Cirque nouveau: Wenn der Beste nicht gut genug ist

Wie der „Cirque nouveau“ an die Salzach kam. Und was es mit dieser jungen Kunstform überhaupt auf sich hat. Jack Lang, die Unersetzlichkeit und ein gelernter Tiefbauer aus Baden bei Wien: Anmerkungen zum zehnten „Winterfest“.


Barcelona hat eine. Lissabon hat eine. San Francisco hat eine. Paris sowieso. Und es müssen nicht gerade vibrierende Weltkulturmetropolen sein, auch eher weniger kunstbetriebsumtoste Örtlichkeiten wie Antananarivo auf Madagaskar oder die albanische Hauptstadt Tirana leisten sich eine professionelle Artistenausbildung. Wien braucht so etwas nicht. Genauso wenig wie das übrige Österreich. Wir haben schließlich (wie in so vielen anderen künstlerischen Disziplinen) auch zirzensisch eine große Vergangenheit (samt kleinem Museum) – das muss genügen. Nörgler mögen einwenden, wo es keine Gegenwart gebe, gebe es auch keine Zukunft. Aber die sind halt, was sie sind: Nörgler eben. Und so werden wir Wiener im kommenden Februar wieder einmal neidisch in die Zirkuskuppel des kanadischen Cirque du Soleil blicken und uns staunend fragen: Wie machen die das nur in Montréal?

Einer, der ziemlich genau weiß, wie die das machen, ist der aus Baden gebürtige Wahlsalzburger Georg Daxner: „Der Cirque du Soleil lebt maßgeblich von der größten Zirkusschule der Welt“ – und die ist so gar nicht zufällig dort beheimatet, wo auch der mittlerweile zum Konzern geschwollene Sonnenzirkus Mitte der Achtziger das Licht der Artistenwelt erblickte: in Montréal eben. Heute beschäftigt der Cirque du Soleil weltweit 4000 Menschen, der Wert des Unternehmens wird auf rund eine Milliarde US-Dollar geschätzt, und Mitbegründer Guy Laliberté rangiert in der aktuellen „Forbes“-Liste der reichsten Reichen auf Platz 374, gleichauf mit einem gewissen William Barron Hilton, Sie wissen schon, der mit den Hotels. Keine schlechte Karriere für einen gelernten Straßenkünstler.

Von den vielfältigen Qualen eines Milliardärdaseins ist Georg Daxner noch einigermaßen entfernt. Aber sein Salzburger Zirkusfestival „Winterfest“ erreichte im Vorjahr immerhin mehr als 23.000 Besucher, das Budget beziffert Daxner selbst mit einer Million Euro, wovon 80 Prozent eingespielt werden. Den Rest schießen zu gleichen Teilen öffentliche Hände von Land und Stadt Salzburg sowie Sponsoren zu. Womit das „Winterfest“ durchaus als regionaler Wirtschaftsfaktor gelten kann – mit einer künstlerisch weit überregionalen Bedeutung: als einziges österreichisches Festival einer noch jungen Kunstbewegung – des Cirque nouveau.

Was bitte ist denn so neu an diesem neuen Zirkus, Herr Daxner? „Die Entwicklung des Cirque nouveau ging von Frankreich aus. In den Siebzigerjahren wurde es immer unpopulärer, Zirkus mit Tieren zu machen. In Frankreich hatte das die Folge, dass die Ressortzuständigkeit vom Landwirtschaftsministerium ins Kulturministerium wechselte.“ Diesem stand Anfang der Achtziger ein gewisser Jack Lang vor, und der hatte (auch das soll es manchmal in der Kulturpolitik gegeben haben) eine Idee. Georg Daxner: „Er hat Zirkus als neue Kunstform begriffen – und viel Geld in die Hand genommen, um entsprechende Ausbildungsstätten und Strukturen zu etablieren.“

Eine neue Kunstform, die weit über den unmittelbar artistischen Bereich hinausgreift: „Der Cirque nouveau ist eine Zusammenführung aller Kunstsparten: Da hat bildende Kunst ihren Platz geradeso wie Tanz, Musik geradeso wie Literatur – und Akrobatik sowieso“, erläutert Daxner.

