Julia Hoßes Erinnerungen: Zwischen Wunsch- und Albtraum

Wie war das wirklich, damals? »In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester.« Julia Hoßes Reise durchs trügerische Reich der Reminiszenzen. Ein formidables Bildtextkunstwerk.

 

Ich erinnere mich ganz genau: Wie oft haben wir den Satz gehört, wie oft haben wir ihn selbst schon ge sprochen, und wie oft haben wir alsbald erfahren müssen, dass das, woran wir uns vermeintlich so ganz genau erinnern, in der ganz genauen Erinnerung anderer doch, sagen wir, nicht gar so ganz genau wie in unserer erscheint. Ein Phänomen, das man in seiner alltäglichsten Erscheinung Urlaubserinnerungssyndrom nennen könnte: Nein, dieser Sonnenuntergang am Strand, der war nicht auf den Malediven, sondern auf Teneriffa, unser Lieblingsrestaurant dort hieß „Yellow Oyster“ und nicht „Blue Fish“, das Ganze geschah nicht vor, sondern nach unserer Hochzeit, und überhaupt war’s kein Unter-, sondern ein Sonnenaufgang.

Es ist schon so: Die Erinnerung nimmt’s mit dem, was man Wahrheit nennen könnte, nicht immer so genau, wie wir üblicherweise meinen. Als ziemlich unzuverlässige Informantin begleitet sie uns durchs Leben, und auch wenn’s schwerfällt, ist man gut beraten, ihr nicht alles ohne Vorbehalt zu glauben, was sie uns über sich selbst und über uns erzählt: Besonders dann, wenn sie so viel schöner scheint, als – nüchtern betrachtet – wahr sein kann.

Eine Fülle neuer Namen. „In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester“ hat die deutsche Illustratorin Julia Hoße ihre Auseinandersetzung mit den Tiefen und Untiefen unserer Sicht auf die Vergangenheit betitelt. Und dass sie selbst – oder ihr Verlag? – das Ergebnis dieser Auseinandersetzung für eine „Graphic Novel“ hält, mag der Ratlosigkeit darüber geschuldet sein, wie man dieses wunderbare Bildtextkunstwerk sonst bezeichnen könnte. Immer wieder setzt es in Erstaunen, wie die deutsche Comicszene Saison für Saison mit einer Fülle an neuen Gestaltungsansätzen und neuen Namen aufwartet. Worin sich einerseits die Qualität entsprechender Ausbildungsstätten wie gleichermaßen das seit gut zehn Jahren deutlich größere Publikums- und also auch Verlegerinteresse reflektiert.

Julia who?, hätte man noch vor Kurzem arglos fragen dürfen. Mittlerweile hat Julia Hoße, Berlinerin des Jahrgangs 1989 und ausgebildet an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg, mit ihrem Bucherstling etliches an Zuspruch erhalten. Und das aus gutem Grund: Dieses Debüt einer Endzwanzigerin gehört zum Alleraußerordentlichsten, was in der jüngeren Vergangenheit erschienen ist. In einer auch stilistisch turbulenten Tour de Force jagt Hoße durch das immer wieder rätselhafte Reich der Reminiszenzen, der eigenen aus einer wohlbehüteten Adoleszenz, jener ihrer Großmutter an Krieg, Tod und Vertreibung, und der ihrer Mutter an eine angepasste Jugend in der DDR.

Und wie in unser aller Köpfen purzelt auch auf diesen 176 Seiten alles hitzig durcheinander. Nichtiges kommt neben Fundamentalem zu liegen, Bedeutendes neben Unbedeutendem. Das Wunderland eines Dinosaurierparks, besucht in Kindheitstagen? Aus der Sicht der Herangewachsenen „ein paar verblichene Plastikdinos zwischen vertrockneten Büschen“. Oder auch: Wohl und Weh eines ersten Schultags – samt einer ersten Demütigung. So weit der ganz normale Alltagskummer von Millenials, wie Julia Hoße eine ist. Daneben: Bilder von Schrecken der Vergangenheit, wie sie sich Vorgängergenerationen ins Gedächtnis gepresst haben: Ein Urgroßvater, der in einem kriegszerstörten Königsberg als einziges Familienmitglied zurückbleibt; eine Flucht in den Westen, die nicht weit genug in den Westen führt, nur in ein trostloses Leben hinter dem Eisernen Vorhang. Dann wieder: die Mondlandschaft eines aufgelassenen Kohletagbaus – und wie er zur verträumten Seenlandschaft geflutet wird.

„Nichts geht verloren.“ Zwischen luftigen Strichen und wuchtigen Farbflächen, zwischen Angedeutetem und eindringlicher Plastizität, zwischen Bleistift, Buntstift und aquarellierten Blättern, jeweils kommentiert durch kurz hingeworfene Sätze, wechselt Hoße Formen und Farben mit derselben Selbstverständlichkeit, wie es Tagtraum und Nachttraum tun. „Nichts geht verloren“, lautet ihre Bilanz. Bedrohlich und tröstlich zugleich. Mag in der Erinnerung dann und wann „mehr Streichorchester“ gewesen sein: Das, was da war, lebt mit und in uns weiter.

 

„Presse am Sonntag“, 8. April 2018

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