Comics, queer: Frau und Mann und all die anderen

So queer waren Comics noch nie! Vom Gesellschaftspsychogramm bis zur Superhelden-Satire: Graphic Novels zwischen neuem Selbstverständnis der Geschlechter – und dem alten Spiel von Macht und Liebe.

Früher soll ja alles viel einfacher gewesen sein: Die Winter waren kalt, die Donau war blau – und unsere Geschlechtervorstellungen ähnlich übersichtlich, wie es die Wetterhäuschen vor Augen führten, die wir in guten Stuben oder in Vorgärten platzierten. Da gab’s die Frau, die bei Sonnenschein vor die Tür trat und dem Mann Platz machte, sobald der Regen nahte. Mehr nicht.

Heute erfahren wir Tag für Tag, dass unser Wetter nicht so ist, wie es sein sollte, die Donau, hören wir, war ohnehin schon alles, nur niemals blau, und kannte die Beziehungswelt bis vor Kurzem bloß „hetero“ (und hinter vorgehaltener Hand, die längste Zeit strafrechtlich verfolgt, allenfalls „homo“), weht heute über ihr die bunte Regenbogenfahne. Dazu passt dann auch, dass die Kämpfer gegen sexuelle Diskriminierung, die sich, gar nicht lang ist’s her, noch unter dem Kürzel LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) sammelten, mittlerweile acht Zeichen brauchen, um die ihnen eigene Vielfalt abzubilden: neben den gehabten vier noch Q (für Queer), I (für Inter), A (für Asexuell) und schließlich ein Sternchen für alles, was sich sonst noch (oder derzeit eben noch nicht) vorstellen lässt.

Dass dieser LGBTQIA*-Kosmos bislang keineswegs breitgesellschaftlich anerkannter Konsens ist, ja dass selbst alles, wofür L und G stehen, im konkreten Einzelfall weniger selbstverständlich scheint, als eine bis ins Altertum dokumentierte, Kunst und Mythologie prägende Geschichte erwarten lassen müsste, davon wissen auch Comic-Neuerscheinungen zu berichten, die sich in auffallender Vielzahl mit einem neuen Geschlechter(selbst)verständnis auseinandersetzen.

Nehmen wir als Beispiel einen Band, den die kanadische Comic-Autorin Diane Obomsawin, Jahrgang 1959, vorgelegt hat: „Ich begehre Frauen“. Na und, möchte man sagen. Doch was für Männer weithin als selbstverständlich gilt, ist für Frauen selbst in angeblich aufgeklärten Zeiten noch immer ein Erstaunen oder gar Stirnrunzeln wert. Je nun, wir wissen: Mit der Aufklärung ist es selbst drei Jahrhunderte nach Beginn der Epoche, der sie den Namen gegeben hat, nicht allzu weit her. Entsprechend erzählen die kurzen Episoden aus dem realen Leben lesbischer Frauen, die Obomsawin versammelt hat, viel von Scham, von Unsicherheit den eigenen Gefühlen gegenüber, von Heimlichkeiten und ja, von Repression durch eine Umwelt, die dem, was aus ihrer Sicht so und nicht anders sein muss, mehr traut als dem, was ist.

Die Lakonie, in die Obomsawin diese Berichte sprachlich wie grafisch kleidet, ersparen ihnen (und uns) jene gefühlige Übersteigerung, die Eindringlichkeit stets mehr behindert als ihr nützt. Ja, gar nicht so selten blitzt sogar Witz auf, jener Witz, der am Irrwitz des Alltags zündet.

Und wie sieht jemand die Geschlechterdinge, der eine gute Generation jünger als Obomsawin ist? In ihrem Graphic-Novel-Debüt, „Steinfrucht“, legt Lee Lai, geboren 1993 in Melbourne, heute in Montreal lebend, beredt Zeugnis ab. Hier ist nicht die spitze Pointe des entlarvend Episodischen, sondern sorgsame Differenzierung das Mittel der Erkenntnis. Und so gleichermaßen behutsam wie rückhaltlos ehrlich Lee Lai das queere Paar Ray und Bron und sein Ringen um Anerkennung und Identität zwischen Selbstzweifeln und aus den je eigenen Familien herangetragener Verunsicherung präsentiert, lässt sich schwer anderes denken, als dass Lai dabei nicht zuletzt aus eigenem Erleben schöpft.

Ein Gedanke, den auch Steven Applebys „Dragman“ nahelegt: hier ein Superheld, dessen besondere Kraft darin besteht, fliegen zu können, sobald er Frauenkleider trägt, da sein Erfinder, der sich seinerseits dazu bekennt, Frauenkleider zu tragen – doch gleichzeitig, trotz aller eingestandenen Gemeinsamkeiten, nachwörtlich darauf besteht, nicht mit seinem Protagonisten verwechselt zu werden.

