Von „Alien“ bis „Vertigo“: Mozart-Musik im Film – ein Abriss quer durch die Kinogeschichte.
Nehmen wir einmal an, Sie wollen mit Ihrem sechsjährigen Sohn ins Kino gehen. Die Auswahl an entsprechenden Filmen ist, zumal unter der Woche, selbst in einer Großstadt wie Wien – wie war das doch gleich mit der „Kulturmetropole“ et cetera? – einigermaßen begrenzt, und so fällt die Entscheidung zwischen Pest und Cholera auf den Winnie-the-Pooh-Klon „Ferkels großes Abenteuer“ („Piglet’s Big Movie“) aus der weltbekannten Disney-Konfektionsfabrik, family values en gros und en détail. Nebenbei bemerkt: „Ferkels großes Abenteuer“ ist bei Weitem nicht das Schlimmste, was einem in diesem Segment passieren kann, die Verhunzung und Ausschlachtung großer Romanvorlagen – und jawohl, nichts weniger als groß ist A. A. Milnes „Pu der Bär“, für jeden nachzulesen in der vorzüglichen Übersetzung von Harry Rowohlt – hat eine lange Leinwand-Tradition, gerade auf dem Feld des Zeichentrickfilms haben ja (sehr kalkuliert durchgezogene) Vorlagenfehldeutungen respektive -verstümmelungen etwa von „Alice im Wunderland“, „Pinocchio“, ja selbst „Sneewittchen“ längst Klassiker-Status. Und dass die zarte Kinderseele irgendeinen bleibenden ästhetischen Schaden nimmt, ist auch nicht zu befürchten: Wir, die wir, sagen wir, mit den Karl-May-Filmen aufwachsen mussten, sind auch halbwegs anständige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden.
Sie sitzen also mit Ihrem Sohn an einem trüben Nachmittag in einem beliebigen Kino-Center, zwei, drei weitere Besucher verlieren sich in der Weite von 200 Plätzen, jetzt heißt es noch die Vorschau überstehen mit der Ankündigung jener kommenden Blockbuster-für-Kids-Sensationen, die man nicht einmal vom Wegschauen kennen will, und dann geht es los, garantiert gewaltfrei, harmoniesüchtig bis zur Selbstaufgabe, schnulzig, verlogen, kurz: ganz und gar Winnie-the-Pooh-à-la-Disney-mäßig. Winnie & Co machen sich daran, Bienen aus ihrem Bienenstock zu vertreiben, um an den Honig zu gelangen. Zu diesem Zweck greift Rabbit zu seiner Geige, kündigt Beethoven an und beginnt gar fürchterlich auf seinem Instrument zu kratzen. Und aus diesem Gekratze schält sich, immer deutlicher, dam, damdam, damdamdamdamdamdam, nein, selbstredend nicht Beethoven, Mama und Papa wollen ja auch ihren Lacher haben, sondern die Anfangstakte von Wolfgang Amadeus Mozarts „Kleiner Nachtmusik“, in Herrn Köchels Verzeichnis (in der Folge KV) unter der Nummer 525 eingetragen. Womit wir beim Thema wären.
Mozart-Musik im Film: Damit ließen sich Lexika füllen. Eine einschlägige Homepage (ja, auch das gibt es) listet unter der Adresse www.bohemianopera.com/mozartmovies.htm 263 Streifen auf: von Claude Millers „L’Accompagnatrice“ bis zu Peter Yates „Year Of the Comet. Und dass die Damen und Herren von bohemianopera.com bislang keinen mit Z beginnenden Mozart-Filmtitel finden konnten, liegt gewiss nicht daran, dass es einen solchen Filmtitel tatsächlich nicht gibt. Übrigens: Die „Kleine Nachtmusik“ ist mit 36 Nennungen weitaus meistverwendete Mozart-Piece, und wüsste bohemianopera.com um die Mozart-Klänge in „Piglet’s Big Movie“, dann wären es schon 37.
