„Mit Hass würde ich mich nur selbst quälen.“ Das KZ-Außenlager Sankt Aegyd, seine Opfer und sein letzter Überlebender: Rajmund Pajer. Begegnung im niederösterreichischen Voralpin.
In Sankt Aegyd ist alles von allem nur ein paar Schritte entfernt. Nur ein paar Schritte sind es vom Gemeindeamt zum Wirtshaus, nur ein paar Schritte von der Hauptschule zur Trafik, nur ein paar Schritte vom Gemeindearzt zum Friedhof. Und auf diesem Friedhof wiederum sind es nur ein paar Schritte vom Kriegerdenkmal zu einem kleinen, eingeheckten Geviert mit wuchtigem Holzkreuz in der Mitte. „80 unbekannte KZ-ler Kriegsopfer 1940–1945“ sollen hier begraben sein, lässt eine steinerne Tafel vermuten. Und was immer mit dieser sonderbaren Inschrift („KZ-ler Kriegsopfer“?) genau gemeint sein kann – dass sie in Mauthausener Marmor gemeißelt ist, stellt gleich die richtigen Bezüge her: Hier, im schönsten niederösterreichischen Voralpin, hatte das KZ Mauthausen eine seiner 52 mörderischen Dependancen – das KZ-Außenlager Sankt Aegyd.
„Meine Großmutter hat den Ausschlag gegeben, dass ich mich damit zu beschäftigen begonnen hab“, erzählt Christian Rabl. „Die hat mir immer wieder von dem Lager erzählt, gleichzeitig aber immer betont, dass sie alle damals davon nichts gewusst haben.“ Rabl, Jahrgang 1979, ist im Sankt Aegydener Gemeindeteil Kernhof aufgewachsen, und kaum hatte man ihn an der Universität Wien zum Politikwissenschaftler magistriert, begab er sich in seiner unmittelbaren Heimat auf die zeitgeschichtliche Spurensuche.
Sechs Jahre und zwei Publikationen später begleite ich ihn durch die Stätte seiner Kindheit: „Dort, in der Volksschule, war die SS einquartiert“, erzählt er und weist in Richtung Ortsmitte, „und was wir da vor uns sehen, ist heute die Pfarrsiedlung, damals war es Lagerrareal.“ Ein paar Schritte weiter, hinter niedrigen Lattenzäunen, finden sich schmucke Einfamilienhäuser entlang einer asphaltierten Gasse aufgefädelt. „Das war die Lagerstraße, rechts und links standen verschiedene Baracken. Die Bauleitung war da, wo jetzt der Spielplatz ist. Und am Ende der heutigen Siedlung befand sich das sogenannte Schutzhaftlager, mit Umzäunung und Stacheldraht und Wachtürmen.“
Heute künden Thujenhecken und Rosenbeete vom Glück des Eigenheims; damals wurde hier in und hinter und zwischen zwei Häftlingsbaracken gefroren und gehungert, gelitten und gequält, gefoltert, gestorben und gemordet. „Im Vergleich mit anderen Lagern dieses Typus“ habe Sankt Aegyd „wesentlich schlechtere Lebensbedingungen und eine weitaus höhere Sterblichkeit“ aufgewiesen, hält Rabl in seiner Arbeit über das „KZ-Außenlager Sankt Aegyd am Neuwalde“ fest. Und er kann unter anderem auf das Zeugnis eines SS-Arztes verweisen, der nur wenige Wochen, nachdem der erste Häftlingstransport am 2. November 1944 Sankt Aegyd erreicht hatte, mehr als der Hälfte der 300 Häftlinge Arbeitsunfähigkeit attestierte, von den 29 bis dahin „gestorbenen“ gar nicht zu reden. Gewiss, „Vernichtung durch Arbeit“ war im KZ-Konzept durchaus vorgesehen, aber vor lauter Vernichtung gingen der SS gegen Kriegsende die Arbeitskräfte aus. Und irgendwer hätte ja doch noch da sein sollen, all die Wunderdinge zu produzieren, an die sich ein zerbrechendes Regime klammerte in der Hoffnung auf eine Wende zu den eigenen Gunsten, im Falle Sankt Aegyd etwa in der Hoffnung auf einen „Panzer mit Turboantrieb“, der, wie Rabls Forschungen ergaben, hier hätte entwickelt werden sollen.
