Wer war Karl May? Wer mag Karl May? Wer braucht Karl May? Über Schmutz und Schund, progressive und konservative Retter des Abendlands und warum es völlig belanglos ist, wer weshalb Winnetou „Literatur“ nennt – oder eben nicht.
„Unbekannter, 28-32 J. alt, ca. 72“ lang, schmächtig, klassischer Gesichtsfarbe, dunkelbraunen Haares, ohne Bart, bekleidet mit Rock, Weste und Hosen von braunem, gelblich schimmerndem Stoffe, ferner braunem spitzen Hut, ist am 2. Osterfeiertag bei einem Krämer in Wiederau erschienen, hat sich für den Polizeileutnant von Wolframsdorf aus Leipzig ausgegeben, behauptet, dass er Recherchen wegen falschen Papiergeldes anzustellen habe, auch aus der Kasse des Krämers 1 Zehnthalerschein als angeblich unächt und 1 vergoldete Zylinderuhr als angeblich gestohlen in Beschlag genommen und ist damit verschwunden. Wird zum Zwecke der Ermittelung des Betrüges bekannt gemacht.“
Wer war Karl May? Ein steckbrieflich gesuchter Kleinkrimineller, lautet die Antwort, wie sie uns das „Königl. Sächsische Gendarmerieblatt“ vom 2. April 1869 kündet. Einer freilich, dessen Gaunereien eher Till Eulenspiegel als sonderliche verbrecherische Energien ahnen lassen. „Unsäglich dilettantische Hochstapeleien“ nennt sie der Buchhändler und Literaturkritiker Klaus Walther, der jüngst die „Portrait“-Reihe des Deutschen Taschenbuch Verlags um einen Karl-May-Band bereichert hat.
Und Walther hält auch, gestützt auf den mittlerweile mächtig angeschwollenen Sekundärliteratur-Apparat rund um den – wie heißt’s so schön? – „Volksschriftsteller“ aus dem Erzgebirge, eine adäquat seelentiefe Erklärung für all die Mayschen Eskapaden bereit: „Karl Mays Lebenssituation basierte auf traumatischen Erfahrungen, von frühen Kindheitserlebnissen bis hin zu den Verhältnissen, in denen er leben musste.“
Mit dem exegetischsten aller May-Exegeten, Hans Wollschläger, verweist Walther auf die „große Liebesversagung durch die Mutter“, mit dem vorsitzendsten aller Vorsitzenden der Karl-May-Gesellschaft, Claus Roxin, seines Zeichens Strafrechtler im Brotberuf, diagnostiziert er eine „Pseudologia phantastica“ – krankhafte Lügensucht. Kurzum: Karl Mays Wege in Krisenzeiten – „ein Beispiel paranoider Gefährdung dieses Menschen wie des Menschen überhaupt“.
Womit wir leichten Biografen-Schrittes vom May-Besonderen ins Allgemeine gelangt wären, dorthin, wo die Enge – und Präzision – jedes Konkretums sich zum Gemeinplatz weitet; ja doch, Karl May ist einer von uns, mehr noch, Karl May ist in jedem von uns. Oder so.
Freilich, das wird der Weberssohn aus Sachsen auch noch aushalten. Was hat man ihm denn nicht alles im Laufe seiner 70 Lebensjahre nachgesagt! Ganz zu schweigen von all dem, was man ihm nach Beendigung derselben, am 30. März vor 90 Jahren, nachgerufen hat.
In behändem Wechsel wurde er von Progressiven und von Konservativen einmal für sich reklamiert, dann wieder verdammt, rechts wie links sah man ihn einmal als Messias, dann flugs wieder als Gottseibeiuns, und nichts könnte seine Bedeutung besser reflektieren, als wer aller sich wann und wie oft mit nimmermüder Verve für ihn in die Bresche warf oder gegen ihn zur Attacke blies – und wer aller ohne sonderliche Skrupel einmal dies, dann wieder jenes tat.
Peter Rosegger hielt den Exzuchthäusler und Exhilfslehrer, der in seinen Reiseerzählungen den flagranten Mangel jeglicher Weltläufigkeit durch die flotte Feder des begnadeten Kitschisten kompensierte, „seiner ganzen Schreibweise nach“ für einen „vielerfahrenen Mann, der lange Zeit im Orient gelebt haben muss“, und veröffentlichte in seiner Zeitschrift „Heimgarten“ Mays morgenländisch ausstaffierte Erzählung „Die Rose von Kahira“. Erich Mühsam verlieh May „das Prädikat eines Dichters“, Berthold Viertel konzedierte ihm immerhin noch, wenigstens auf seine Leser wirke er als Dichter, der er ja „irgendwie“ auch sei.