Grundsätzlich über die Zweckmäßigkeit des mehr oder minder gezielten Einsatzes klassischer Musik als akustische Filmkulisse zu philosophieren, will ich mir – und meinen Lesern – ersparen. In diesem Zusammenhang sei nur auf die einigermaßen schnoddrige Anmerkung Stanley Kubricks verwiesen, geäußert gegenüber seinem Biografen Michel Ciment: „Wie gut auch immer unsere besten Filmkomponisten sein mögen, sie sind weder ein Beethoven noch ein Mozart oder Brahms.“ Das wird die Gilde der Ennio Morricones oder Bernard Herrmanns – mit Recht – gar nicht gern gehört haben. Und wenn man bedenkt, dass hier ein in vielen Fällen hochseriöser, in manchen seiner Proponenten nichts weniger als genialischer Berufsstand, der bis zum heutigen Tag in einer breiten Öffentlichkeit mit einem Ruf des bestenfalls Kunsthandwerklichen, in der Regel jedenfalls Minderwertigen zu kämpfen hat, so ganz nebenbei in Grund und Boden gestampft wird, dann möchte man schon anmerken, dass es einer wie Kubrick eigentlich hätte besser wissen müssen.
Fakt ist freilich vice versa, dass Klassik-Fan Kubrick uns andere Klassik-Freunde die Welt unserer Töne so nachdrücklich wie kaum ein anderer bebildert hat: Man denke an die zum „Donauwalzer“ durchs All tanzenden Raumschiffe von „2001: A Space Odyssey“ (1968) oder an Alex und seine Gang, wie sie von Henry Purcells „Music for Queen Mary“ durch „Clockwork Orange“ (1970) geleitet werden. Ja mehr noch: Kubrick hat ein einigermaßen vergessenes Stück wie Richard Strauss’ Tondichtung „Also sprach Zarathustra“ so weit populär gemacht, dass es heute selbst dort, wo nichts und niemand nach Strauss, Nietzsche oder Zarathustra kräht, zumindest mit seinen monumentalen Anfangstakten zum kulturellen Kanon des akustisch Wohlbekannten gehört. Mit Mozart ist ihm allerdings Vergleichbares nicht geglückt: So ist etwa dem Marsch aus „Idomeneo“ trotz seiner Verwendung in „Barry Lyndon“ (1975) ein Avancement zum Gassenhauer versagt geblieben.
In welchen Fällen aber kommt Mozart überhaupt ins Kino-Spiel? Gibt es ein Szenen- und Handlungsprofil, das „Zauberflöte“ oder Requiem, „Jupiter-Symphonie“ oder „Le Nozze di Figaro“ gleichsam in den Soundtrack zwingt? Der einfachste Weg einer Klärung ist wohl der, sich mit solchen Fragen entlang gängiger Mozart-Klischees ins Metier vorzutasten. Und da wäre zuallererst einmal der beruhigende, seelisch ausgleichende Aspekt zu nennen, den man Mozartischen Klängen gern unterschiebt. „Moribunde hören lieber Mozart als jede andere Musik“, wusste schon Mozart-Aficionado Wolfgang Hildesheimer zu berichten. Mozart-Musik gelte „als Trost, als Sedativum, als Thymoleptikum und als Geburtshilfe“. Und wenn die Erinnerung nicht trügt, so soll es auch schon Studien gegeben haben, nach denen Kühe unter Mozart-Berieselung mehr und bessere Milch geben.
Und nun stellen Sie sich vor, Sie sind Kapitän eines Raumtransporters, Sie wissen, Sie haben sich irgendein obskures außerirdisches Wesen an Bord geholt, dessen Körperflüssigkeit Löcher in den Raumschiffboden ätzt, und die nächste Hilfe ist irgendwo im Nirgendwo. Was läge näher, als sich in solcher Lage bei ein paar Takten Musik zu entspannen? Eben. Dallas, Kapitän der Nostromo, tut es – und also kam der Mozart-All-time-Favourite „Kleine Nachtmusik“ auch in Ridley Scotts „Alien“ (1979). Der Erfolg der Therapie bleibt zweifelhaft: Dallas wird das Ende des Films nicht erleben. Wohlmeinende könnten freilich ins Treffen führen, dass es nach der kleinen Mozart-Erfrischung immerhin noch 40 Film-Minuten dauert, bis auch der Kapitän der mysteriösen Bestie, designed by H. R. Giger, zum Opfer fällt.