In der Tat wäre es einigermaßen seltsam, Applebys burleske Superhelden-Parodie mit einer einschlägig eher selten burlesken Wirklichkeit in eins zu setzen. Im Übrigen zeugt allein die Idee, ein so testosterontrunkenes Genre wie das von Superman, Batman und Co. als Schauplatz einer Crossdresser-Fabel zu nützen, von einer nachgerade diabolischen Lust an Enthüllung durch Übertreibung.

Da überrascht es nicht weiter, dass Appleby seinen Dragman in einer Superhelden-Community platziert, deren Superheldentum sich auch sonst in nicht ganz genrekompatiblen Fähigkeiten zeigt. Man denke an Weathergirl, die darin glänzt, Zukunft genauso exakt vorherzusagen, wie es der Wetterbericht tut – was ihrem Superheldinnen-Dasein nur allzu rasch ein Ende setzt.

All das kleidet Appleby in Zeichnungen, die zwischen der quasi altmeisterlichen Kunst eines Edward Gorey und einer Ahnung von anarchistischem Underground wunderbar irisieren: vom Storyboard bis zur grafischen Gestaltung ein Vergnügen.

Apropos grafische Gestaltung: Spätestens seit Erscheinen von „Pirouetten“ (2017) zählt die heute 25-jährige US-Amerikanerin Tillie Walden zu den auffälligsten Persönlichkeiten der internationalen Graphic-Novel-Szene. Stand in „Pirouetten“ die Entdeckung eigener Homosexualität im Mittelpunkt, entwarf Walden ziemlich zeitgleich für ihre Science-Fiction-Saga „Auf einem Sonnenstrahl“, ursprünglich als Webcomic in Fortsetzungen erschienen, die Vision einer Zukunft, der die Liebe der jungen Mia zu ihrer Internatskollegin Grace genauso selbstverständlich ist wie geschlechtsneutrale Figuren – und die Absenz jeder prononcierten Männlichkeit.

Mittlerweile in ein mehr als 500 Seiten schweres Monumentalepos umgearbeitet, zeigt Waldens von sprudelnder Fabulierlust angetriebenes Raumschiffabenteuer dank eines zarten, klar akzentuierten und zugleich von Kreativität überbordenden Zeichenstils nun auch auf Papier, was Comic-Kunst in ihren herausragenden Momenten leisten kann: sinnliche und intellektuelle Berührung aus schöpferischem Überschwang.

Nicht in dieser Gegenwartswelt und dennoch mitten in unser aller Leben bewegt sich die deutsche Illustratorin Lina Ehrentraut mit ihrem Comic-Debüt, „Melek + ich“. Die Reise einer Frau in ein Paralleluniversum, in dem sie auf sich selbst trifft und mit sich leidenschaftlich in Beziehung tritt, geht weit über ein gefälliges Sci-Fi-Rollenspiel hinaus, wächst rasch zu einem existenziellen „Erkenne dich selbst“, das in Bildern zwischen rohem Schwarz-Weiß und poppiger Farbigkeit auch vor sexueller Explizitheit nicht haltmacht. „Ich denke, dass jeglicher nicht penisfixierte Sex zu kurz kommt in den Darstellungen, die es in der Popkultur gibt“, meint dazu die gebürtige Leipzigerin, Jahrgang 1993. Und: Im Übrigen entstehe erst durch Science-Fiction die Möglichkeit, „Geschichten zu erzählen, die abseits von heteronormativen Welten spielen“.

Das braucht’s für Mariko Tamaki und Rosemary Valero-O’Connell nicht: Ihre Graphic Novel „Laura Dean und wie sie immer wieder mit mir Schluss macht“ kommt in Gestalt einer mehr als biederen College-Schmonzette daher, nur dass halt die Rollen der Männer mit Frauen besetzt sind. Frederica, kurz Freddy, liebt Laura Dean, doch die, allgemein umschwärmt, liebt auch andere und wird auch von anderen geliebt. Ergebnis: eine konventionelle On-off-Beziehung, wie sie unter weniger avancierten Geschlechtervorzeichen seit Jahrzehnten ganze Staffeln US-amerikanischer Teenie-Serien füllt.

Andererseits, vielleicht wohnt solchen Klischees sogar eine Ahnung von Wahrheit inne. Wie neu auch immer unser Verständnis der Geschlechter ist: Wo zwei Menschen einander intim begegnen, bleibt’s doch stets bei dem alten, so oft tragisch-ernsten Spiel – dem Spiel von Macht und Liebe, von Nähe und Distanz.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 9. Mai 2021

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