„Außerdem wollte man uns nach Bihać schicken“

Installateur aus Bijeljina, Republika Srpska, derzeit Wien: Amir Selimović.


Er hat Österreich schon „vor dem Krieg“ gut gekannt, sagt er. „Vor dem Krieg“ – das bedeutet für Amir Selimović: vor 1992, vor dem Jahr, in dem die Kämpfe zwischen Moslems und Serben in Bosnien begannen. Selimović ist einer der – Schätzungen zufolge – rund 60.000 noch in Österreich verbliebenen bosnischen Kriegsflüchtlinge; einer, der nach zweijährigem Dasein am Rande der Abschiebung erst seit Kurzem als Kriegsflüchtling anerkannt ist; einer, der jedoch keine staatlichen Zuwendungen erhält – immerhin darf er sich jetzt, dank seines neuen legalen Status, auf die Suche nach einem Arbeitsplatz machen. „Für mich ist es wichtig zu arbeiten“, sagt er. „Ich habe keine Angst vor irgendeiner Arbeit. Ich schäme mich für keine Arbeit.“

Selimović stammt aus Bijeljina, einer Kleinstadt an der vormals bosnisch-serbischen Grenze, heute an der Grenze zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republika Srpska, der Serbenrepublik auf bosnischem Gebiet. Knapp 100.000 Einwohner zählte man im Bezirk Bijeljina 1991, mehr als 30 Prozent davon Moslems. Dann kam der Krieg. „Die Presse“ berichtete am 6. April 1992: „Zum serbischen Brückenkopf im Nordosten soll offenbar die Stadt Bijeljina werden. Das dort an Moslems verübte Massaker war eine grausame Warnung an alle Nichtserben: Räumt das Gebiet – oder auch euch erwartet der Tod.“

Amir Selimović: „Keiner hat geglaubt, dass es so weit kommen wird. In den ersten Tagen, als die Nachrichten eintrafen, dass geschossen wird, ging vorerst alles ganz normal weiter. Keiner hat geahnt, was geschehen würde.“

Ein UN-Bericht weiß von zahlreichen Übergriffen paramilitärischer serbischer Truppen in und um Selimovićs Heimatstadt in jenem April des Jahres 1992: Plünderung, Vergewaltigung, Mord. Der Moslem Selimović harrte aus: „Der Krieg hat in Bijeljina selbst nur kurz gedauert. Und mit den einheimischen Serben gab es anfangs kaum Probleme. Die entstanden erst mit der Ankunft von Serben aus anderen Teilen Bosniens, die nach Bijeljina flüchteten.“

Mehr und mehr verstärkt sich der Druck auf die moslemische Bevölkerung. Selimovićs Ehe zerbricht. Auch an den äußeren Umständen, wie er heute meint. Getrennt von Frau und Kind, versucht er, die Kriegswirren zu überstehen. Zur Waffe greifen muss er nie: „Ich habe nur einer Arbeitseinheit angehört, die sechs Monate lang im Raum Brčko tätig war. Mich hat der Umstand gerettet, dass ich jahrelang in einem Krankehaus gearbeitet habe, als Installateur, und dass ich außerdem lange Jahre Sportler war, Profifußballer.“

Erst 1994 wird die Lage für Selimović untragbar: Er verliert seinen Arbeitsplatz; als er versucht, seine Arbeitspapiere abzuholen, wird er mit dem Tod bedroht. „Und außerdem wollte man uns von serbischer Seite im September 1994 mobilisieren und nach Bihać schicken.“ Bihać: Das ist jene Moslemenklave im Nordwesten Bosniens, die drei Jahre lang von den Serben belagert wurde. Hier hätte der Moslem Selimović im Sold der Serben erstmals töten müssen. „Das war dann das auslösende Moment für meine Flucht.“ Selimović überquert die nahe Drina, schlägt sich ins ungarische Szeged durch. „Dort hat mein Bruder mit dem Auto gewartet, und wir sind am selben Tag in Österreich eingereist.“

Sein Bruder lebt zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren in Wien. Wie eine seiner Schwestern. Amir Selimović: „Ich glaube, dass Österreich das Land ist, das am meisten für die bosnischen Flüchtlinge getan hat. Ich hätte eigentlich auch nach Schweden fahren können, dort lebt eine andere Schwester von mir. Aber ich wollte hierherkommen – weil es nicht so weit weg ist von meiner Heimat.“ Und Selimović möchte hier auch bleiben, wiewohl man ihm die ersten beiden Jahre seines österreichischen Lebens keineswegs leicht gemacht hat: zwei Jahre Spießrutenlauf durch Amtsstuben, zwei Jahre voller Bescheide und Berufungen, schließlich gar Festnahme und Aufenthaltsverbot.

Dennoch: Amir Selimović hat es geschafft, als Kriegsflüchtling anerkannt zu werden. Wie es freilich weitergehen soll, weiß er nicht: „Die Behörde verlangt von mir, dass ich mich selbstständig mache, nicht mehr länger von der Hilfe meiner Familie abhängig bin. Das wäre auch mir am liebsten. Ich bin an diese Abhängigkeit nicht gewöhnt, ich war früher nie in einer solchen Situation. Früher war eher ich derjenige, der anderen geholfen hat. Und bis vor Kurzem durfte ich ja nicht einmal einen Job suchen.“ Bis 31. März muss Selimović jedenfalls Arbeit finden. „Das ist die einzige Möglichkeit, in Österreich noch eine Zeit bleiben zu können.“ Und was, wenn ihm das nicht gelingt? „Dann weiß ich nicht, was passiert.“

An eine Rückkehr in die alte Heimat sei jedenfalls nicht zu denken: „Wenn es möglich wäre, dann würde ich sicher am allerliebsten nach Bijeljina gehen, aber dafür besteht nicht einmal theoretisch eine Chance. Es wird sicher sehr lange dauern, bis das wieder möglich ist.“ Von den einst gut 30.000 Moslems des Bezirks Bijeljina sind seines Wissens nur knapp 2000 geblieben. „Die anderen wurden entweder abgeholt oder mussten früher oder später flüchten.“

Selimovićs einzige Kontaktperson in der Heimat: sein Sohn. „Mit dem telefoniere ich, manchmal schreibe ich auch Briefe. Meine Frau will nicht mit mir reden, mittlerweile ich auch nicht mehr mit ihr. Alles ist deshalb ein wenig leichter, weil mein Sohn mit seinen 15 Jahren fast schon erwachsen ist. Natürlich wäre ich sehr froh, wenn er bei mir wäre, aber das ist völlig undenkbar.“


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 1. März 1997

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