Eher wenig erfolgreich gestaltet sich auch ein regelrechter Psychotherapie-Versuch mit Mozart. Zugegeben, der Fall ist schwierig. Der Expolizist Scottie Ferguson hat nacheinander erst einen Dienstkollegen und dann auch noch die Geliebte – so scheint es ihm zumindest – in den Tod stürzen sehen, ohne selbst, höhenängstlich, wie er nun einmal ist, eingreifen zu können. Kein Zweifel, das hätte auch robustere Naturen in die psychiatrische Klinik gebracht. Und welche Behandlung hält man hier für ihn bereit? Richtig! „I talked to the woman in musical therapy, and she said that Mozart is the boy for you“, erläutert ihm seine – streng platonische und, eh klar, mütterliche – Freundin Midge, ein Satz, mit dem sie in so ziemlich jeder „Vertigo“-Zitate-Sammlung präsent ist. So weit, so einfach. Kompliziert wird die Sache dann, wenn man danach fragt, welches Mozart-Werk denn Alfred Hitchcock und Bernard Herrmann für diese Szene als – im Übrigen selbstredend wirkungsloses – Therapeutikum erwählt haben. Als ich 1990 zum ersten Mal den Themenkomplex „Mozart im Film“ recherchierte, für ein Buch, das im Jahr darauf unter dem Titel „Amadeus & Co“ veröffentlicht wurde, blieb es mir verwehrt, das Stück einordnen zu können, ja nach umfangreichen und ebenso ergebnislosen Umfragen unter besseren Mozart-Kennern, als ich einer bin, war ich fast geneigt, Bernard Herrmann habe da möglicherweise sich seinen Mozart selbst zurechtgebastelt. 15 Jahre später und mit den Möglichkeiten der Internet-Recherche in petto weiß ich es besser: Es handelt sich um das Andante di molto aus der C-Dur-Symphonie KV 338. Und ich kann mich damit trösten, dass die nicht wirklich zum Standardrepertoire des Mozartschen Œuvres gehört.
Eindeutiger liegen da die Dinge in Bertrand Bliers 1979 mit dem Auslands-Oscar ausgezeichneter Komödie „Préparez vos mouchoirs“: Hier ist es erst das Andante aus dem Klavierkonzert C-Dur KV 467, dann das Klarinetten-Konzert KV 622, das die attraktive Solange aus ihrer erotischen Lethargie reißen soll. Fast schon unnötig zu erwähnen, dass auch in diesem Fall die Mozart-Verschreibung nichts fruchtet. Solange bleibt für Mann wie Freund unnahbar – und wird nicht von Mozart, sondern erst von einem knackigen Jüngling von 13 Jahren der Welt der Lust zurückgegeben.
Wir sehen schon: Sooft uns auf der Leinwand Mozart als Rezept bei Seelenleiden aller Art präsentiert wird, sooft erweist sich seine einschlägige Wirkungskraft als wenig überzeugend. Ja fallweise bringt er einen überhaupt erst in die Bredouille, in die man ohne ihn gar nicht gekommen wäre. Man denke etwa an Robert Hamers „Kind Hearts And Coronets“ (1949): Dass da die Tochter der noblen Familie derer von D’Ascoyne den weichen Schoß ebendieser samt heimatlichem Schloss hinter sich lässt, um sich einem – nun ja, nicht einmal durch besonderen Wohlklang seiner Stimme nobilitierten – italienischen Tenor ans Herz zu werfen, das ist einzig einer Don-Ottavio-Arie aus „Don Giovanni“, „Il mio tesoro intanto“, anzulasten. Ein Fehltritt, dem die Verstoßung seitens der D’Ascoynes auf dem adeligen Fuße folgt, was wiederum den Sohn der beiden nach dem Tod der Eltern zum Rachefeldzug gegen die eigene Sippschaft inspiriert: Mozart als Spiritus rector einer fulminanten schwarzkomödiantischen Verbrecherkarriere, die summa summarum acht D’Ascoynes (allesamt gespielt von Alec Guinness) und schließlich – noch ist die Todesstrafe in England nicht abgeschafft – einen neunten, ihren Mörder (Dennis Price), das Leben kostet.
Und das soll dieselbe Musik sein, die Kühe so wunderbar zum Laktieren bringt?
