischen Architekturzentrums, das Ende der 1990er aus schwarzen Glaskuben gestapelte Projekt „Blox“; ein paar Schritte weiter die Kopenhagener Waterfront entlang der „Schwarze Diamant“, formidabler Erweiterungsbau der Königlichen Bibliothek; jüngst die verquer-stachelige Neuinterpretation des Themas Hochhaus, „Kaktus Towers“ genannt, abermals ein Entwurf von Bjarke Ingels, und, und, und. Wen kann es da wundern, dass die Unesco Dänemarks Kapitale 2023 als „Welthauptstadt der Architektur“ erwählt hat?
Gewiss, derlei Titelvergaben haben nicht immer gar viel zu bedeuten. Andererseits: Dass Ingels mit seinem „Kaktus Towers“-Pendant für den Nordsee-Hafen Esbjerg, den „Esbjerg Towers“, nur kurz nach ihrer Errichtung den Sprung in die Modellwelt von Legoland geschafft hat, erzählt einiges über die Popularität, die zeitgenössische Architektur in Dänemark genießt. Ein Besuch zeigt, warum.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, 14. Dezember 2023