Karl May schreibt nicht, er schwadroniert auf Papier, ein Geschichtenerzähler, der sich der Schrift nur bedient, um seine sprudelnde Suada ans Publikum zu bringen. Wenn sich Fakten und Fiktion untrennbar verknäueln: Anmerkungen zum Karl-May-Jahr.
November 1874. In der „Deutschen Novellen-Flora“, einer „Sammlung der neuesten, fesselndsten Romane und Novellen unserer beliebtesten Volksschriftsteller der Gegenwart“, erscheint „Die Rose von Ernstthal“ – die erste Erzählung, die Karl May veröffentlicht. Vermutlich die erste. Möglicherweise auch nur die erste, die unter seinem Namen gedruckt wird. Oder nicht einmal das. Auf so unsicherem Terrain fügt ein weiser Biograf wie Helmut Schmiedt („Karl May oder Die Macht der Phantasie“) ein „nach heutigem Erkenntnisstand“ bei. Vielleicht hat dieser May ja schon früher unter eigenem, vielleicht unter anderem Namen, vielleicht, vielleicht, vielleicht . . .
Erstaunlich, wie viel Unsicherheit da einer selbst unter gestandenen Literaturwissenschaftlern verbreitet, dessen Schaffen längst in der Kategorie „abgeschlossenes Sammelgebiet“ einzuordnen sein sollte: am 25. Februar vor 170 Jahren geboren, am 30. März vor 100 Jahren gestorben – und mittlerweile unter einem massigen Sekundärliteraturapparat begraben. Es gebe kein Werk eines deutschen Autors, schreibt der May-Werk-Kenner Gert Ueding („Utopisches Grenzland: Über Karl May“), „das wissenschaftlich so eingehend, detailliert und vielfältig untersucht und gedeutet wurde wie das Karl Mays“ – zumindest „kein Werk eines vergleichbaren deutschen Autors“. Vergleichbar? Wer bitte, Herr Ueding, sollte mit Karl May vergleichbar sein? Da braucht man gar nicht auf die 100 Millionen Bücher Gesamtauflage allein in deutscher Sprache zu verweisen, die der Karl-May-Verlag in diesen May-Feiertagen in fetten Lettern annonciert. Wo wäre auch nur ein zweiter deutscher Autor, der sich, gleichsam direkt aus dem Kriminal kommend, Wohlstand, Ruhm und gesellschaftliche Anerkennung bis hinauf ins Wiener Kaiserhaus erschrieben hätte? Welcher zweite hätte so rückhaltlos die Welt seiner Schriften gegen die tatsächliche Welt getauscht, dass er alsbald die eine für die andere hielt?
Ohne jede eigene Anschauung hat er den Orient so konzis gefasst, dass noch 100 Jahre später der gebürtige Syrer Rafik Schami meint, Karl May habe „den Orient im Hirn und Herzen mehr verstanden als ein Heer heutiger Journalisten“. Andererseits: Was wäre unser Wilder Westen ohne die vielen „Uffs“ und „Howghs“, ohne kühne „Westmänner“, „Greenhorns“ und eine Erlöserfigur im Apachenkleid, die allesamt am eigentlichen Ort der Handlung überhaupt nie oder jedenfalls niemals so vorzufinden waren? Zum einen versteht es May geschickt, das nur aus ganz oder halb- oder gar nicht wissenschaftlicher Literatur Erlesene zu einem schlüssigen Ganzen zu fügen, das er zum anderen mit viel bloß Imaginiertem erst zum prallen Leben erweckt.
Die Macht der Vorstellung macht dabei keineswegs vor der eigenen Person halt. Über Jahre, ja Jahrzehnte schafft es ein zsammpicktes Zniachtl von nicht einmal 1,70 Meter Körpergröße, Hundert- und Tausendschaften bei öffentlichen Auftritten davon zu überzeugen, es höchstselbst habe als Old Shatterhand respektive Kara Ben Nemsi all die wahnwitzig gefährlichen Abenteuer bestanden, die es sich in seinen Reiseerzählungen zusammenspintisierte. Dafür reicht nicht Verstellung, dazu braucht es die innere Gewissheit, der zu sein, der man zu sein vorgibt.