Bleiben wir gleich in den Abgründen unseres Gemüts. Am besten also – denn was wäre schon abgründiger – bei Charles Bukowski. Wer nach Mozart in dem Schaffen des amerikanischen Underground-Poeten sucht, wird rasch fündig werden. Der Bukowski-Kenner Robert Sandarg hat 35 Mozart-Verweise im Bukowski-Œuvre entdeckt. Als da beispielsweise wäre: „Sie hatte riesige Schenkel / und ein gutes Lachen . . . / sie beugte sich vor, / und ich sah den ganzen Hintern, / als sie Mozart / auflegte.“ Sandarg zitiert auch einen Brief aus dem Jahr 1967, in dem „Gedanken an Mozarts Tod es Bukowski leichter“ machen, „sich sein eigenes Ableben vorzustellen, zu verspotten und anzunehmen“. Bukowski, zitiert nach Sandarg: „Well, Mozart hatte ein Armengrab“ – was nicht stimmt, aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte –, „aber er hatte einige komische und angetrunkene Gestalten an den Griffen. Well, das ist es, was zählt: Gib mir vier gute starke Totenträger, die die Kiste tragen, und lass den Chef von US-Steel den Verkehr regeln.“
Wenn ebendieser Bukowski ein halbwegs autobiografisches Drehbuch schreibt, dann darf natürlich Mozart nicht fehlen: So können wir in „Barfly“ (1987) das Bukowski-Alter-ego Henry Chinaski (Mickey Rourke) nach durchsoffener und durchprügelter Nacht sein verrotztes und verkotztes Appartement betreten sehen, können sehen, wie er das Radio einschaltet – und wir hören, genau, Mozart, genauer die ersten Takte des Klavierkonzerts C-Dur KV 503. Und wir sehen, wie Rourke/Chinaski/Bukowski dazu, gleichsam von frischer Energie durchpulst, die Fäuste ballt und so etwas wie „Treibstoff“ murmelt.
Freilich, selbst für Bukowski hat Mozart seine Grenzen. Robert Sandarg verweist auf seine Anmerkung, er brauche „eine gute Frau“ mehr, als er Mozart brauche, und auf eine kurze Passage aus „Classical Music and me“: „Mozart war nur gut, / wenn ich mich gut fühlte, / und ich fühlte mich / selten / so.“
Was aber, wenn es darum ginge, das Sichschlechtfühlen selbst akustisch sinnfällig zu illustrieren? Wär’ ja gelacht, wenn wir nicht auch auf diesem weiten Filmfeld Mozartisches entdecken könnten. Wir greifen zu dem in solchem Falle zweifelsfrei Nächstliegenden, dem Schaffen Ingmar Bergmans, und prompt stoßen wir in „Ansikte mot ansikte“ (1975) auf Mozarts Klavierfantasie c-Moll KV 475 und wie sie mit ihren wuchtigen Einleitungsakkorden so treffend wie nichts sonst das selbstmordgefährdete Gemüt der jungen Ärztin Jenny (Liv Ullman, fast möchte man sagen, wer sonst?) uns vor Ohren führt.
Wobei es allerdings klar zu unterscheiden gilt zwischen dem emotionalen Gehalt, den wir heute mit bestimmten Melodien und Akkorden verbinden, und jenem, den man zur Zeit der Entstehung, ja den der Komponist selbst damit verbunden hat. Absolute Musik, also Musik, die nicht schon mit der Absicht geschaffen wurde, Außermusikalisches zu präsentieren, „kommt zu uns als ein Reiz, mobilisiert als solcher Empfindungen, die ausschließlich ihr vorbehalten sind, und wird entsprechend der Aufnahmefähigkeit des jeweiligen empfangenden Bewusstseins verarbeitet. Wir teilen einander unsere Empfindungen mit, vergleichen unsere Assoziationen und entnehmen dem Resultat Rückschlüsse über die mögliche Befindlichkeit des Schöpfers. Gleichzeitig wissen wir“ – oder sollten es zumindest wissen –, dass die „eine Geheimnis bleiben wird“, so weit Wolfgang Hildesheimer in seinem „Mozart“-Band.
Wenn also Bergman für die Beschreibung von Jennys innerer Zerrüttung, in der Wirkung zwingend, Mozarts c-Moll-Klavierfantasie einsetzt, bedeutet das keineswegs – auch wenn dieser Fehlschluss nahe läge –, dass auch Mozart selbst zur Zeit der Komposition einigermaßen neben sich gestanden sein muss. Ein Blick in die Biografie lehrt übrigens, dass dies ganz und gar abwegig ist: Die Komposition des Werks fiel in die Zeit von Leopold Mozarts Wien-Besuch, Februar 1785, der realiter weitaus weniger melodramatisch verlief, als uns etwa Milos Formans „Amadeus“ (1984) glauben machen wollte.
