„Meistens wird geklagt, dass keine Komponistenkollegen in Konzerte mit Neuer Musik kommen. Das liegt daran, dass die genau wissen, was sie erwartet.“ Kurt Schwertsik über Avantgarde, Spaßgesellschaft und den Nutzen des Bartes. Ein Gespräch.
„Mein Gott, was wird nur aus dem Ganzen rauskommen?“ Die letzte Frage des Interviews stellt der Befragte: Kurt Schwertsik. Die Antwort hat er da schon selbst gegeben: Was aus den eineinhalb Stunden Gespräch mit Schwertsik „rausgekommen“ ist, lässt sich den folgenden gut 500 Druckzeilen entnehmen, für die er Rede und Antwort stand – mit jener gelassenen Heiterkeit, die für ihn so charakteristisch scheint.
Als „schweren Fall von Optimismus“ beschrieb ihn vor zehn Jahren eine Fernsehdokumentation zu seinen Ehren. Diesen Optimismus hatte der Wiener Komponist des Jahrgangs 1935 wohl nötig, als er sich, Stockhausen-geeichter Avantgardist, der er war, Anfang der Sechziger von einer dogmatischen Moderne verabschiedete.
Mittlerweile ist Schwertsik, der sich sein Brot jahrzehntelang als Orchestermusiker, zuletzt als Hornist der Wiener Symphoniker, verdiente und bis heute an der kürzlich in den Rang einer Universität erhobenen Musikhochschule seiner Heimatstadt unterrichtet, zum Staatspreis- und Ehrenzeichenträger avanciert, kann auf eine erkleckliche Zahl von Uraufführungen verweisen und sich auch sonst nicht wirklich beklagen – was er wohl selbst dann bleiben ließe, hätte er Grund dazu.
Kurt Schwertsik, ein Journalist hat Sie einmal einen Friedensreich Hundertwasser der zeitgenössischen Musik genannt. Fühlen Sie sich wohl in dieser metaphorischen Gesellschaft?
Früher haben mich immer wieder Leute angesprochen und gefragt, ob ich der Hundertwasser bin, ich schau‘ ihm ja recht ähnlich, bin nur viel kleiner. So hatte ich einen doppelten Nachteil: den Nachteil des Berühmtseins – und den Nachteil, dass dieses Berühmtsein nicht mich betroffen hat, sondern Hundertwasser.
Sonst repräsentiert Hundertwasser ungefähr das, was ich zeit meines Lebens vermeiden wollte. Er hat als Avantgardist begonnen, da habe ich ihn auch durchaus geschätzt; aber das, was er heute so baut, das ist gewiss eine Art Disneyland. Als Raststation an der Südautobahn ist mir das sogar sympathisch; ich habe nichts gegen Spaß in der Kunst, im Gegenteil: Es kommt nur darauf an, aus welcher Haltung heraus das geschieht. Mir zum Beispiel war immer wichtig, konsequent nicht das zu machen, was man von mir erwartet.
Dass ich dabei versuche, einen gewissen Unterhaltungswert in meine Stücke zu bringen, das ist offensichtlich. Einmal hat ein Kritiker über meine Musik geschrieben, er sei sehr missmutig in das betreffende Konzert gegangen – und schon in der Pause sei er gut aufgelegt gewesen; das ist das Schönste, was jemals über ein Stück von mir gesagt wurde.
In der veröffentlichten Meinung steht Ihr Schaffen auch sonst für eine leichtverdauliche Moderne. Droht bei so viel Sinn für guten Geschmack nicht die Gefahr, ins Geschmäcklerische abzurutschen?
Zweifellos. Ich hab‘ auch einen Riesenrespekt vor allen, die eine bösartige Tonsprache zu sprechen imstande sind. Sagen wir Varèse oder große Teile vom Werk des Charles Ives. Aber das meiste, was so aggressiv daherkommt, ist mir urfad. Ich hab‘ mir kürzlich eine neue Oper angehört, da wurde die ganze Zeit wie wahnsinnig getrommelt, ohne musikalischen Grund, das geht einem nach einer Szene dermaßen auf die Nerven, dass man sich denkt: Was ist denn los? Ich hab‘ einen einfachen Anspruch: Wenn ich einen Wutanfall hab‘, wenn ich aggressiv bin, dann muss es eine Ursache dafür geben. Ich renn‘ ja auch sonst nicht durch die Gegend und brüll‘ alle Leute an. Ich hab‘ das Gefühl, die meisten Komponisten gehen herum und schreien und wissen nicht, warum. Das ist langweilig – und genau das will ich nicht sein. Und ich will nicht eine Kraftmeierei vortäuschen, die nicht in mir steckt. Ich bin kein Kraftmeier, ich bin ein kleiner, schwacher Typ – aber ich habe mir immer eine gewisse Zähigkeit zugesprochen, ich gebe nicht so leicht auf.
