Kulturgeschichte des Kreuzworträtsels: Ein Kosmos aus Quadraten

Der italienische Zeichner Paolo Bacilieri hat die Kulturgeschichte des Kreuzworträtsels in eine Graphic Novel gefasst, in der sich das Leben selbst in Rätsel auflöst.

 

Bekanntlich ist ja nichts immer schon gewesen. Sieht man von Erscheinungen metaphysischer Natur ab, hat alles einen Anfang und muss folglich unvermeidlich auch ein Ende haben, selbst wenn uns insbesondere der zweite Teil des Gedankens bei vielem, was uns lieb gewordene Gewohnheit ist, stets peinlich berührt. Gleichermaßen überraschend freilich scheint uns die Idee, dass etwas, über das wir mit größter Selbstverständlichkeit verfügen, irgendwann in grauer Vorzeit noch nicht existiert haben soll, wie wir ja überhaupt gern alles, was uns umgibt, als selbstverständlichen Bestand wahrnehmen, ohne den ein Leben im eigentlichen – also unseren – Sinn gar nicht möglich ist. Und nichts, was uns mehr erstaunen würde, als dass es erst eines schöpferischen Geists bedurfte, jene vermeintlichen Unabdingbarkeiten in diese unsere Welt zu setzen.

Dass sich darunter nicht nur streng Existenzielles findet, sondern auch allerlei Lustbarkeit, sollte sich von selbst verstehen; schließlich, was wären wir ohne all die wunderbaren Nebensachen, die der Hauptsache Leben erst das Vergnügen daran implementieren. Von einer dieser wunderbaren Nebensachen erzählt Paolo Bacilieri in seiner Graphic Novel „Fun“: von der Erfindung des Kreuzworträtsels und jener anschließenden Erfolgsgeschichte, die etwas vermeintlich so Müßiges – eben der Muße halber – zum unersetzlichen Inventar der Alltage weltweit so vieler gemacht hat.

Denn wenngleich eingeschworene Kreuzworträtsler es möglicherweise gar nicht glauben wollen: Das Kreuzworträtsel war nicht immer schon da, es hat wie alles andere Irdische – siehe oben – ein erstes Mal; und das begibt sich quasi am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in einer Redaktionsstube zu New York. In der Vorweihnachtsausgabe ihrer Sonntagsbeilage, „Fun“ betitelt, will die Zeitung „New York World“ ihren Lesern etwas Besonderes bieten, und der verantwortliche Redakteur, ein gewisser Arthur Wynne, Emigrant aus Liverpool mit bunter Vorgeschichte vom texanischen Zwiebelbauern bis zum Geiger im Pittsburgh Symphony Orchestra, hat denn tatsächlich eine Idee: Er ordnet kleine quadratische Leerfelder zu einer Raute an, die, mit Zahlen versehen, mithilfe von Hinweisen wie „Gegenteil von weniger“ oder „Das Ende eines Tages“ mit Worten zu befüllen sind.

Am 21. Dezember 1913 erscheint dieses erste „Word-Cross Puzzle“, also Wortkreuzrätsel, in der Sonntagsbeilage der „New York World“; was daraus wurde, erfährt heutzutage umgehend jeder Zeitungsmacher, der sich untersteht, das Erscheinen des gewohnten Kreuzworträtsels auch nur einmal – und sei’s aus noch so guten Gründen – zu sistieren.

Nebstbei gesagt: Auch in der Entwicklung des Comics kommt den Sonntagsbeilagen US-amerikanischer Tageszeitungen eine zentrale Rolle bei. Ob Rudolph Dirks‘ „Katzenjammer Kids“, Winsor McCays „Little Nemo in Slumberland“ oder die erst aus der Sicht der Nachwelt maßgeblich gewordenen „Kin-der-Kids“ des Lyonel Feininger – sie alle verdanken den sonntäglichen Funny Pages ihre Entstehung. Doch während um Comics und ihre Schöpfer in der US-amerikanischen Zeitungslandschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon ein heftiger Konkurrenzkampf tobt, allerlei Abwerbungsversuche inklusive, dümpelt Arthur Wynnes Erfindung, allmählich ins Rechteckige transferiert, um Schwarzfelder ergänzt und in „Crossword Puzzle“ umbenannt, jahrelang in der „New York World“ dahin, ohne nennenswerte Nachahmer zu finden. Ein „Roaring Success“ sieht anders aus.

Dieser stellt sich erst ein, als zwei angehende Verleger vorschlagen, ein ganzes „Crossword Puzzle Book“ herauszugeben. Ihr Name: Dick Simon und Max Schuster. Am 10. April 1924 ist es so weit: Mit einer Auflage von 3600 Stück geht dieser erste Band des erst im Jänner desselben Jahres gegründeten Verlags an den Start. Innerhalb eines Jahres werden 400.000 Stück verkauft sein. Der Grundstein des Verlagsimperiums Simon & Schuster ist gelegt, das heute rund 2000 Neuerscheinungen jährlich produziert.

Paolo Bacilieri erzählt all das – und noch einiges mehr: wie der „Crossword Craze“, in den USA entfacht und von Zeitgenossen wie F. Scott Fitzgerald kritisch kommentiert, den Sprung über den Atlantik, erst nach England, dann nach Kontinentaleuropa schafft, wie sich hier die anfänglich ziemlich geradlinig formulierten Hinweise zu den Lösungswörtern wie „Nebenfluss des Rheins“ oder „Antilope afrikanischer Steppen“ allmählich ihrerseits in Wortspiele, Silbenrätsel, Anagramme auflösen, wie ein Kreuzworträtsel-Autor des Londoner „Daily Telegraph“ gar in den Verdacht der Kollaboration mit den Nazis gerät, weil sich in seinem unmittelbar vor dem D-Day erschienenen Rätsel etliche Codenamen der naturgemäß streng geheimen Landeoperation in der Normandie wiederfinden.

Bacilieri lässt es allerdings keineswegs bei einer rein linear erzählten Kulturgeschichte des Kreuzworträtsels bewenden. Was Wunder: Schließlich ist er als Mitautor der italienischen Krimicomicserie „Dylan Dog“ einigermaßen kolportagegeschult, und also findet sich der Leser alsbald auch hier in eine mysteriöse Kriminalhandlung verstrickt, die sich ihrerseits ins Rätselhafte weiterspinnt.

Und wie sich die gezeichnete Wirklichkeit in Bacilieris Panels immer wieder in kleine quadratische Felder parzelliert, auflöst ins momenthaft Fragmentarische, als wäre die ganze Welt nichts weiter als ein großes, selbstredend streng schwarz-weißes Kreuzworträtsel, so bleibt am Ende auch das eine oder andere der Rätselfelder, die sich im Lauf der Handlung dieser Graphic Novel öffnen, ungelöst. Die Existenz: ein Kreuzworträtsel, in dem stets ein letztes Wort offen bleibt – ganz ohne Auflösung in einer nächsten Ausgabe.

„Presse am Sonntag“, 12. August 2018

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