Bundesverfassung: Der beste Witz? Artikel eins.

Allweil lustig, fesch und munter oder: Wer die Verfassung ernst nimmt, ist selbst schuld. Über das freie Mandat unserer Volksvertreter und andere Kleinigkeiten.

Österreich ist – wer würde anderes behaupten – ein lustiges Land. Wenngleich der morgendliche Augenschein in einer Wiener U-Bahn-Garnitur womöglich wenig davon ahnen lässt, so darf doch nicht nur der Tiroler für sich in Anspruch nehmen, lustig und froh zu sein, sondern auch sonst jeder zwischen Boden- und Neusiedler See; der Befund ubiquitärer Unbekümmertheit kann schließlich hierzulande auf jahrhundertelange Tradition verweisen.

Schon dem höchsten Hochmittelalter galt Österreich als unumgänglich glücklich. Und dass sich jenes „Felix Austria“ kontinuierlich bis in die dem Vernehmen nach republikanische Gegenwart fortgeschrieben hat, trotz der vielen, sagen wir, Verwerfungen der Landesgeschichte, wird gar nicht anders zu erklären sein als durch den nimmermüden Willen, alles leicht und nichts richtig ernst zu nehmen – und sei es wider jede Vernunft und Angemessenheit.

Wo es „allweil lustig, fesch und munter“ zugeht, da wird noch das Engste nicht so eng gesehen, und wiewohl wir im Zweifelsfall gern darauf referieren, dass Vurschrift eben Vurschrift sei, lassen wir, wo es uns selbst betrifft, gern einmal drei, fünf, sieben oder neun gerade sein.

Aktuelles Beispiel (wieder einmal): Artikel 56 des hiesigen Bundesverfassungsgesetzes. Der legt in seinem ersten Absatz fest: „Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden.“ Das klingt unmissverständlich, gilt unter dem Stichwort „freies Mandat“ als demokratisches Gemeingut (und im Übrigen sinngemäß auch für Landtage und Gemeinderäte), doch mit der gelebten Praxis unserer gesetzgebenden Versammlungen hat es so gut wie überhaupt nichts gemein.

Da kann von „an keinen Auftrag gebunden“ gar keine Rede sein, da herrscht „Klubzwang“. Pardon: „Klubdisziplin“. Noch hübscher: „Fraktionssolidarität“. Kurz: Die jeweilige Partei schafft an, ihre Abgeordneten folgen. Und zwar so selbstverständlich, dass jede Abweichung vom im Grunde verfassungswidrigen Prinzip schon eine Sensationsmeldung hergibt: „Grüne Gemeinderäte stimmen frei ab“, stand da kürzlich in fetten Lettern zu lesen. In diesem unserem lustigen Land ist es – so scheint’s – halt wirklich eine Schlagzeile wert, wenn sich jemand an der geltenden Rechtslage orientiert.

Amüsant auch die Geschichte, wie es überhaupt zu dem Ausrutscher in Richtung Verfassungskonformität kam: Die Wiener Grünen, angesichts des durchaus umstrittenen Bauprojekts am Heumarkt zwiegespalten, erinnerten sich anlässlich der bevorstehenden Beschlussfassung der zugehörigen Flächenwidmung im Gemeinderat quasi als Notausgang, nein, nicht an das Bundesverfassungsgesetz, wer glaubt denn so etwas, sondern an das eigene Parteistatut, Paragraf 8.6: „Mandatarinnen und Mandatare der Grünen sind ihrem Gewissen und den Wählerinnen und Wählern verantwortlich“, steht da geschrieben, und: „Ein Klubzwang ist nicht zulässig.“

Das entspricht in seiner Rechtswirksamkeit in Ansehung hiesiger Verfassungslage einem Dekret, das der Sonne erlaubt, morgens im Osten auf- und abends im Westen unterzugehen. Lustig genug, dass man solches hierzulande in Parteistatute schreibt. Noch lustiger, dass eine Festlegung dieser Art, verglichen mit den Gegebenheiten in anderen Parteien, durchaus als demokratischer Fortschritt gelten kann.

