Von millionenteuren Einrichtungen, die keiner verwenden will, und millionenteuren Räumen, die keiner sehen darf. Über die paradoxe Kunst des Tunnelbaus: Nachrichten aus dem Hadersdorfer Untergrund.
Der Wurzbach ist ein ruhiges Wasser. Zwischen Büschen, Bäumen und einer ins Grün geduckten Einfamilienhauskolonie gluckst er bescheiden dem Wiental, seiner Bestimmung, zu. Feuersalamander und Schwarzer Molch nennen ihn ihr Heim, und wenn ein Stück Zithermusik auf den Titel „Aus’n Wurzbachtal“ hört, dann muss es dem Charakter nach schon eine „Idylle“ sein.
Der Wurzbach kann aber noch ganz anders. Sechs Meter hat er seinen Lauf in den vergangenen Jahrzehnten Richtung Westen verschoben, dort, wo aus der Wienerwald-Idylle jäh ein Betonquader aufragt. Neu vermessen hat man seinen Lauf vor ein paar Jahren, damals, als man ganz genau wissen wollte, wie es denn hier um die Wiener Stadtgrenze steht. Denn der Wurzbach trennt Penzing, Wiens 14. Bezirk, vom niederösterreichischen Purkersdorf, die sechs Meter hat der Wurzbach Wien größer gemacht, und der Betonquader, der zur Vermessung Anlass bot, gehört zu Österreichs derzeit längstem Loch: dem Eisenbahntunnel unter dem Wienerwald.
„Notausgang Waldandacht“ stand noch vor ein paar Wochen an der Stahltür des Quaders samt einem Zettel mit dem Hinweis: „Achtung! Innovationsmessfahrten im Hochgeschwindigkeitsbereich. Öffnen der Türen und Tore verboten!!!“ Gerald Zwittnig erinnert sich: „Da wurden Abnahme- und Testfahrten durchgeführt. Das ist immer ein heikler Übergang bei so einem Projekt, wenn das jahrelang eine Baustelle ist, und plötzlich findet dann Zugbetrieb statt. Wir sind ja mit bis zu 330 Stundenkilometern gefahren, um die Infrastruktur zu testen, mit Messzügen von der Deutschen Bahn.“
Mit dem Testen ist es längst vorbei. Und auch die Rettungsübungen der Feuerwehren gehören vergangenen Zeiten an: Ab 9. Dezember rollt der gesamte überregionale Westbahnverkehr durch die gut 13 Kilometer langen Röhren, die Hadersdorf im Wiental unterirdisch mit dem Tullner Feld verbinden. Ziemlich sehr unterirdisch: An der Wien noch so gut wie niveaugleich mit Grund und Talboden, braucht es wenige hundert Meter später, beim Notausgang Waldandacht, schon ein 75 Meter tiefes Stiegenhaus, um die Gleise zu erreichen, und der Schacht, der die Röhren ein paar weitere hundert Gleismeter später entlüften soll, musste 200 Meter durch den Fels geschlagen werden, um Frischluft zu erreichen.
„Man sieht ja, das Gelände steigt hier recht schnell“, merkt Gerald Zwittnig lakonisch an. Freilich, wenn man, wie er, sein Leben damit zubringt, Berge zu durchbohren, dann hat man selbstredend schon anderes erlebt, jetzt zum Beispiel, da er sein Arbeitsgebiet vom Wienerwald zur Koralm verlagert hat, sind sehr viel höhere „Überlagerungen“ sein täglich Tunnelbauerbrot, Gebirgslasten, die Temperaturen im Gestein auf 33, 34 Grad steigen lassen. „Davon war hier keine Rede.“
Keine Rede war auch von großen Widerständen, wie sie dem Bruderprojekt Richtung Wien widerfuhren, dem Lainzer Tunnel, der Unterquerung des Lainzer Tiergartens wegen als „Wildschweintunnel“ geläufig. Kaum kürzer als der Wienerwaldtunnel, stand er von Beginn an im Mittelpunkt öffentlich vorgetragener Anrainerbesorgnis und ebenso öffentlich ausgetragener Fehde, während sich die ÖBB Infrastruktur AG quasi nur ein paar Schwellen weiter so gut wie unbehelligt durch den Wienerwald-Flysch wühlen durfte. Und nicht einmal die eine Million Kubikmeter Ausbruchmaterial, nächst Gablitz mitten im Wald, in einer alten Deponie endentsorgt, vermochten größere öffentliche Empörungen zu produzieren.