Bertha von Suttner wiederum, durch jahrelange Korrespondenz in Sachen Pazifismus mit May verbunden, argumentierte in ihrem Nachruf bemerkenswert pragmatisch: „Was den literarischen Wert der May’schen Arbeiten betrifft, so nimmt ein Autor, der eine ganze Jugendgeneration zu fesseln verstand, jedenfalls einen achtungsgebietenden Rang ein.“ Und: Auf den Vorwurf, „dass Karl May Länder beschrieben hat, die er niemals gesehen“, könne er erwidern, „dass auch Jules Verne nicht im Mond und nicht 10.000 Meilen unterm Wasser gewesen“. Was schwer zu bestreiten sein dürfte.
Seltsam genug, dass jene bis ins Skurrile überzogene Omnipotenz, die May seinen Helden (und also sich selbst) erschrieb, ihm und seinem Werk andererseits gerade von seinen heftigsten Gegnern tatsächlich zugemessen wurde. Der „Schundliterat“, den Anfang des Jahrhunderts der deutsche Benediktinerpater Ansgar Pöllmann ob seiner sittenverderbenden Schriften „mit einem Strick aus dem Tempel der deutschen Kunst“ hinausgepeitscht wissen will, der ist nach dem Ersten Weltkrieg auch dem Wiener Sozialdemokraten Luitpold Stern eine gesamtgesellschaftliche Bedrohung: „Wie viele Jungen durch die Lektüre solcher Bücher zu törichten Abenteuern verleitet wurden, ist bekannt. Wir haben Sorge zu tragen, dem Proletariat Bücher zuzuführen, die seinen Blick für das tätige Leben schärfen.“
Und wieder ein paar Jahre später wird es Klaus Mann sein, der den vielleicht größenwahnsinnigen, aber jedenfalls mindestens gleichermaßen wirren Simpel gar zum geheimen Chefideologen Nazi-Deutschlands avancieren lässt: „Das Dritte Reich ist Karl Mays endgültiger Triumph, die schreckliche Verwirklichung seiner Träume, die sich in nichts von dem unterscheiden, was der mit Old Shatterhand aufgewachsene österreichische Anstreicher jetzt versucht, um die Welt neu zu ordnen.“
Da passt es gar vortrefflich ins Bild, dass gerade dieser „Anstreicher“ am 22. März 1912 in den Wiener Sophiensälen Zeuge des letzten öffentlichen Auftritts Karl Mays gewesen sein soll. Und auch der Titel des Mayschen Vortrags scheint einschlägiges Gedankengut zu verheißen: „Empor ins Reich des Edelmenschen“.
Dass Mays „Edelmensch“ freilich keineswegs einer rassistischen Gesinnung, sondern der friedenstrunkenen Bertha von Suttners entliehen ist, dass May von Toleranz und Dialog der Völker schwärmt und nicht von Vernichtung „unwerten“ oder sonstwie missliebigen Lebens, wen schert das schon, wo doch der Augenschein so ganz und gar unmissverständlich für eine diametral entgegengesetzte Auslegung spricht.
Eine Auslegung, die ab dem Augenblick nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, da der Schriftsteller Oskar Robert Achenbach 1933 den Obersalzberg besucht und auf Hitlers Bücherbord nebst „politischen und staatswissenschaftlichen Werken“, nicht zu vergessen „einige Broschüren und Bücher über die Pflege und Zucht des Schäferhundes“, auch – „Deutsche Jungen, hört her!“ – eine „ganze Reihe Bände von – Karl May!“ stehen sieht. Mehr braucht’s nicht.
Doch wie auch immer: Der politisch-ideologische Kulturkampf rund um Karl May ist mittlerweile halbwegs ausgestanden. Und dass seine Romane ob ihrer offenbar besonders jugendgefährdenden Brisanz erst Ende der Siebziger in den Regalen der Wiener Städtischen Büchereien Einzug halten durften, wie der heutige Leiter dieses sonst so verdienstvollen Instituts, Alfred Pfoser, zu berichten weiß, taugt nur mehr zum absurden Aperçu.