Die Großzügigkeit, mit der da eine Partei ihren (ihren?) Gemeinderatsabgeordneten eine Entscheidung freistellt, die schon a priori nichts anderes als frei sein darf, verdankte sich wohl nicht zuletzt der Überzeugung, die Lage auch so im Griff zu haben. Wo kämen wir schließlich hin, wenn jeder Volksvertreter einfach das Volk verträte statt der Interessen einer (seiner?) Partei! Dass eine Mehrheit im Sinne der rot-grünen Wiener Stadtregierung auch unter so quasi libertinösen Abstimmungsumständen sichergestellt sei, wurde die Wiener Vizebürgermeisterin und Landesparteichefin folgerichtig nicht müde zu betonen. Und ihr Klubobmann, befragt nach dem Wie eines Klubzwangs ohne Zwang, wusste Folgendes erhellend zu berichten: „Was wir schon versuchen, ist, an einem bestimmten Zeitpunkt festzustellen, wer ist für Ja, wer ist für Nein, wer braucht noch eine Diskussion.“ Ungesagt blieb leider, wie diese Diskussion, die da womöglich noch eine/r braucht, geführt wird: mit dem guten alten Rohrstaberl, mit Flamme und Klubobmann-Schwert – oder einfach mit dem nachdrücklichen Hinweis auf die Endlichkeit alles Abgeordnetenseins?

Die publizistische Resonanz auf die zumindest scheinbare Herstellung eines immerhin in einer Fraktion verfassungsgemäßen Gemeinderat-Abstimmungszustands lieferte die erwartbaren Töne: Wer hierzulande tut, was ihm per Konstitution geheißen, setzt sich offenbar rasch dem Vorwurf aus, nicht ganz bei Trost, will sagen „chaotisch“, „unfähig zur Regierung“, jedenfalls nicht „erwachsen“ zu sein. Als würde sich politische Reife idealerweise in der Unmündigkeit politischer Akteure artikulieren. Weil in einem so lustigen Land natürlich nicht sein kann, was zwar de iure sein muss, aber de facto nicht sein darf: dass die vollziehende Gewalt von der gesetzgebenden tatsächlich getrennt, dass die sogenannt gesetzgebende ein bisserl mehr als eine fallweise bloß nachvollziehende wäre.

Was die Regierung in Bund, Land oder eben auch Stadt vorgibt, hat von den Abgeordneten der Regierungsparteien umstandslos durchgewinkt zu werden. Der perfekte Volksvertreter: ein Gesinnungsknecht, der submissest tut, wie ihm geheißen.

Wie tief das Prinzip des Untertanenstaats selbst 100 Jahre nach dem Ende der Monarchie noch in manchen Köpfen verankert scheint, erwies sich kürzlich auch in dem Vorstoß einiger – je nun – Landesfürsten, die Kompetenzen des erst 2014 installierten Bundesverwaltungsgerichts gleich wieder zu beschneiden. Was Wunder, hatte sich das doch in einem (abschlägigen) Entscheid, das Projekt einer neuen Piste für den Flughafen Schwechat betreffend, unterfangen, sich an der bestehenden Rechtslage zu orientieren. „Man hat ein Gesetz gemacht, wo man den Umweltschutz ganz besonders betont hat, und wundert sich dann, dass die Gerichte dieses Gesetz beachten“, kommentierte der Verfassungsrechtler Heinz Mayer lakonisch.

Und tatsächlich, wie heißt’s doch gleich im „Bundesverfassungsgesetz über die Nachhaltigkeit, den Tierschutz, den umfassenden Umweltschutz, die Sicherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung und die Forschung“, 2013 in Kraft getreten? „Die Republik Österreich bekennt sich zum umfassenden Umweltschutz.“ Und: „Der umfassende Umweltschutz besteht insbesondere in Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm.“ Irgendwelche Unklarheiten? Andererseits: Wer hierzulande ein Verfassungsgesetz ernst nimmt, ist eben selbst schuld, wenn er seinerseits nicht ernst genommen wird.

Wir leben halt in einem lustigen Land. Und unser bester Witz steht in Artikel eins der Bundesverfassung: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Selten so gelacht.

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 6. Mai 2017.

Weitere Artikel