Im Wienerwald sei man „ein bisserl im Windschatten der medialen Berichterstattung“ gewesen, erinnert sich Zwittnig, der zehn Jahre lang als Projektleiter die Tunnelgeschicke lenkte. Zwar seien die Anrainer im Wurzbachtal zunächst „recht sensibel“ gewesen: „Logischerweise, am Anfang, wenn die Bevölkerung Projekte nicht kennt, gibt es eine gewisse natürliche Abwehrhaltung: Zu was ist das gut? Lärm! Staub! Was das alles kostet!“ Aber: „Wenn im Vorfeld aufgeklärt wird . . . Man ist ja in der Projektregion nur zu Gast.“ Dem Wurzbach entlang jedenfalls habe sich „alles wieder sehr gut zur Ruhe gesetzt“, rapportiert Zwittnig, als wir wieder ans Tageslicht zurückgekehrt sind.
Die eineinhalb Stunden davor haben wir im Bergesinneren verbracht, dort, wo frei laufende Menschen künftig nur zwecks Wartungsarbeiten etwas zu suchen haben. Und „im Ereignisfall“, will sagen: wenn das passiert, was niemals nicht passieren soll. Und ja eigentlich niemals nicht passieren kann. Schließlich, „die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Ereignis kommt in einem Eisenbahntunnel, ist sehr gering . . .“
So gewiss Herr Zwittnig da statistisch recht hat, so gewiss ist, dass in unser aller Köpfen ganz anderes herumspukt. Und dieses ganz andere spukt auch in den Köpfen jener, die für Regeln und Normen zuständig sind. 1999: Bei einem Brand im Mont-Blanc-Tunnel sterben 39 Menschen. Wenige Wochen später brennt es im Tauerntunnel; als sich der Qualm verzogen hat, zählt man zwölf Tote und 42 Verletzte. 2001 schließlich kollidieren zwei LKWs im Gotthard-Tunnel. Bilanz: elf Tote. Ja, all dies Unheil war nicht dem Bahnverkehr, sondern jenem der Straße geschuldet, und dennoch hat es sich unvermeidlich dem bahneigenen Vorschriftenwerk eingeschrieben. Als da wäre: die TSI SRT, will sagen die „Technische Spezifikation für die Interoperabilität“ zum Thema „Sicherheit in Eisenbahntunneln“, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union vom März 2008. Da steht beispielsweise unter Punkt 4.2.2.6.3, „Seitliche und/oder senkrechte Notausgänge ins Freie“, zu lesen: „Solche Notausgänge müssen mindestens alle 1000 Meter vorhanden sein.“ „Bei uns sind es 600 Meter“, hält Gerald Zwittnig fest, da steigen wir gerade die beiläufig 17 Stockwerke des Notausgangs Waldandacht zur Gleisebene hinunter.
Was sag ich „Notausgang“. „Sicherheitsausstieg“ lautet die offizielle Terminologie, wie ja auch stets – siehe oben – vom Ereignisfall und nicht von Brandkatastrophe, Feuersbrunst oder gar Tunnelinferno die offizielle Rede ist. Weiß eh jeder, was mit Ereignis gemeint ist. Und wer’s nicht weiß, wird es an den Vorkehrungen erkennen können, die doch mehr nach „Tunnelinferno“ denn nach „Ereignis“ ausschauen: etwa an der langen Schleuse, die den, nun ja, Sicherheitsausstieg vom Tunnel trennt. „Sobald jemand aus der Streckenröhre, ein Fahrgast beispielsweise, im Ereignisfall die Türe öffnen würde, würde da die Lüftung anspringen und einen entsprechenden Überdruck aufbauen, damit kein Rauch in diese Schleuse eindringen kann“, erläutert Zwittnig. „Das ist sehr viel spezielle Technik, von der man hofft, dass sie nie gebraucht wird.“
Ziemlich paradox, die Kunst des Tunnelbaus: Zum einen wird größter Aufwand getrieben für Einrichtungen, die man tunlichst nicht verwenden will, und die Räume selbst, die da geschaffen werden, die sollte im Idealfall keiner je zu Gesicht bekommen. Was für ein Jammer, möchte man sagen, sobald sich die Schleusentür („Die muss 90 Minuten Brand standhalten, vor allem auch hohen Drücken“) geöffnet hat und den Blick ins Tunnelinnere freigibt: Einem Felsendom gleich liegt das wuchtige Gewölbe da, knapp neun Meter hoch, mehr als 16 Meter breit und zu nichts weiter gut, als zwei Schienenpaare zu fassen. Schon möglich, dass die Weitergereisten unter uns irgendwelche antike Kolossalgemäuer wuchtiger empfunden haben oder die Hagia Sophia gewölbiger, aber für einen Kilometer hinter Hadersdorf ist das, was hier zu sehen ist, nicht so übel.