Die Phase des Herumschreiens, die hat es bei Ihnen anfangs, in den Fünfzigerjahren, auch gegeben.
Das ist nie sehr laut gewesen. Ich war unfreundlich, das schon, aber nie laut. Das hing auch mit meiner Vorstellung von Modernität zusammen; Wien Anfang der Fünfzigerjahre, das war eine kulturelle Wüste. Die Kulturpolitik der Nachkriegszeit war ja nichts anderes als die Fortsetzung der faschistischen Politik mit demokratischen Mitteln.
Zu Beginn hat mich besonders der Dadaismus begeistert. Wobei es in mir zwei gegenläufige Strömungen gegeben hat: die hinausgehende Aggressivität des Dadaismus, der alles in Frage stellt, und gleichzeitig ein mönchisches Sichzurückziehen in den Buddhismus oder ins Yoga, das ich als 18-Jähriger sehr intensiv betrieben hab‘. Einerseits aggressiv die Zustände bekämpfen, andererseits sich abschließen von der Welt: das ist eine Antinomie, mit der ich immer gelebt hab‘.
Dadaismus, Buddhismus, Yoga, all das muss für Ihre Mitmenschen ziemlich exotisch gewirkt haben.
Meine Mutter hat gelitten, die hat nicht absehen können, dass ich jetzt Hochschulprofessor bin und Staatspreisträger und was weiß ich. Aber sie hat mir immer eine Basis gegeben; und sie hat mich zwei Dinge gelehrt, für die ich ihr bis heute sehr dankbar bin: einen grundlegenden Antifaschismus – und die absolute Toleranz und Achtung, die sie auch mir entgegengebracht hat. Sie hat erduldet, wie ich mich angezogen hab‘ – und sogar meinen langen Bart.
Ein Bart zum Zeichen jugendlichen Protests? Oder warum sonst?
Ich hab‘ immer ausgeschaut wie ein kleines Mädchen, und deshalb war es für mich sehr wichtig, dass ich, sobald es überhaupt ging, einen Bart hatte. Ein Bart aber war damals etwas völlig Ungewöhnliches. Noch 1959, als ich in Köln gelebt hab‘, haben sich die Leute gegenseitig angestoßen: Einer mit Bart! Die Mädchen in den Geschäften sind hinter der Theke verschwunden, weil sie einen Lachanfall gekriegt haben. Das war auch etwas, was ich lernen wollte: Ich wollte wissen, wie reagieren die Menschen – und wie reagiere ich auf Ausgrenzung. Das war mir wichtig.
Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Ich hab‘ durchgehalten.
Ihr Aufbruch in die Moderne einer künstlerisch kanonisierten Avantgarde war schon Anfang der Sechzigerjahre zu Ende.
Das war 1961, 1962. Ich hab‘ noch einmal einen Stockhausen-Kurs in Darmstadt besucht; und da hab‘ ich auch tonale Sachen verarbeitet, hab‘ vier Sätze von den „Liebesträumen“ aufgeführt – und das war ein Riesentrara. Alle sind gestanden und haben applaudiert, das war eine Wand von Zuneigung, wobei vielleicht nicht wenige insgeheim vermutet haben, dass ich ein absolutes Hirnederl bin. Einer hat mich sogar gefragt, ob ich John Cage kenne, und als ich bejahte, hat er gemeint: Er weiß doch, was er macht.
Aber alles in allem war es natürlich eine Krisensituation, diese Avantgardebewegung war für mich ja eine geistige Heimat, und von der musste ich mich nun irgendwie absetzen. Sehr geholfen hat mir, dass Leute wie Stockhausen oder Kagel das verstanden haben. Meine Kenntnis der modernen Musik hab‘ ich ja weiter betrieben. Ich habe mich auch in dieser Wendung als Teil des Projekts der Moderne gesehen. Und ich sehe mich bis heute so. Meine Musik mag freundlich daherkommen, sie mag umgänglich sein, aber was dahintersteckt, ist ein absoluter Nonkonformismus. Die Leute merken es zwar nicht, aber ich bin Avantgardist.
So sieht das Selbstbild aus. Das Fremdbild heißt: Traditionalist.