Und übrigens: Auch in „Vargtimmen“ (1966), fast zehn Jahre vor „Ansikte mot ansikte“ entstanden, greift Bergman zu Mozart, wo es um das schiere Existenzielle geht: Diesmal ist es jene Szene der „Zauberflöte“, die ihn „am tiefsten berührte: Tamino ist einsam auf dem Palasthof zurückgelassen worden. Es ist dunkel. Zweifel und Verzweiflung haben ihn ergriffen. Er ruft: ,O ewige Nacht, wann wirst du schwinden? Wann wird das Licht mein Auge finden?‘ Der Chor antwortet pianissimo aus dem Tempel: ,Bald, Jüngling, oder nie!‘ Tamino: ,Bald, sagt ihr, oder nie. Ihr Unsichtbaren, saget mir: Lebt denn Pamina noch?‘ Der Chor erwidert von fern: ,Pamina lebet noch!‘ Diese zwölf Takte enthalten zwei Fragen an der äußersten Grenze des Lebens.“
An der äußersten Grenze des Lebens entlang bewegen sich auch die beiden Protagonisten in Bo Widerbergs melancholischer Ballade „Elvira Madigan“ (1967): der Geschichte der kurzen Liebe des Deserteurs Sixten Sparre zu einer Seiltänzerin namens – eben – Elvira Madigan. Das Andante des Klavierkonzerts KV 467 (wir sind ihm gerade erst in Bliers „Préparez vos mouchoirs“ begegnet) begleitet sie auf ihrer Flucht durch sonnendurchflutete Wiesen und grüne Wälder, in einen traumhaften Ausnahmezustand, der nicht von langer Dauer sein kann. Das unvermeidliche Finale mit obligater Selbstjustiz ertrinkt „in einer Szenerie überirdischen Glücks“ (Ulrich Gregor: „Geschichte des Films ab 1960“), und das so eindrücklich, dass die für den Soundtrack benutzte Klavierkonzert-Einspielung, jene von Géza Anda, bis in heutige CD-Tage das Filmplakat auf dem Cover trägt.
Zu den wundersamsten Mystifikationen, auf die der Mozart-Film-Forscher bei seinem eigentümlichen Tun stößt, gehört die Rezeption von Jean Renoirs „La règle du jeu“ (1939). Die Literatur lässt kaum Zweifel: „Es ist gewiss, dass Renoir am Vorabend der dramatischen Ereignisse“ – des Beginns des Zweiten Weltkriegs – „einen Film machen wollte, der etwas Ähnliches werden sollte wie das, was die ,Hochzeit des Figaro‘ 1784 kurz vor der Französischen Revolution gewesen ist“, meint beispielsweise Georges Sadoul. Das beweise unter anderem „die Musik von Mozart, die zur Untermalung aus ,Figaros Hochzeit‘ ausgewählt worden“ sei. Und Jean Prat beschreibt in einer Analyse des Films sogar ganz präzis, wo mit Mozart untermalt wurde: „Am Ende, genau nach dem Tod des Jurieux, erhebt sich ein Phrase von Mozart über die Stimmen der Menschen.“
Ja, tatsächlich, an der angegebenen Stelle erhebt sich etwas über die Stimmen der Menschen, aber von Mozart oder gar aus „Le Nozze di Figaro“ stammt es gewiss nicht. Ist Mozarts Beitrag am Ende gar bei den diversen Kürzungen des Films und den späteren Rekonstruktionsversuchen einfach verlorengegangen? Wenn man die wechselvolle Geschichte von „La règle du jeu“ in Betracht zieht, scheint das gar nicht unwahrscheinlich: Nach einer Uraufführung mit erzürnter Zuschauerreaktionen, die von Buhs und Zischen bis zur Demontage der Kinositze reichten, und dem bald folgenden Verbot durch die Militärzensur mit der Begründung, der Film sei „demoralisierend“, verschwand Renoirs Meisterwerk zunächst im Nichts und tauchte – in verstümmelter Fassung – erst nach dem Krieg wieder auf. In jahrelangen Bemühungen von Jean Gaborit und Jacques Maréchal rekonstruiert, erlebte „La règle du jeu“ erst 1965 den endgültigen internationalen Durchbruch.
Eine der offenkundigsten Folgen: Die Länge des Films wird abwechselnd mit 100 Minuten, 110 Minuten, 112 Minuten und 113 Minuten angegeben. Verwirrung allenthalben.