Erst die – späte – Begegnung mit den Wirklichkeiten jener Ferne, die ihm an seinem Schreibtisch näher als das Allernächste ist, macht ihm das Illusionäre seiner Existenz kenntlich. 1898/99 reist May in den Orient. Die Enttäuschung kann nicht ausbleiben. „Der sächsische Reisenovize“, zitiert Joachim Heimannsberg („Karl May auf Reisen“), „empfand ,das Leben des Orients so inhaltslos, so oberflächlich, schmutzig und lärmvoll‘“, wie er es, aus höchsten Höhen der Imagination kommend, empfinden musste. Der „frühere Karl“, berichtet May nach Hause, „ist mit großer Ceremonie von mir in das rothe Meer versenkt worden, mit Schiffssteinkohlen, die ihn auf den Grund gezogen haben“. Ein beklemmendes Dokument der Ernüchterung (nachzulesen bei Hans-Dieter Steinmetz, „365 Tage Karl May“).
Als May schließlich, 1908, auch das Sehnsuchtsland Amerika erreicht, findet er abermals nichts von dem, was er bei seinen jahrelangen Reisen im Kopf vor sich sah. Eine Fotografie im Reservat der Tuscarora ist überliefert: „Der Alte lugt hinter einem Tipi hervor, neben ihm ein vermutlich gleichaltriger Indianer mit Hut und Hosenträgern und zwei schmuddelige Kinder“, berichtet Rüdiger Schaper („Karl May. Untertan, Hochstapler, Übermensch“). Und: „Keine Spur von Winnetou.“ Das Spiel, das für May zu keiner Zeit ein Spiel war, ist aus.
Einer zu sein, der man in Wirklichkeit nicht ist, in Wirklichkeit ein ganz anderer zu sein als der, für den man gehalten wird: Karl Mays Selbstentwurf ist gleichsam vom ersten Tag an ein Vexierbild. Erst treibt es den Junglehrer aus bescheidensten Verhältnissen in kriminelle Scharaden zwischen Hochstapelei und herzhaftem Betrug, die ihm insgesamt fast acht Jahre Arrest eintragen. Dann sublimiert sich dasselbe Movens in einem Schaffen, das Fiktion und Fakten untrennbar verknäuelt. Und was sonst wäre auch zu erwarten, liefert er doch über Jahre einen Text-Output jenseits jeder Nachvollziehbarkeit. Allein das Jahr 1889 steht mit 3770 Manuskriptseiten zu Buch – im Durchschnitt mehr als zehn Manuskriptseiten täglich. Wo, wenn nicht in seinen Erzählungen, sollte er da zu Hause sein?
Merkwürdig genug: In Wahrheit ist es ein Zuhause jenseits des Schriftlichen. Karl May schreibt nicht, er schwadroniert auf Papier, May ist kein Schriftsteller, er ist ein Geschichtenerzähler, der sich des Papiers nur bedient, um seine sprudelnde Suada ans Publikum zu bringen (und nicht zuletzt um sie ökonomisch verwerten zu können). Gut möglich, dass die Publikationsform der Anfangsjahre, der Zeitschriftenroman in Fortsetzungen, mit ihrem enormen Produktionsdruck gar kein anderes Procedere erlaubt hätte. Aber auch als er sich endgültig von vielen Jahren prallster Kolportage verabschiedet, die anrüchige Arbeit für anrüchige Verleger und ihre nicht weniger anrüchigen Journale gegen die nobilitierte zwischen Buchdeckeln tauscht, ist ihm das Fortspinnen von Handlungsfäden wichtiger als die Unterwerfung unter einen geschlossenen Handlungsbogen. Kein Wunder, dass Gert Ueding „Mays Werk mehr der ars rhetorica denn der ars poetica“ zurechnet.