„Sankt Aegyd war am schlimmsten“, erinnert sich Rajmund Pajer. Ich treffe ihn Wochen nach meiner ersten Begegnung mit Christian Rabl an Ort und Stelle. Wie er neben mir in der Wirtsstube sitzt, strahlt der massige Mann auch mit 82 Jahren noch eine Lebenskraft aus, die nicht nur ungebrochen ist, sondern nachgerade unzerbrechlich scheint. Mit weiten Schwüngen teilen seine Arme die Luft, während er erzählt, und unwillkürlich rücke ich ein Stück zurück, um nicht von seinen schweren Händen getroffen zu werden. Ganz anders der schmächtig hoch aufgeschossene junge Mann, der mir auf einem Foto aus dem Dezember 1945 entgegenblickt; gerade einmal 15 Jahre alt, steht Pajer aufrecht im vormaligen Krematorium der „Risiera“, des KZs seiner Heimatstadt, Triest, und hilft einem Freund bei den Aufräumungsarbeiten.
Rajmund Pajer weiß Bescheid: Die slowenischen Partisanen haben ihn unter ihre Fahne genötigt, da war er 14, wenige Wochen später war er schwer verwundet, wurde von der Wehrmacht gefangen gesetzt und nach Mauthausen verfrachtet, wo er, noch immer erst 14, die Leichen, die auf dem KZ-Gelände lagen, am Morgen einzusammeln hatte oder die Asche aus dem Krematorium zu entfernen. Pajer erinnert sich daran, wie er in Mauthausen den bereits in Totenstarre Verfallenen die Knochen brechen musste, um sie wegschaffen zu können, er erinnert sich an die Leichen im elektrisch geladenen Zaun, Häftlinge, die sich in den Tod gestürzt hatten, um ihren Leiden ein Ende zu setzen. Und er erinnert sich an die fünf Winterwochen in einem beißend kalten Sankt Aegyd, zwischen quälend schmerzenden Erfrierungen und den Schlägen, die grausame Kapos, von der SS mit zynischem Vorbedacht ausgesuchte „Funktionshäftlinge“, wahllos verteilten. Ihre Waffen: derbe Holzprügel oder der „Gummi“, ein schwerer Gummischlauch, der am vorderen Ende mit Blei gefüllt war.
Die Kapos langten zu, „aus purem, sadistischem Vergnügen“, meint Pajer. Die SS brauchte sich jedenfalls erst gar nicht die Finger schmutzig zu machen: Die von ihr aus den Häftlingsreihen rekrutierten Wasserträger erledigten die Dreckarbeit für sie und erfreuten sich im Gegenzug ihrer Gunst, was die Chance, im KZ zu überleben, deutlich zu heben schien. Das System funktionierte für die SS perfekt, bis in die Nachkriegszeit: In den heimischen Prozessen wegen Tötungsdelikten im KZ-Komplex Mauthausen fielen die Urteile gegen „Funktionshäftlinge“ deutlich härter aus als die gegen SS-Aufseher, wiewohl jene im Grunde Opfer, diese die Täter waren. Bezeichnend, dass das einzige in diesem Zusammenhang gefällte Todesurteil einen „Funktionshäftling“ betraf: einen Kapo des KZs Gusen, Johann Ludwig.
Auch Verbrechen im KZ-Außenlager Sankt Aegyd waren Gegenstand von Gerichtsverfahren: SS-Lagerführer Willi Auerswald wurde von einem US-Militärgericht in Dachau 1947 zum Tode verurteilt; doch schon 1948 wurde die Strafe in lebenslange Haft umgewandelt, im April 1955 war für Auerswald dieses „Lebenslang“ zu Ende; SS-Rapportführer Anton Perschl wiederum kam nach zwei Prozessen vor dem Volksgerichtshof Wien mit einer Haftstrafe von sieben Monaten davon, die zudem durch die Untersuchungshaft bereits abgesessen war.
