Ruhrgebiet. Wie das schon klingt. Der Pott. Das Revier. Qualmende Schlote. Dröhnende Hämmer. Freilich: Die Wirklichkeit sieht längst anders aus. „Ruhr.2010“: Besuch in der EU-Kulturhauptstadt.
Wenn das der alte Generalfeldmarschall wüsste. „Moltkestraße.“ Wie das schon klingt. Ein preußischer Feldherr, dem Deutschland ein Gutteil seiner Reichseinigung (und Österreich sein Königgrätz) verdankt. Und dann diese Straßenbahnansage vom Band: „Moltkestraße.“ Gesprochen von anonymer Frauenstimme, gehört aus knackenden Lautsprechern zwischen Fahrscheinentwertern, Notbremsen und dem sonstigen Allerwelts-Charme öffentlicher Verkehrsmittlerei, der so gar nicht zu dem ziemlich aufgeweckten Tonfall der Ansagerin passt. Im „Moltke“ mit einer Ahnung von Koketterie, die dann in der „Straße“ fast ins Laszive kippt. Eine „Moltkestraße“ mit verführerischem Augenaufschlag, wie ein geheimnisreiches Versprechen, das naturgemäß nicht eingelöst werden kann, schon gar nicht hier, mitten in einem Straßenbahnzug der Essener Verkehrs-AG.
Doch diese „Moltkestraße“ ist kein Ansage-Einzelfall: Was andernorts – so auch in Wien – seelenlos neutral an unseren Ohren vorbeirauscht, Haltestelle für Haltestelle verkündend, hier scheint es schierer Ausdruck einer Lebendigkeit, die man nirgendwo weniger denn an diesem Ort und unter solchen Umständen erwartet. Und das in einer Stadt, in einer Region, der nicht gerade der Ruf von sonderlichem Frohsinn vorangeht, gar nicht zu reden von womöglich libidinösen Anfechtungen.
Essen, Ruhrgebiet. Wie das schon klingt. Der Pott. Das Revier. Da sieht man Schlote qualmen, grellgelben Stahl fließen, hört Schmiedehämmer dröhnen. So weit die Vorstellungswelt, der Pott im Kopf. Immer noch. Auch wenn die Tage der Schwerindustrie Jahrzehnte zurückliegen. Ja, in Wahrheit wuchs der stählerne Mythos, gegossen aus Namen wie Krupp und Thyssen und Mannesmann, bloß aus einer Episode der Geschichte – zugegeben: einer ziemlich nachhaltig wirksamen Episode. Gerade einmal rund 150 Jahre währte das Regime von Steinkohle und Eisenerzverhüttung über eine Region, die sich davor schlicht ländlich-sittlich gab – und heute einem weltläufigen Image entgegenstrebt.
Von der „Metropole Ruhr“ hört man denn immer öfter raunen: fünf Millionen Einwohner stark, viereinhalbtausend Quadratkilometer groß, einem der mächtigsten Ballungsräume Europas, und das nach wie vor auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Sicher: Von den knapp 150 Zechen, die noch Ende der 1950er-Jahre Steinkohle förderten, sind nur mehr fünf geblieben, rund eine halbe Million Arbeitsplätze ging der Region binnen weniger Jahrzehnte im Bergbau verloren. Und wer nach Hochöfen sucht, muss schon genau nachforschen, um die letzten ihrer Art ausfindig zu machen – in Duisburg und Dortmund übrigens. An die Stelle einer zum Himmel stinkenden Produktivität ist längst die klinisch saubere Effizienz von Hightech und Dienstleistungen, von Technologie- und Gründerzentren, von Universitäten und zahllosen anderen Forschungseinrichtungen getreten.
Eines freilich lässt sich nicht leugnen: Unter den Gelsenkirchnern und Bochumern, den Mühlheimern, den Oberhausenern und all den anderen „Ruhris“ sind noch immer zwölf Prozent arbeitslos, und die wird auch nicht trösten können, dass sie ihr Übermaß an freier Zeit, nach langen Jahrzehnten voller Arbeit, aber auch voll Gestank und Umweltdreck, jetzt bei reinster Luft in ungetrübtem Sonnenlicht totschlagen dürfen. Doch wie viel zählt ihre Sorge, wo über allem die Erleichterung schwebt, dass es nicht noch viel schlimmer gekommen ist. Schon gar in diesen Tagen, im EU-Kulturhauptstadtjahr, das heuer erstmals nicht nur Einzelstädten (Pécs, Istanbul), sondern eben auch einer ganzen Region gilt: „Ruhr.2010“ – so kapital, wie keine Kapitale wäre. Kulturhauptstadt? Von wegen. Kulturweltmetropole, mindestens!