Nutzt nix. Im Regelbetrieb bleibt die betonverschalte Pracht in ewige Nacht gehüllt, und die Lampen im Handlauf, die sie jetzt, den Gleisen entlang, in wundersam mysteriöses Licht tauchen, die leuchten nach Inbetriebnahme, wir ahnen es, „nur im Ereignisfall“. Da hat man vermutlich andere Sorgen, als den seltsamen Zauber zu bestaunen, den pure Zweckarchitektur entfalten kann.
Immer an der Tunnelwand entlang wenden wir uns nach links und also Richtung Niederösterreich. „Da vorne“, Zwittnig streckt energisch den rechten Arm aus, „da vorne teilt sich der Tunnel.“ Der Wienerwaldtunnel tritt nämlich quasi zu dritt auf: Die ersten zwei Kilometer vom Wiental herauf sind – wie beim Lainzer Tunnel – zwei Gleise in einer Röhre geführt, die übrigen elf Kilometer bis zum Portal nächst Chorherrn gehen die Gleise getrennte Tunnelwege. Warum? „Weil es auf Wiener Stadtgebiet mit einem vertretbaren Aufwand möglich ist, vom Tunnel aus sichere Bereiche an der Oberfläche zu erreichen. Weiter drüben haben wir Überlagerungen von bis zu 250 Metern, da ist das nicht mehr möglich, in diesem Fall muss man zwei getrennte Röhren herstellen und die in regelmäßigen Abständen durch Querschläge mit Schleusen verbinden. Im Ereignisfall gehen Sie zum nächsten Querschlag, sobald Sie da drinnen sind, sind Sie in Sicherheit.“
Der Fahrgast freilich, der ab 9. Dezember mit 250 Stundenkilometern durch den Wienerwaldtunnel brettert, wird von all dem nichts bemerken: nichts von der Tunnelteilung, nichts davon, dass das Gleisbett durchgängig als „feste Fahrbahn“ ausgeführt ist, um für Einsatzfahrzeug aller Art befahrbar zu sein, und nichts von dem riesigen Ventilator, der, drei Meter hoch, am Tunnelgrund lauert, am Fuß des 200 Meter tiefen Abluftschachts, „so groß wie eine Jumbojet-Turbine“ und allzeit bereit, Rauch und Qualm und Ereignisdämpfe aller Art nach draußen zu expedieren.
Schon gar nicht wird er bemerken, wenn er die Grenze zwischen Wien und Niederösterreich quert. Warum sollte er auch? „Schaun Sie, da ist sie markiert.“ Gerald Zwittnig zeigt zur Tunnelwand. Tatsächlich: In Kopfhöhe sind zwei Metallschilder montiert, beide weisen ihr Links der Stadt Wien, ihr Rechts dem Land Niederösterreich zu. Nein, kein Scherz eines ironiebegabten Bauarbeiters, der sich hier, geschätzte 150 Meter unter Grund, über heimische Kompetenzschrebergärtner lustig machen wollte. „Im Ereignisfall ist die Zuständigkeit wichtig. Wenn das Ereignis da drüben passiert, ist Wien zuständig, dort die Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung. Das war denen ganz wichtig.“ Und wenn einer quer über der Grenze zu liegen kommt? Kein Problem, beruhigt Gerald Zwittnig, „so ganz streng sehen das die Einsatzorganisationen nicht, aber sie wollen wissen, wo sie fremdes Terrain betreten.“ Je nun, fremd ist halt bald einmal etwas. Und warum sollte die österreichische Welt im Wienerwaldsouterrain so ganz anders funktionieren als im Erdgeschoß?
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 7. Dezember 2012