„Normale Menschen – in abnormen Zeiten“

Geboren in Sarajewo, derzeit Rezeptionistin in Wien-Rudolfsheim: Aida Kadragić.


Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wir wissen es. Und wir wussten es auch schon, ehe Michail Gorbatschow den Satz im Oktober 1989 so (oder zumindest so ähnlich) anlässlich der Feiern zum 40-jährigen Bestehen der DDR formulierte. Mittlerweile ist die Wendung längst unverzichtbarer Bestandteil des abendländischen Zitatenschatzes, mittlerweile hat sich die darin enthaltene Prophezeiung für nicht wenige einst Mächtige erfüllt, nicht zuletzt für Gorbatschow selbst; mittlerweile haben aber auch viele andere, Handwerker und Ärzte, Lehrerinnen und verarmte Bauern, erfahren, was es bedeutet, zu spät zu kommen. Zu spät beispielsweise aus den Krisengebieten Südosteuropas in den vorgeblich goldenen Westen gewandert zu sein. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, sagt der Volksmund. Und: Den Letzten beißen die Hunde.

Aida Kadragić hatte das Glück, unter den Ersten gewesen zu sein. Unter den Ersten jener Bosnier, die ihre Heimat auf der Flucht vor dem Krieg verließen. So hat sie heute einen gut bezahlten Job samt Arbeitserlaubnis, ist kein sogenannter De-facto-Flüchtling, sondern schlicht – und euphemistisch – „Gastarbeiterin“. Aida Kadragić ist integriert. „Gekommen bin ich am 29. Dezember 1992“, erzählt sie. „Der Krieg hatte im April angefangen. Wir hatten kein Gas, keinen Strom, kein Wasser in Sarajewo. Und da hab‘ ich mir gedacht: Ich könnte über den Winter weggehen, zu Verwandten nach Wien, um mich zu erholen.“

Sarajewo, Ende Dezember 1992. Detonationen von Granaten, Schüsse von Heckenschützen bestimmen das Leben in der Stadt. „Sie schießen unerwartet, scheinbar planlos und blind, aber immer effizient, nach jedem ihrer Angriffe gibt es viele Tote, Verwundete und Verkrüppelte“, berichtet der Fotograf Zoran Filipović in seinem Buch „Ein Jahr in der Hölle“.

Dieses Sarajewo hat nichts mehr mit jenem gemein, in dem Aida Kadragić geboren wurde, zur Schule ging, zu studieren begann, für die örtliche Radiostation arbeitete. „Ich glaube, dass diese Konflikte durch die ökonomische Krise entstanden sind“, meint die Mittzwanzigerin heute. „Viele haben kein Geld gehabt, und da ist es dann natürlich sehr leicht zu sagen, du kannst keine Arbeit kriegen, weil die Moslems alle guten Stellen bekommen oder die Serben.“

In der Stadt, da habe es früher diese Unterscheidung, wer ein Moslem und wer ein Serbe sei, überhaupt nicht gegeben, erzählt Kadragić, selbst der moslemischen Volksgruppe zugehörig. „Viele Leute denken heute, wir in Bosnien, wir seien irgendwie abnormal, aber wir sind ganz normale Menschen – in abnormen Zeiten. Es hat sich so viel so rasch verändert, und die Menschen sind einfach nicht mitgekommen.“

Seit mehr als vier Jahren lebt Kadragić nun schon in Wien; doch noch immer fragt sie sich, ob es richtig gewesen sei, damals, Ende 1992, wegzugehen: „Sicher, hier ist es sehr schön, aber daheim ist daheim. Und das Zuhause, das ist eines der Dinge, für die man kämpfen sollte. Egal ob man jetzt dafür Waffen in die Hand nimmt oder nicht, ob man jetzt daran glaubt, was da all die Parteien gesagt haben, oder nicht.“

Freilich: Es war ja alles ganz anders geplant. Zwei, drei Monate Erholung in Wien, dann würde es Frühling sein in Sarajewo, dann würde auch der Krieg gewiss vorbei sein, dann würde Kadragić zurückkehren können zu ihren Eltern. Es ist nicht so gekommen. Der Winter zog sich zurück, aber der Krieg blieb. Kadragić harrte aus in der Fremde, ihre Eltern in einer Heimat, die vielleicht nicht mehr die ihre war.

Im Oktober 1993 stirbt der Vater. Ein Granatentreffer? Eine Bombe? Aida Kadragić arbeitet zu dieser Zeit als Kindermädchen: „Als ich vom Tod meines Vaters erfuhr, wusste ich: Jetzt muss ich intensiv Deutsch lernen, jetzt muss ich mir einen besseren Posten suchen, jetzt bin ich vielleicht diejenige, die auch für die Mutter sorgen muss. Die war natürlich völlig mit den Nerven fertig, ihr Mann nicht mehr am Leben, das einzige Kind weit weg.“

Kadragić findet wenig später Arbeit in einem Fitnessklub in Wien-Fünfhaus. Dort steht sie seither gut 40 Wochenstunden in der Rezeption, teilt Garderobenschlüssel aus, kassiert Eintrittsgebühren, reserviert Squash-Court-Stunden. Ob sie in Wien bleiben wird? „Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll. Ich bin zufrieden mit meinem Job, aber man kann das nicht ein Leben lang machen. Hier etwas anderes zu tun, beispielsweise zu studieren, das ist ziemlich schwierig. Meine Matura wird nicht anerkannt. Ich müsste eine Studienberechtigungsprüfung machen, aber dazu muss man mindestens fünf Jahre in Österreich sein. Das wird sich alles erst im nächsten Jahr entscheiden.“

Vieles sei am Anfang fremd gewesen, aber: „Man gewöhnt sich daran. Und irgendwann beginnt man, dafür Gefühle zu entwickeln. Es ist wirklich schwierig: Wenn ich in Wien bleibe, bin ich traurig, dass ich nicht zu Hause bin, und wenn ich zurückgehe, bin ich traurig, dass ich nicht mehr in Wien bin. Menschen meines Alters, Menschen, die Anfang der Siebziger geboren sind, wir sind eine verlorene Generation. Wir haben in der Heimat etwas angefangen, das ist durch den Krieg zerstört worden. Wir haben vier, fünf Jahre verloren, in denen man eigentlich seinem Leben die Richtung gibt. Jetzt versucht jeder verzweifelt, irgendetwas aus dem Leben zu machen. Manche sind bis nach Australien ausgewandert, andere leben wieder in Sarajewo. Und ich? Ich weiß eigentlich nicht, wohin.“


Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 10. Mai 1997

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