Mit einiger Sicherheit freilich fielen Mozarts angebliche „Figaro“-Zugaben zu „La règle du jeu“ keiner Verstümmelung respektive einer fehlerhaften Rekonstruktion zum Opfer. Vielmehr handelt es sich dabei vermutlich schlicht um – eben – eine Mystifikation: Dass Renoir der Geschichte einer Untergangsgesellschaft der Oberschicht beziehungsvoll ein Zitat aus Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais’ „La folle journée ou le mariage de Figaro“ voranstellte, jenes Stücks, das seinerseits Vorlage zu Mozarts „Le Nozze di Figaro“ ist, mag den Kurzschluss nahegelegt haben, es müsse sich folgerichtig unter den zahlreichen Musikstücken des Soundtracks zumindest ein bisschen Mozart-„Figaro“ finden lassen. Tut es nicht. „La règle du jeu“ ist – bis zum Beweis des Gegenteils – garantiert Mozart-„Figaro“-frei. Freilich nicht Mozart-frei: Schon der Vorspann ist mit Mozarts Deutschem Tanz Nr. 1 KV 605 unterlegt. Was dann musikalisch folgt, ist vielfach sozusagen „klassisch“ (Monsigny, Saint-Saëns, ja sogar Johann Strauss); dass aber „Mozarts ,Figaro‘-Melodien“, wie in einer älteren Ausgabe des „Lexikons des internationalen Films“ behauptet, „den inneren Rhythmus des Films“ bestimme, davon kann ganz gewiss keine Rede sein.
Was haben der „Förster vom Silberwald“ (1954) und James Bond in „The Living Daylights“ (1987) gemeinsam? Sie sind von Berufs wegen mit Feuerwaffen ausgerüstet, streifen auf ihrer Pirsch – der eine nach Reh und Hirsch, der andere nach potenziellen Weltzerstörern – nur durch ausgesucht schöne Landschaften, und dann und wann bricht irgendwo in ihrer Nähe ein wenig Mozartisches aus dem struppigen Unterholz einer banalen Dramaturgie, dem nach Almliesl-Romantik und Her Majesty’s Super-Macho lechzenden Publikum als künstlerischer Mehrwert präsentiert. Also hinein mit der A-Dur-Sonate KV 300i/331 ins Heimatfimgeschehen, hinein mit g-Moll-Symphonie KV 550 und – ja, jetzt aber wirklich – „Le Nozze di Figaro“ in die routinierte Jagd nach Spionen und Superverbrechern. Warum soll der ältliche Hofrat nicht in seinem ländlichen Domizil auf dem Spinett mozärtlich in die Tasten greifen, dieweil sich seine Enkelin Liesl in den Jäger Hubert – einen Freund Bachscher Orgelmusik – verschaut? Und dass die junge Cellistin eben noch das Allegro der g-Moll-Symphonie zu Ende spielt, um sozusagen im nächsten Augenblick ihre friedlich Kniegeige gegen ein Gewehr samt Zielfernrohr zu tauschen, wen wundert’s schon?
Hauptsache, die Kasse klingelt. der „Förster vom Silberwald“ war einer der erfolgreichsten Teile jener großen Heimatfilmwelle, die in den Fünfzigerjahren über die deutschsprachigen Lande, alles mit sich reißend, hinwegschwappte. Und auch „The Living Daylights“ vermochte trotz eklatant misslungener Neubesetzung der britischen Doppelnull mit dem Siebener hinten dran (mein Gott, Timothy Dalton!), durchaus finanziell zu reüssieren.
In beiden Fällen dient Mozart nicht nur als hübscher Kunstdekor, sondern umschreibt zugleich den Ort der Handlung: Österreich. Ob im lauschigen hofrätlichen Zimmer im tiefsten Inneralpin, wo sonst nur der Hirsch zur Brunftzeit röhrt, oder im wonnigen Wien, wo sich die Spione die Hoteltürklinke in die Hand drücken – Mozart liegt quasi in der Luft, sobald man die rotweißroten Lande betritt. Übrigens: Dass der Jäger Hubert demgegenüber Bachs Orgelwerke bevorzugt, markiert ihn sofort als „Zuagrasten“. Wo er das Orgelspiel gelernt hat? In seiner „verlorenen Heimat“, sagt Hubert düster. Die kann wohl nur weiter im Nordosten gelegen sein.