Die ästhetische Debatte hingegen, ob es sich denn beim opulenten Mayschen Oeuvre um sozusagen ernsthaft Literatur zu nennendes Schrifttum handelt und, wenn überhaupt, welcher Schaffensteil also kunstkanontauglich sei, die höret vermutlich nie mehr auf. Und sie erinnert in ihrer Relevanz an jenen portugiesischen Wissenschaftler, der kürzlich nach langer, seriöser Beweisanstrengung voller Stolz verkündete, der geheimnisvolle „Warp“-Antrieb des Raumschiffs Enterprise sei „schon in der Theorie nicht möglich“. Na, darauf haben wir doch alle gewartet.
In Wahrheit ist es völlig bedeutungslos, ob „Warp“-Antrieb, Beamen oder sonst irgendein Enterprise-Versatzstück funktioniert oder nicht: Sie sind kraft Imagination längst mindestens so wirklich wie die Wirklichkeit. Und wenn auch Winnetou, Old Shatterhand & Co niemals gelebt haben: in unseren Köpfen leben sie doch fort und fort, als unverzichtbares Stammpersonal unseres kulturellen Wigwams. Sie sind schlicht und einfach da. Wir können uns über sie das Maul zerreißen, sie meinethalben auch verdammen – verleugnen können wir sie nicht.
Wo Fiktion Realität wird und das so dauerhaft, im Mayschen Falle länger als ein Jahrhundert, auch bleibt, da braucht man sich um die Zukunft nicht zu grämen. Da mag es Aufs und Abs des öffentlichen Interesses geben, Vergessen dagegen nie und nimmer. Schließlich: Der Fundus an trivialen Mythen ist, zumal in deutschsprachigen Landen, durchaus erschöpflich. Und wer sich im Gemeingut unseres alltäglichen Selbstverständnisses bedienen will, der wird immer wieder auch auf – sagen wir – den langhaarigen Edelapatschen und seinen lederbehemdeten und henrybestutzten Blutsbruder aus Deutschland zurückgreifen. Wie es die deutsche Filmindustrie in den Sechzigern so erfolgreich – und ohne allzu große Sentimentalitäten – tat. Und wie es der Karl-May-Verlag selbst heute noch unverfrorener tut, wenn er einen Thomas Jeier oder einen Jörg Kastner die Vita Winnetous oder Kara Ben Nemsis mit neuen Abenteuern komplettieren lässt.
Schwamm drüber. Lehnen wir uns zurück und genießen wir: die ausführlichen und fundierten Dokumentationen der Karl-May-Filme, die Michael Petzel bei Schwarzkopf & Schwarzkopf (vor allem die Dreharbeiten betreffend) und im Karl-May-Verlag (auf Inhalt und Widerhall konzentriert) vorgelegt hat. Oder den so rührend betulich textlastigen Winnetou-Comic aus den Fünfzigern, den der Hethke Verlag als Reprint wiederaufgelegt hat.
Folgen wir Reinhard F. Gusky und Willi Olbrich am Beispiel historischer Postkarten „Auf Karl Mays Fährte“. Lesen wir da von Mays Ernüchterung, als er erstmals – 1908! – tatsächlich Amerika aufsucht und in der Tuscarora-Reservation so richtig echten Indianern begegnet: „Diesem schönen Land wird es ergehen, wie es seinen Bewohnern, der rothen Rasse, ergangen ist.“ Und hören wir dazu zwecks Entspannung eine der acht CDs voller Karl-May-Filmmusik, die bei Bear Family Records vorliegt. Oder lassen wir uns überhaupt gleich via Hörbuch ins Karl-May-Universum entführen.
Und wenn wir dann noch nicht genug haben, dann können wir noch in der nächsten Videothek den in Österreich bestbesuchten Film aller Zeiten entlehnen. Der da wäre: Michael „Bully“ Herbigs Karl-May-Persiflage „Der Schuh des Manitu“, der im Vorjahr so manchen heimischen Kinobesitzer vor dem Konkurs gerettet haben soll. Zwölf Millionen Euro (gut und gern 165 Millionen Schilling) hat der Streifen allein hierzulande eingespielt – 90 Jahre nach dem Tod jenes Mannes, der da die Vorlage für eineinhalb Stunden Gymnasiasten-Ulk geliefert hat. Literatur hin oder her – eine Kunst ist das allemal. Howgh, ich habe gesprochen.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 23. März 2002