Mays Leben dagegen schnurrt so dramaturgisch routiniert ab, als wär’s ein Stück aus Hollywood. Dem hart erkämpften Aufstieg des Helden aus dem Kleinhäuslertum eines sächsischen Dörfchens namens Ernstthal in die lichtesten Höhen allgemeiner Anerkennung (und in eine respektable Villa zu Radebeul nächst Dresden) folgt der tiefe Fall: Aufdeckung der jugendlichen Verbrecherkarriere, öffentliche Bloßstellung als Doch-nicht-Old-Shatterhand und Doch-nicht-Kara-Ben-Nemsi. Auch das Happy End fehlt nicht: May, gesundheitlich geschwächt, reist im März 1912 nach Wien, erlebt hier einen letzten Triumph als Vortragender in den Sophiensälen, kehrt nach Radebeul zurück und stirbt wenige Tage später, Worte auf den Lippen, die nur übelste Kitschisten in ein Drehbuch zu zwängen wagten: „Sieg! Großer Sieg!“ Abspann.
Zugegeben: Der finale „Große Sieg!“ ist einzig durch Mays Witwe überliefert, und klug ist, wer solcher Quelle nicht vorbehaltlos traut. Alles anderes freilich hat sich wahrhaftig so zugetragen. Das Leben des Kolportagisten: ein Kolportageroman.
Die Nachwelt findet in Karl May genau das, was sie jeweiliger Befindlichkeit folgend sucht. Bertha von Suttner den geistesverwandten Friedensstreiter, Arno Schmidt den „bisher letzten Großmystiker unserer Literatur“, Klaus Mann wiederum „Hitlers literarischen Mentor“. Tatsächlich steht auf Hitlers Berghof-Bücherbord einem zeitgenössischen Bericht zufolge nebst „Büchern über die Zucht des Schäferhundes“ auch „eine ganze Reihe Bände von Karl May“. Zeitgleich allerdings fordert ein ums völkische Seelenheil besorgter Volksschullehrer, „dass die Jugendliteratur endlich auch von Karl May gereinigt werde“. May sei „Verfechter einer weitgehenden Rassenmischung“ und „Verteidiger eines verwaschenen Pazifismus gewesen“. Wenn das der Führer gewusst hätte.
Jedenfalls: Wer lang genug forscht, wird Unterschiedlichstes auf den unzähligen Seiten dieses Riesenwerks belegen können – wie auch das Gegenteil davon. Warum, weiß Helmut Schmiedt: May sei „nicht mit tiefster, unverrückbarer Überzeugung auf bestimmte weltanschauliche Positionen festgelegt“, sondern konzipiere „seine Unternehmungen aus einiger Distanz und unter wechselnden Perspektiven“. Es gehe ihm halt immer um die „Wirkungsabsicht“, assistiert Gert Ueding. Da kann es dann schon vorkommen, dass Winnetou, nachmalig ein Muster mildtätiger Vergebung, in einer frühen Erzählung noch munter skalpieren und metzeln darf, dass Fleischfetzen und Haarbüschel seitenweise durch den Text fliegen („Im fernen Westen“, kürzlich neu aufgelegt).
Wen kümmert’s? Es kümmert nicht jenen ominösen Karl Hohenthal, der sich darangemacht hat, die Karl-May-Saga – „Nur einmal noch, ein einziges Mal!“ – fortzuschreiben (und weil Herr Hohenthal, recte Franz Xaver Kroetz, sehr genau weiß, was er da tut, liegt mit „Hadschi Halef Omar im Wilden Westen“ jetzt der vielleicht mayste May aller Zeiten vor uns). Und es kümmert auch sonst niemanden, der stunden-, tage-, nächtelang Feinde beschlichen, Freunde befreit, Hilflose gerettet hat, ohne je das Bett, den Sessel, das eigene Zimmer zu verlassen. Frederic Morton erinnert sich: „Als ich 1939 in Wien meinen Koffer packte, legte ich meine Karl-May-Bände hinein als Andenken an eine Heimat, zu der kein Weg zurückführte. Noch heute schlage ich mit Freuden einen May-Band auf. Ich bin in den Händen eines Meisters seines Faches. Er wird mich nicht bereichern durch tiefschürfende Erkenntnisse, aber durch ein paar heilkräftige packende Szenen beglücken. Ein paar jungenhafte Minuten lang glaube ich wieder daran, dass das Leben kein Trauerspiel ist, sondern ein Abenteuer.“ Wer von uns sollte darauf freiwillig verzichten?
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 25. Februar 2012