Der Cerha hat auch einmal von Neobiedermeier geredet, bei meinem Eichendorff-Quintett. Da muss ich sagen: Das ideologische Unterfutter dessen, was man heutzutage Avantgarde nennt, ist mir ein bisserl zu dünn. Das ist mir zu eng, da ist keine intellektuelle Weite des Entwurfs drinnen.
Wie würden Sie Ihre Klangarchitekturen beschreiben, das Haus, das Sie aus Tönen bauen?
Diese Frage erwischt mich auf dem falschen Fuß: Ich denke nicht in Architekturen. Für mich sind in der Musik die Empfindungen der erste Zugang. Es gibt durchaus Komponisten, die ein Stück zuerst als Großform planen und dann sozusagen ausfüllen; zu denen gehöre ich nicht. Ich schreite aber auch nicht, wie der Kafka das einmal beschrieben hat, in einen finsteren Tunnel. Ich hab‘ schon einen Plan, aber die Musik hat ihren eigenen Willen, und ich muss irgendwie schauen, dass sie einigermaßen so wird, wie ich das haben möchte.
Wie zeigt die Musik ihren Willen?
Ich schreib‘ gerade ein Violinkonzert, da hab‘ ich mir anfangs gedacht, um Gottes willen, schon wieder etwas, was ganz unmöglich ist. Und dann hab‘ ich mir überlegt, gut, so könnte es gehen. Da war im Grunde nicht viel da. Aber wahrscheinlich war in Wahrheit schon alles da, nur hab‘ ich’s noch nicht gemerkt.
Sitzen Sie da am Klavier?
Nein. Das ist nicht einmal ein Nachdenken. Es passiert. Jetzt hab‘ ich schon fast zehn Minuten von dem Violinkonzert und hoffe, dass viele neue Sachen für mich drinnen sind.
Und was passiert, wenn’s nicht passiert?
Vor vielen Jahren, das war noch in den Siebzigern, hat das Kronos-Quartett mein zweites Quartett gespielt, das hat ihnen irgendwer empfohlen; und damals haben sie gesagt, sie hätten gern ein neues Quartett von mir. Ich hab‘ sofort die Vision eines unendlich langweiligen Stücks gehabt, ich war blockiert, ich konnte mir nichts für das Kronos-Quartett vorstellen.
Gibt es dafür einen rational fassbaren Grund – oder ist das einfach ein Gefühl?
Ich war kürzlich auf Lanzarote, und da hat das Kronos-Quartett zufälligerweise ein Konzert gegeben; ich bin hingegangen – und ich hab‘ gemerkt, dass ich noch immer ratlos bin, was ich für die schreiben könnt‘, obwohl ich sie sehr verehre in vieler Hinsicht. Ich hab‘ für verschiedene andere Quartette geschrieben, das Arditti-Quartett hat neulich eines in Berlin uraufgeführt. Aber das Streichquartett ist grundsätzlich eine schwierige Form.
Für welche Ensemblebesetzung schreiben Sie am liebsten?
Für Orchester. Und je größer das Orchester, desto froher bin ich. Ich hab‘ zwar schon vor Urzeiten Artikel darüber verfasst, dass die Orchester nicht haltbar sind, rein finanziell, dass das Ensembles sind, die keine Zukunft haben. Aber Tatsache ist, dass ich immer am liebsten für Orchester geschrieben hab‘. Vielleicht, weil ich als Musiker im Orchester groß geworden bin.
Gerade der klassische Konzertbetrieb, der für Sie über mehrere Jahrzehnte Heimstatt war, verweigert sich beharrlich der zeitgenössischen Musik. Das muss doch für Sie eine einigermaßen schizophrene Situation gewesen sein.
So hab‘ ich das nicht gesehen. Ich bin schon mit 20 ins Orchester gegangen. Und ich hab‘ mir damals gedacht, gut, ich spezialisiere mich auf Neue Musik, denn die alte werde ich im Konzertbetrieb zur Genüge kennenlernen. So war es auch. Ich war mit großer Begeisterung Orchestermusiker, ich spüre so gern diese Interaktion von Menschen, die Tempo herstellen, die in Bruchteilen von Millisekunden aufeinander hören und aufeinander reagieren müssen, das ist etwas Wunderbares.
