Gipis „Eine Geschichte“: Kein Krieg endet mit dem Frieden

Wie Kriegstraumata über Generationen fortwirken, erzählt die Graphic Novel »Eine Geschichte«. Ein Kunstwerk ohnegleichen.

Am 16. Oktober 1916 veröffentlicht die „Illustrierte Kronen- Zeitung“ eines jener grausig- patriotischen Gedichte aus dem Schützengraben, wie sie Karl Kraus in seinen „Letzten Tagen der Menschheit“ dokumentiert hat: „Die Schießerei ist bald zu End‘, / Denn kommen ja die Feinde g’rennt, / Wir sagen ihnen den Willkommensgruß, / Mit Pulver, Blei, ein Schuss, ein Russ.“ Als stolzer Verfasser genannt: „Zgsf. Leander Freitag“. Derselbe Leander Freitag, über dessen weiteres Schicksal ein Laurenz Freitag drei Jahre später, im Dezember 1919, in nämlichem Blatt von Kriegsheimkehrern Nachricht erhofft. Er wird sie nie erhalten. Leander, sein Bruder, wird verschollen bleiben. Letzte Anschrift: ein Feldspital im Irgendwo.

Seither sind mehr als 100 Jahre vergangen, und dennoch: Diese kurze Episode meiner Familiengeschichte, auf die ich kürzlich stieß, hat mich länger beschäftigt, als mir lieb sein mochte. Wie mich bis heute der eine Satz beschäftigt, in den mein Vater seine Weltkrieg-Zwei-Erfahrungen fasste: Alt geworden sei er in zwei Jahren, jener Zeit, in denen der noch nicht Zwanzigjährige der Wehrmacht dienen musste. Sie haben ihn die folgenden 65 Jahre begleitet – bis ins Sterbebett, bis in die Angstattacken seiner letzten Träume.

Nein, kein Krieg ist am Tag des Friedensschlusses zu Ende, in den Köpfen, in den Herzen wirken seine Schrecken fort. Und mögen auch Wunden, seien sie der Seele, seien sie dem Körper geschlagen, irgendwann verheilen, nichts wird wieder, wie es davor gewesen.

Die Wucht, mit der Kriegserfahrung, Generationen überspannend, das Bewusstsein Nachgeborener durchdringen kann, nimmt der italienische Zeichner Gipi zum Ausgangspunkt einer Graphic Novel, hinter deren unscheinbarem Titel sich eines der vielschichtigsten Comic-Kunstwerke der Gegenwart verbirgt: „Eine Geschichte“ ist sie benannt, und so wenig das aufs Erste besagen mag, so viel bedeutet es; denn diese eine Geschichte, die des fiktiven Schriftstellers Silvano Landi, besteht ihrerseits aus vielen Geschichten, die sich wechselseitig bedingen, verändern auf ihrem Weg, sich zu dieser einen, dieser individuellen Geschichte zu fügen.

Da ist einmal die Geschichte einer existenziellen Krise, in die Landi wie viele andere 50-Jährige stürzt, auf der Flucht vor den Folgen täglich deutlicher spürbarer Alterung; dann die Geschichte seiner gescheiterten Beziehung zu Frau und Kind; dann die Geschichte seiner Psychiatrierung, die ihm widerfährt, weil er über all dem den Boden unter den Füßen verliert. Und schließlich, quasi als Katalysator des Geschehens, die Geschichte seines Urgroßvaters, dokumentiert in Briefen von der Front des Ersten Weltkriegs, deren Inhalt von Landi immer mehr Besitz ergreift, bis in eine Besessenheit, in der eigene und erzählte Realität ineinanderfließen.

So besonders dieses Geflecht äußerer wie innerer Bedingnisse im Konkreten daherkommen mag, so allgemeingültig ist es. Jede und jeder kennt dieses Amalgam tatsächlicher wie vermeintlicher Beweggründe, die uns antreiben, jede und jeder weiß, wie Erfahrenes, Vermutetes oder bloß Vorgestelltes all unsere Handlungen und Entscheidungen bestimmen. Und so wird jede und jeder von uns sich ein Stück weit in Silvano Landi wiederfinden.

Es braucht auch nicht viel Fantasie, in diesem fiktiven Silvano Landi ein wenig realen Gipi zu vermuten: Als Gian Alfonso Pacinotti 1963 in Pisa geboren, teilte er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des italienischen Originals,  „Una storia“, 2013, gewiss nicht zufällig exakt das Alter mit seinem Protagonisten. Damit mag’s in Sachen Gemeinsamkeiten zwischen Schöpfer und Geschöpftem vorbei sein, andererseits: So lebensnah facettenreich und widersprüchlich uns Herr Landi auf allen Erzählebenen begegnet, fällt es schwer, in ihm eine bloße Kunstfigur zu erkennen.

Fast zu real. Auch die Briefe aus dem Krieg, die Gipi immer wieder Landis Leben und Erleben, seine Erinnerungen und Reflexionen queren lässt, scheinen fast zu real, als dass sie ohne Vorbild entstanden sein könnten: Gewiss, ihr zentrales Motiv, das des unschuldig Schuldigwerdens, scheint im Kontext von Kriegserlebnissen so gut wie allgegenwärtig; die Radikalität freilich, mit der Landis Urgroßvater damit konfrontiert wird, kann in Landis Leben – wie in dem der Leser – gar nicht ohne jene Wirkmächtigkeit bleiben, die man sonst nur tatsächlich Erlebtem zutrauen will.

So komplex das Geflecht der Handlungs- und Denkstränge, so vielfältig die Mittel, sie darzustellen: vom scharfen Schwarz-Weiß-Strich des gegenwärtig Wirklichen bis zum fließend düster Aquarellierten, in dem die Fronterlebnisse des Urgroßvaters zerfließen – allein die Fülle grafischer Ausdrucksformen, die hier aufgeboten ist, hebt Gipis „Geschichte“ in den Rang eines Gesamtkunstwerks ohnegleichen. Eines Gesamtkunstwerks, das sich uns in jedem Wiederlesen neu und stets neu bewegend offenbart.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 8. Mai 2022

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