Und: Wo einst eine mehr oder minder beliebige Aneinanderreihung mehr oder minder atembenehmender Einzelnummern zu erleben war, dominieren im Cirque nouveau theatralische Gesamtkonzepte, mit denen „in aller Regel auch eine Geschichte erzählt“ wird. Bis hin zur Interpretation erhabener Weltliteratur, man denke an Justus Neumanns kürzlich in Wien gezeigter fabulöser Zeltversion des Nibelungenlieds. Für hiesige Verhältnisse signifikant, dass Neumann über das Theater den Weg in die Miniaturarena seines „Circus Elysium“ fand – und dass er seine Inspiration seit Längerem im ziemlich sehr österreichfernen Tasmanien findet.

Dabei, es hätte auch hierzulande schon vergleichsweise früh Gelegenheit gegeben, die Früchte der Cirque-nouveau-Bewegung kennenzulernen. Unter der Ägide von Alf Krauliz nahm sich das niederösterreichische Donaufestival in den Neunzigern regelmäßig der alten Zirkuskunst in ihrem neuen Outfit an, pflanzte etwa die wundersame Symbiose aus Vögeln und Vogelmenschen, „Volière Dromesko“ genannt, auf eine Wiese bei Hainburg, ließ die drei Körper des „Que-Cir-Que“ durch den Kremser Stadtpark schweben: nicht mehr distanziertes Schaustück, sondern unmittelbares Erlebnis, nicht mehr intellektuelles Konzept, sondern sinnliche Erfahrung einer Welt der ästhetischen Mysterien. Von „Que-Cir-Que“ zu „Que Cirque!“: Welch ein Zirkus!

Die hiesige publizistische Resonanz: bescheiden. Was Wunder in einem Sprachraum, dessen maßgebliches Synonymlexikon, das der Dudenredaktion, dem Begriff Zirkus heute als Sinnverwandtschaft vorzüglich Unerfreulichkeiten zwischen „Ärger“, „Pallawatsch“, „Tamtam“ und „Zicken“ avisiert. Da hilft auch das sonst so wirkkräftige Attribut „neu“ nicht viel. Und mit dem Anspruch, alle Kunstsparten zu übergreifen, verhakt sich der Cirque nouveau vollends in den Hecken heimischer Feuilleton- und Bürokratie-Schrebergärten: Ist da jetzt der Kollege vom Tanz zuständig, die Kollegin vom Theater, die Bildende-Kunst-Referentin – oder doch der Herr von der Musik? Kaum vorzustellen, welche Schlangenmenschenverrenkungen es bräuchte, zwischen all diesen Stühlen nicht durchzufallen.

Bezeichnend, in welchem Ressort kürzlich ORF Online die Meldung von der anstehenden Wiederkehr des Cirque du Soleil ablegte: nicht unter „Kultur“, nein, unter „Lifestyle“. Und unter „Lifestyle“ ist dann naturgemäß kein Platz für Widerspruch, Zweifel, Kritik, weshalb die Entertainment-Maschine made in Canada weiterhin als zirzensisches Non plus ultra durch die Welt touren darf, wiewohl sie mittlerweile von ihren ursprünglichen künstlerischen Ansprüchen genauso weit entfernt sein mag wie der sonstige Cirque nouveau vom Dutzendzirkus-Elend der Provinz.

Auch Georg Daxner sieht markante Unterschiedlichkeiten zwischen den Produktionen seines „Winterfests“ und jenen des kanadischen Marktführers: „Der Cirque du Soleil präsentiert eine Show, und das Wesentlichste dabei ist: Wenn etwas passiert, darf das Publikum nichts merken. Jeder Auftritt ist gedoubelt, wenn sich jemand das Gnack bricht, dann muss sofort Ersatz da sein, the show must go on. Bei sehr vielen Gruppen, die ich beim ,Winterfest‘ zeige, bedeutet ein Unfall das Aus. So einmalig sind diese Gruppen und ihre Akteure.“ Allerdings, die Einzigartigkeit hat ihren Preis: Heuer hat Daxner schon eine verletzungsbedingt Absage zu beklagen, aber: „Diese Facette ist auch wichtig, diese Unersetzlichkeit. Weil es hier eben nicht um die größte körperliche Leistung, sondern um die größte künstlerische Leistung geht.“