In ihrem Mittelpunkt, was sonst?, ein Stück „Weltkulturerbe“: die Zeche Zollverein. Und auch wer nicht allzu viel von den Segnungen der allmächtigen Unesco-Weltmaschine hält, die Land und Leute immer schneller und immer dichter mit ihren Welterbe-Etiketten zuklebt, hier wird er konzedieren müssen: Nichts weniger als ein Stück Welt, ein Stück Kultur, ja ein Stück Weltkultur, wohl wert, es zu vererben, erhebt sich da zwischen Abraumhalden aus dem nordöstlichen Eck von Essen. Ein Stück Welt der Industrie von gestern, die als ein Stück Kultur von heute in einem Morgen weiterleben soll.
55 Meter hoch stemmt sich das Fördergerüst in die Höhe, 12.000 Tonnen Fettkohle förderte es in seiner besten Zeit aus 1000 Metern Tiefe ans Licht, Tag für Tag. 12.000 Tonnen, die dann über Förderbänder in die Kohlenwäsche liefen, zentraler Reinigungs- und Sortierungsort. Nur fünf Jahre, von 1927 bis 1932, brauchte es, um die 20 Hallen, verbunden durch 670 Meter Bandbrücken, zu errichten, entworfen von den Industrieanlagen-Spezialisten Fritz Schupp und Martin Kremmer. Nur wenig mehr als jene 50 Jahre, für die sie von vornherein ausgelegt waren, mussten die Stahlfachwerke tatsächlich durchhalten: Am 23. Dezember 1986 wurden alle Förderanlagen der Zeche Zollverein stillgelegt. Es kann kein fröhliches Weihnachtsfest in Essen und Umgebung gewesen sein.
Heute stehen die streng neu-sachlichen Kubaturen, statisch aufgefrischt, einfühlsam auf zukünftige Zwecke zugerichtet, mit neuem Sinn gefüllt vor uns: Werkstätten haben sich in Ausstellungshallen und Büros verwandelt, ein vormaliges Kompressorenhaus in einen Restaurantbetrieb der gehobenen Kategorie, in der monumentalen Kohlenwäsche sind Besucherzentrum und Ruhrmuseum eingezogen, haben ihr Mobiliar, eine Cafeteria, Ausstellungsstücke zwischen alte Eisenteile, in vormalige Kohlenbunker, unter Sortiertrommeln gezwängt. Denn: Wo Maschinen waren, blieben Maschinen drin.
Das Vergangene rückt so nie aus dem Blick und drängt sich doch nie vor die Gegenwart, die Geschichte lebt, indem das Movens einer frischen Idee sie gleichzeitig hinter sich lässt. Hier tritt nicht das eine an die Stelle eines ganz anderen, hier wird nichts schön oder schauerlich gefärbt. Die Zeche Zollverein ist eben kein „Versailles der Ruhrbarone“, wie da und dort formuliert, festgezurrt an einem fixen Platz der Geschichte, sie ist Labor der Gegenwart. Erhaltung und Unesco-Schutz behindern nicht, wie sonst so oft, Veränderung und Wandel, sie treiben sie voran. Wo anders ließe sich etwa eine zeitgemäßere Präsentation aktuellen Produktdesigns – von der Badewanne bis zum Staubsauger – denken als in den schwarzen Stahleingeweiden des vormaligen Kesselhauses, das uns jetzt als futuristisches „Red Dot Design Museum“ entgegentritt?