Eine andere Form von Justiz erreichte jenen Kapo, der „Toni der Lahme“ genannt wurde: Nach der Schließung des Lagers von Sankt Aegyd am 1. April 1945 ins KZ Mauthausen retourniert, suchte er in der Masse anderer Häftlinge unterzutauchen und wurde doch, nach der Befreiung, auf dem KZ-Gelände von Sankt Aegydener Mithäftlingen wiedererkannt – und gelyncht. „Schau, da ist Toni, rief ich“, erzählt Rajmund Pajer. „Wir sprangen auf ihn, das war das Ende.“ Und kein Bedauern liegt in seiner Stimme. Es sei denn darüber, nicht auch die beiden anderen Kapos „erwischt“ zu haben, die mit ihren Schindereien unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt sind: „Die waren und blieben verschwunden.“
Seit 1951 lebt Pajer in Kanada. Bereits 1959 allerdings kehrte er ein erstes Mal nach Österreich zurück – für einen Besuch des KZs Mauthausen: „Ich war verblüfft, dass es noch immer genauso aussah. Ich konnte ihn noch riechen, den Geruch der Leichen, die aufgestapelt lagen. Es ist schwierig, diesen Geruch zu beschreiben, den Geruch sich zersetzender Körper. Man schmeckt ihn mehr, als man ihn riecht.“ Sankt Aegyd hat er erst 2007 wiedergesehen: Christian Rabl hatte ihn im Zuge seiner Recherchen kontaktiert. Seither kommt er immer wieder, im Gedenken an die Vergangenheit – wie auch um den heranwachsenden Generationen in der Hauptschule Zeugnis davon abzulegen, was war und wie es war: als mittlerweile Letzter, der aus eigener Anschauung berichten kann.
Wenn er die vormalige Lagerstraße entlanggeht, braucht er nur die Augen zu schließen und sieht sie wieder, „die Türme mit den Maschinengewehren, den Zaun mit dem Stacheldraht“: „Dann öffne ich die Augen und sehe diese schönen Häuser. Es ist schwer zu begreifen.“ Und: „Ja, der Ort, wo ich am meisten gelitten habe, war hier. Aber ich komme gern hierher. Ich hatte nie das Gefühl, ein Opfer zu sein. Ich habe überlebt. Opfer waren vielleicht andere, vielleicht mein Vater, der in Dachau gestorben ist. Ich war am falschen Ort zur falschen Zeit, ich bin Teil einer Geschichte, c’est la vie. Mit Hass würde ich mich ja nur selbst quälen.“
Dass die „KZ-ler Kriegsopfer“ von Sankt Aegyd nicht länger „unbekannt“ sind, wie die Inschrift auf dem Friedhof behauptet, dafür hat Christian Rabl inzwischen gesorgt. Aus den Totenbüchern des KZs Mauthausen hat er 46 Namen von Häftlingen erhoben, die „unter großteils ungeklärten Umständen“, wie Rabl in seiner Studie schreibt, im KZ-Außenlager Sankt Aegyd ums Leben kamen: 32 aus Polen, sieben aus Jugoslawien, je zwei aus Italien und dem Deutschen Reich, je einer aus Ungarn, Belgien und der Sowjetunion. Wer heute den Friedhof von Sankt Aegyd besucht, dem klingen sie entgegen, von „Marian Branski“ bis „Michal Zietarski“, als Klanginstallation dem eingeheckten Geviert samt Kreuz und Mauthausener Marmortafel beigefügt. Die Stimmen dafür hat Rabl in der Pfarrsiedlung gesammelt: „Ich bin von Haus zu Haus gegangen, das erforderte viel Überwindung, aber es hat sich gelohnt: Die Menschen einzubeziehen ist wichtig für das Verständnis und für die Akzeptanz.“
Im Amtssitz des Bürgermeisters weiß man sich mit Rabl einig: „Am Anfang, wie die Anlage drüben gelaufen ist, haben sich viele geschreckt“, erinnert sich Rudolf Pfeffer. „Aber mittlerweile gehört das fast zum Alltag.“ Wie der Gedenkmarsch, der seit den 1980ern üblich ist: „Zu Beginn ist da ein kleines Hauferl mitmarschiert, das waren Aussätzige. Heute ist das ein ganz normaler Teil des Gemeindelebens.“ Nachsatz: „Ich bin aber überzeugt, dass manche noch immer nicht wissen und nicht wissen wollen, um was es da geht.“ Denen freilich ist mit keinem Gedenkmarsch und mit keinem Zeitzeugen beizukommen – weder in Weltmetropolen noch in jenen Orten, wo alles von allem nur ein paar Schritte entfernt ist.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 17. November 2012