Hierin liege auch der Unterschied zum Sport: „Beim Sport wird man dazu ausgebildet, weiter zu springen oder schneller zu rennen, jedenfalls besser zu sein als die Kolleginnen und Kollegen. Im Zirkus muss man nicht besser sein als die anderen, die Lehrer versuchen vielmehr, aus jedem Einzelnen das Beste herauszuholen. Und da kann dann ein kleiner, dicker Seiltänzer wesentlich mehr Furore machen als ein körperlich athletischer, der noch so Überragendes vollbringt.“

Seine eigene Initiation in den irrisierenden Kosmos des Cirque nouveau erfuhr der gelernte Tiefbauer mit Salzburger Kulturaktivistenerfahrung erst 1996: beim Donaufestival-Gastspiel von „Que-Cir-Que“: „Das hab ich gesehen und gewusst: Die muss ich nach Salzburg bringen.“ Wofür die Truppe selbst anfänglich gar nicht leicht zu gewinnen war, schließlich stand ihnen in Daxner ein Branchenneuling gegenüber.

Monate der Überzeugungsarbeit – auch bei potenziellen Förderern und Behörden – folgten, im April 1998 war es dann so weit: „Begonnen haben wir mit zehn Zuschauern, aufgehört haben wir mit drei Verlängerungen, begonnen haben wir mit studentischem Publikum, am Schluss saß das Festspielpublikum im Zirkuszelt – für Salzburg war das eine Sensation.“

Noch ist in jenen Tagen keine Rede von einem ganzen Zirkusfestival. Die Idee dazu bringt erst der folgende schneereiche Dezember. Daxner stapft auf seinem Weg zur Arbeit im Kulturgelände Nonntal durch den verschneiten Salzburger Volksgarten: „Und da hab ich mir gedacht: Dieser Volksgarten, da muss man im Winter etwas machen.“

Ausgerechnet Zirkus – ausgerechnet im Winter? „Ich war mir sicher: Zelte im Winter, man geht in einen kalten, verschneiten Park, sieht dort ein Zirkuszelt, tritt ein, und drinnen ist es richtig warm – dieses Flair, das ist etwas ganz Besonderes.“

Drei Jahre putzt Daxner in- und ausländische Klinken, dann stehen das erste „Winterfest“ und seine Finanzierung: „Ich hab einen großen Holzkoffer gebaut mit einem Modell vom Volksgarten, das war meine Power-Point-Präsentation für die Sponsorengespräche. An der Unterseite des Koffers stand ein kleiner Nagel heraus, und so habe ich auf vielen schönen Direktionsschreibtischen buchstäblich nachhaltigen Eindruck hinterlassen.“ Es sind nicht nur Schelmenstücke wie diese, es sind auch handfeste Arbeit und gutes Gespür für das programmatisch Mögliche, die dem „Winterfest“ heuer schon eine zehnte Ausgabe bescheren: Und was mit einem einzigen Zelt begann, ist mittlerweile zu einem kleinen Zeltdorf angewachsen.

Sehr viel größer als diesmal allerdings will Daxner mit seinem „Winterfest“ nicht mehr werden. Wenn er an die Zukunft denkt, dann fällt ihm ganz anderes als Quantitätssteigerungen ein: „Ich möchte Zirkus auch im Ausbildungssektor in Österreich etablieren. Salzburg soll zur deutschsprachigen Zirkushauptstadt werden. Über das ,Winterfest‘ hinaus. Wir arbeiten daran, eine Zirkusschule aufzubauen, wir arbeiten daran, in ganz Österreich Zirkusausbildungsmöglichkeiten zu schaffen.“ Allein in Frankreich gebe es heute 85 Zirkusschulen. Ergebnis: eine blühende Cirque-nouveau-Szene mit etwa 900 Gruppen.

Daxners Ziel: beim 20. „Winterfest“ eine Produktion mit Studenten jener heimischen Zirkusschule zu zeigen, die es jetzt noch gar nicht gibt. Utopie? Das war vor wenigen Jahren auch die Idee eines Zirkusfestivals in Salzburg. Wie heißt ein zirkusfrommer Wunsch? Möge die Übung gelingen.


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 20. November 2010

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