Das Orchester war für mich eine sehr wichtige Lehrstelle. Ich habe die verschiedensten Dirigenten vorgeführt bekommen. Ich hab‘ mich mit Leuten auseinandersetzen müssen, deren Zugang zur Musik mir zuwider war – und manchmal musste ich dann zähneknirschend zugeben: Na ja, es war ganz schön. Dabei hab‘ ich sehr viel über Musik gelernt. Und ich hab‘ die Kritiker nie beneidet, weil ich wusste, wie weit vom Schuss die oft waren in der Beurteilung des Dirigenten oder des Orchesters. Ich hab‘ ja ziemlich genau gemerkt, was schiefgegangen ist und was richtig war.
Hat’s da nicht den Wunsch gegeben, die eigenen Werke von dem Orchester interpretiert zu hören, in dem man spielt?
Das ist ja immer wieder passiert.
Aber selten.
Mein Gott, jeder moderne Komponist wird selten aufgeführt. Ich falle natürlich zwischen alle Raster. In modernen Konzerten, wer will mich da aufführen? Und im Abonnementkonzert geht das auch nicht.
Warum nicht? Warum ist zeitgenössische Musik bei uns auf Ghetto-Veranstaltungen beschränkt?
Na ja, jeder Mensch sucht sich halt seine Unterhaltung. Schaun Sie, bei diesen Festivals moderner Musik, da hört man immer, das sei eben eine ganz andere Art von Musik – und man müsse sich damit auseinandersetzen. Da denke ich mir: Ich hab‘ mich jetzt 40 Jahre damit auseinandergesetzt, und ich persönlich – nicht, dass ich nicht mehr auf dem Laufenden bin, aber zum Vergnügen geh‘ ich nicht in ein modernes Konzert.
Meistens wird geklagt, dass keine Komponistenkollegen in solche Konzerte kommen. Das liegt daran, dass die genau wissen, was sie erwartet, deshalb gehen sie nicht hin. Außer es wird etwas von ihnen aufgeführt. Ich glaube, dass der Unterhaltungswert der modernen Musik nicht im Vordergrund des Interesses der Komponisten steht.
Sollte er das? Angeblich amüsieren wir uns doch schon so zu Tode.
Ich bin aufgewachsen in der Zeit der Nazis, das war nicht lustig. Dann sind die Fünfzigerjahre gekommen, auch die waren nicht lustig. Und jetzt geht es uns ein bisserl besser – und alle stehen plötzlich auf und sagen: Um Gottes willen, furchtbar! Es kommt immer darauf an, auf welchem Niveau man sich unterhalten will. Wenn man – und das ist vielleicht das, was am tiefsten ist in mir -, wenn man mit dieser Welt überhaupt in irgendeiner Weise zurande kommen will und sich an ein Publikum wendet, was bietet man an? Ich versuche, den Menschen die Möglichkeit zu geben, über sich selbst zu lachen. Was letztlich eine Stärkung bedeutet, um die Absurdität dessen, was rundherum passiert, auszugleichen.
Jedes Kunstwerk ist eine Illusion, denn die Welt geht immer aus dem Leim, ununterbrochen. In der Kunst erschaffen wir eine Gegenwelt, die es möglich macht, nicht völlig zu verzweifeln. Was uns an Bach beeindruckt, ist nicht die Einspielung von Glenn Gould oder die Einspielung von irgendjemand anderem, das, was uns an Bach fasziniert, ist dieser wahnwitzige Durchblick durchs Material, dieser in sich stimmige Kosmos, der da erschaffen wurde. Und das ist das, was alle guten Komponisten gemacht haben, alle guten Maler und so weiter.
Kunst als bessere, als eine heile Welt womöglich?
Nein, natürlich muss man die Welt auch aufbrechen, aber wenn das Aufbrechen zur Masche wird . . . Heute entlarvt ja jeder, dekonstruiert jeder und so weiter und so fort; wenn jeder intellektuell Unterbelichtete Dekonstruktivist ist, dann wird’s langsam Zeit, dass man daran denkt, wieder ein paar Bausteine zusammenzusetzen. Wenn ich vom Amüsement rede, dann meine ich, dass ich geistig angeregt werden will. Und das ist für jeden ein bisserl was anderes. Aber wenn ich Tom Stoppard lese oder auf der Bühne sehe, dann bin ich amüsiert, und zwar im höchsten Maß. Ich mag diese intellektuelle Leichtigkeit, diese doppelten und dreifachen Böden.
Und wie steht’s ums Vergnügen im klassischen Konzertbetrieb?
Dazu kann ich wenig sagen. Ich hab‘ jahrzehntelang in einem Orchester gespielt; glauben Sie, dass ich freiwillig in ein Konzert geh‘? Ich kenne das Repertoire ziemlich gut. Ich höre mir im Radio viel an, ich kaufe mir CDs, lege mir Sachen zu, die mir fehlen.