Zehn Jahre davor war Huberts Heimat noch nicht verloren, und Bach und Mozart waren nicht durch Landesgrenzen getrennt. Beide waren einfach „deutsch“, genauer: „großdeutsch“. Und auch als Deutscher ließ sich Mozart gut verkaufen. Eine Flut verschiedenster Musikerfilme ließ den Bedarf an garantiert arischen Tönen ins Unermessliche steigen, da konnte man das bisschen Freimaurerei getrost vernachlässigen. Schließlich gehörte Mozarts Musik, so Joseph Goebbels, „mit zu dem, was unsere Soldaten gegen den Ansturm des östlichen Barbarentums verteidigen“. Den Ansturm des Barbarentums aus den Ufa-Gauen hat sie auch ganz gut überstanden.
Mozart einmal österreichisch, einmal deutsch – warum nicht überhaupt als Synonym für abendländische Musik? Mao macht’s möglich. Warum? Weil Mao mit Mozart so hübsch alliteriert. Was liegt also näher, als den Dokumentarfilm über die China-Reise eines amerikanischen Violinvirtuosen einfach „From Mao To Mozart (1980) zu nennen?
Selbstverständlich hätte man das Ganze mit gleichem Recht auch „From Mao To Mendelssohn“ betiteln können, aber erstens hat Mendelssohn drei Silben, und zweitens: Wer kennt den Romantiker aus Hamburg schon? Man sieht: Mozart muss her, wenn Isaac Stern vielen freundlichen volksrepublikanischen Chinesen vor dem neugierigen Auge der Kamera ein wenig Kultur ins Haus bringt: Schubert, Brahms, Mendelssohn – und natürlich Mozart, in Konzerten und öffentlichen Proben mit lernbegierigen Studenten. Wie könnte man einer uralten Kultur denn besser musikalische Auffrischung verschaffen als mit Kompositionen, deren Schöpfer überwiegend schon länger als 100 Jahre tot sind? Da zeigt sich doch die Überlegenheit des Westens wieder einmal besonders deutlich.
Was denn wirklich wichtig gewesen ist in jenem China Maos und wie es so zugegangen sein mag, ein paar Jahre früher, knapp nach der sogenannten Kulturrevolution, davon berichtet Dai Sijie in „Balzac et la petite tailleuse chinoise“ (2002): Zwei halbwüchsige Burschen aus der Stadt werden zur Umerziehung aufs Land geschickt. Und als der kommunistische Dorfvorsteher eine Geige im Gepäck des einen entdeckt, ist das Rätselraten groß: Was mag das wohl sein? Gefährliches, bourgeoises, konterrevolutionäres Gut? Schnell zum Instrument gegriffen und – was sonst? – ein Stück Mozart angestimmt, konkret das Divertimento KV 334. Aber wie es nennen, wo doch jedes Stück europäische Kultur als westlich-dekadent und somit bedrohlich gilt. Die rettende Idee: Das Stück sei eigentlich ein Lied und heiße „Mozart sehnt sich immer nach dem großen Vorsitzenden Mao“. Wieder Mao, wieder Mozart, und doch, welch ein Unterschied. Da ist nicht mehr ein dicker Geigen-Onkel aus Amerika auf Kulturmission im Land der ahnungslosen Mandelaugen, da bekommen wir einen poetischen, manchmal ironischen, da und dort auch bitteren Einblick in ein fremdes Leben, in die Unmöglichkeit, kulturellen Austausch wie den Lauf der Welt aufzuhalten, wie auch darin, dass ein solcher Austausch vieles, auch uns selbst, verändern kann und manches gar verändern muss.
Und? War’s das mit „Mozart im Film“? Nein, natürlich nicht. Was ließe sich nicht alles noch berichten: über Werner Herzogs Kaspar-Hauser-Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“, über Luis Buñuels „Viridiana“, Pasolinis „Teorema“, Chabrols „Folies bourgeoises“, Axel Cortis „La putain du roi“, Woody Allens „Love And Death“ – und was sie alle und noch viele andere mit Mozart-Musik zu schaffen haben. Aber das hier ist nur ein kleiner Beitrag und keine Enzyklopädie. Und hoffentlich eine Anregung, sich selbst auf die filmische Mozart-Musik-Jagd zu begeben. Und wenn Sie ein besonders schönes Stück erlegt haben, dann schreiben Sie mir doch (info@wolfgangfreitag.com). Kann sein, es fehlt in meiner Sammlung noch.
Wolfgang Freitag in: Günter Krenn (Hrsg.): „Mozart im Kino“ (Wien 2005)