Kein Wunder, dass sich an Wochenenden lange Schlangen bilden vor der knallorange ausgefütterten Gangway, die ins Kulturhauptstadtallerheiligste führt, das Besucherzentrum in der Kohlenwäsche, gut 24 Meter über Grund. Kein Wunder, dass das Ruhrmuseum, nur so zum Beispiel, dieser Tage, keine drei Monate nach seiner Eröffnung, schon den 100.000. Besucher begrüßen konnte. 100.000 Besucher, die sich auf die lustvolle Reise in die Vorzeit der Region und wieder zurück über die stählernen Jahre bis in eine Gegenwart vielfältigster Transformationen begeben haben, für die genau die Zeche Zollverein selbst in ihrer heutigen Gestalt womöglich sinnfälligstes Symbol ist.
Dass für diese heutige Gestalt gerade nicht irgendein von weither eingeflogenes Starensemble, sondern zwei im Lokalen verankerte Architekten, Heinrich Böll und Hans Krabel, im Kern verantwortlich zeichnen, spricht für sich und für ein Konzept, das auf das Wissen um örtliche und zwischenmenschliche Befindlichkeiten setzt. Dass Böll und Krabel wiederum erste Erfahrungen mit der Instandsetzung und Neunutzung alten Industriegemäuers ausgerechnet im Zusammenhang mit einer Hausbesetzung durch autonome Gruppen sammelten, muss jenen zu denken geben, die „Autonome“ vor allem mit Chaos und Zerstörung in Verbindung bringen. Die damals, in den frühen Achtzigern, vor der Abrissbirne gerettete Zeche Carl übrigens, im Essener Vorort Altenessen gelegen, besteht bis heute: als nicht mehr ganz so alternatives, aber doch noch rühriges Kulturzentrum.
Selbstredend lässt es auch „Ruhr.2010“ nicht an großen Architektennamen fehlen: Die Rotterdamer Gruppe OMA sowie Foster & Partners haben Böll und Krabel assistiert, das jüngst Pritzker-gepriesene Duo Sanaa hat einen markanten Ausstellungswürfel neben das Zollvereinsgelände gebeamt, David Chipperfield das Essener Folkwang-Museum so sehr erweitert, dass die neuen Räume noch immer blank und leer, bar jeder Bildkunst, zu bewundern sind. Und dann sind da noch im Ruhrgebiet: 120 Theater, riesige Fußballarenen, drei davon mit Bundesligastatus, der größte Filmpalast Deutschlands, die Lichtburg in Essen mit 1250 Plätzen, das größte Bergbaumuseum der Welt, jenes in Bochum nämlich, und, und, und.
Und mittendrin Goran, der in der Essener Innenstadt kellnert und von einem Abend in Wien träumt, weil er da einmal so viele Leute auf der Straße gesehen hat: „Das war so lebendig.“ Geboren ist er im Sauerland, erzählt er, aufgewachsen bei seinen Großeltern in Mostar, vor dem Geschick, als Serbe in den Jugoslawienkrieg ziehen zu müssen, hat ihn die deutsche Staatsbürgerschaft bewahrt. Nein, nein, er ist schon zufrieden in Deutschland, nur: „Schauen Sie da hinaus, es wird Abend – und niemand ist mehr zu sehen.“ Stimmt. Andererseits: Was sonst wäre schon zu erwarten an einem der kalten Abende dieses Frühfrühlings?
Dennoch, so recht ins ruhrgebietliche Nachtleben scheint sich der junge metropolitane Impetus noch nicht fortgeschrieben zu haben, da gehorcht alles noch den biederen Regeln der Mittelstädterei. Wird sich auch ändern. Wie die Abraumhalden, die zu blühenden Gärten wurden, die Industriebrachen, die sich in Museen, Kulturzentren und Hoffnungsgebiete neuen Wirtschaftens wandelten.
Die Bergmannsschuhe jedenfalls, die hat man ausgezogen. Zu Dutzenden hängen sie über den Besuchern, die ins Foyer des Bochumer Bergbaumuseums treten. Einst Symbol der Lebensgrundlage von Millionen, heute nur mehr Museumsinventar. Das Ruhrgebiet trägt längst anderes Schuhwerk: das der Freizeit- und Dienstleistungsgesellschaft. Lässig oder elegant, leicht jedenfalls. Das freilich trägt man bald wo auf der Welt. Der schauerliche Ruf vom Kohlenpott hat sich überlebt, so weit, so gut. Und jetzt? Was jetzt? „Ruhr.2010“ sucht eine Antwort. Die Zukunft wird sie geben.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 10. April 2010