Ich habe mir, als ich aus dem Orchester rausgegangen bin, Sibelius konzentriert reingezogen, der ist praktisch nicht vorgekommen in unserem Repertoire. Und ich konnte feststellen: Für mich ist das einer der bedeutendsten Komponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
In dieser Weise bin ich dauernd mit Musik beschäftigt. Aber ein Konzert – das quält mich. Ich mag auch das Publikum nicht, das hingeht, besonders das Publikum in Kammermusikkonzerten, diese etwas vornehmere Gesellschaft, die weihevoll dasitzt, und dann wird ein Quartett-Abend zelebriert, der außerdem in seiner Perfektion für einen Musiker keine Attraktivität bietet; ich als Musiker möchte teilhaben daran, wie schwierig es ist, durch das alles durchzukommen, das will ich spüren. Bei einem Quartett-Abend heutzutage, das schnurrt ja ab in einer schauderhaften Fehlerlosigkeit – und vielleicht muss es so sein.
Auch dieser erweiterte Kunstbegriff, den es jetzt gibt mit Crossover und „Drei Tenören“, damit kann ich überhaupt nichts anfangen. Was mich viel mehr interessiert, sind andere Dinge: Rossini-Opern zum Beispiel; oder das „Sportstück“ von Elfriede Jelinek. Außerdem bin ich ein großer Verehrer der alten Operetten-Witze. Operette höre ich sehr gern.
Wo?
In London beispielsweise. Da hab‘ ich vor ein paar Jahren den „Mikado“ gesehen, in einer hervorragenden Inszenierung. Mit großem Vergnügen bin ich auch hier in Wien in ein kleines, halb dilettantisches Operettentheater gegangen, das draußen in Ottakring ein Abonnement aufgelegt hat. Das war natürlich richtiger Trash, aber faszinierend, auch deswegen, weil so viele Leute dort waren, die aus der Gegend stammten, die das mit Begeisterung angeschaut haben, für die das ein wichtiges kulturelles Ereignis war. Im Übrigen bin ich ein großer Woody-Allen- und Aki-Kaurismäki-Fan: Diese Filme, die sind für mich im Ästhetischen ganz vorne. Um an den Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurückzukommen: Wenn ich mit jemandem verglichen werden möchte, dann nicht mit Hundertwasser, sondern vielleicht mit Woody Allen oder mit Kaurismäki.
Was wird von der Neuen Musik der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts bleiben?
Ich glaube, relativ viel. Die Situation ändert sich natürlich ununterbrochen, und wie lange etwas bleibt, das ist auch die Frage. Wie lange wird Beethoven bleiben? Wie lange wird’s Orchesterkonzerte, wie lange wird’s Quartett-Abende geben? Aber auf die nächste Zeit bezogen, meine ich doch, dass ein paar Stücke von Stockhausen, ein paar Stücke von John Adams, ein paar Stücke von Mauricio Kagel bleiben werden – und viele andere, die mir jetzt nicht einfallen. Die Musikgeschichte ist ja sehr eigenartig: Von den zehn Opern, die Tschaikowsky geschrieben hat, werden derzeit zweieinhalb aufgeführt. Andererseits ist heute fast der gesamte Verdi zu sehen, in meiner Jugend waren das drei, vier Opern. Haydn: mehr als 100 Symphonien geschrieben, wie viele sind zu hören? Zehn vielleicht. Alle anderen sind Spezialistenprogramm.
Was gespielt wird, das ändert sich – nicht auf Grund der Qualität, sondern auf Grund der Marktlage. In einem seiner Stücke lässt Tom Stoppard eine Figur sagen: Was heißt, die Geschichte wird urteilen? Schau dir ein Feld an, das abgemäht worden ist – und ein paar Halme bleiben übrig; warum gerade diese Halme übrigbleiben, weiß kein Mensch.
Welche Ihrer Halme sollen übrigbleiben?
Da kann ich nur sagen: Alle! Ein Komponist hat viele Kinder, manche machen es besser, manche machen es weniger gut, aber sie sind alle Teile von ihm.
Dennoch zieht man vielleicht eines den anderen vor.
Ja, sicher: Das liebste ist mir immer das nächste. Da hat man die Hoffnung: Das wird die Sache, da durchbreche ich jetzt die Schallmauer. Bevor man etwas anfängt, ist alles offen, das ist wunderbar, man kann alles hinschreiben. Aber dann schreibt man halt doch nur die Noten hin, die man hinschreibt.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 3. April 1999