Maler und Anstreicher hat er gelernt, aber als Maler und Anstreicher darf er hierorts nicht arbeiten. Also verdingt sich Jozef seit Jahren als Verkäufer der Wiener Straßenzeitung „Augustin“. Ausland Wien: über Zigeunerklischees und was es kostet, offen zu sein.
Wie sagt man, was man eigentlich nicht sagen darf? „Zigeuner“, so meinte jüngst der Radiomoderator des Neujahrskonzerts, dürfe man zwar nicht mehr sagen, aber „zigeunerisch spielen“ – so wie seiner Meinung nach die Wiener Philharmoniker den Csárdás aus „Ritter Pasman“ gespielt hatten –, das dürfe man ja doch noch. Und es schwang ein Hauch von Erleichterung in seiner Moderatorenrede, dass die ohnehin schon so arme Musikwelt von blindwütigen Sprachhütern nicht auch noch um diesen Zentralbegriff gebracht worden sei. Andererseits: „Zigeunerisch spielen“ – wie genau mag man sich das vorzustellen haben? Ein bisserl schlampig, ein bisserl schmutzig, ein bisserl frech – wie er halt so ist, der Zigeuner an sich?
Ordentlich, blitzsauber und brav kommt dagegen die Aussage eines Wiener Revierinspektors daher: „Ich kann mich an eine Amtshandlung von Kollegen X mit Personen, die dem Stand der Roma zuzuordnen sind, nicht erinnern. Ich kann nur angeben, dass mit den Roma zuordenbaren Personen fast täglich Amtshandlungen geführt werden.“ Da ist es wieder, das „Zigeunerische“, jetzt heißt es „den Roma zuordenbar“. Und ich sehe den Herrn Revierinspektor gleichsam leibhaftig vor mir, wie er sich über der Wendung „den Roma zuordenbar“ fast die Zunge bricht. Oder den Protokollanten, wie er die ein wenig anders tönenden Originaläußerungen des Herrn Revierinspektors auf korrektes Amtsdeutsch zurechtbiegt. Anlass der Aussage vor dem polizeiinternen „Büro für besondere Ermittlungen“: eine, je nun, sagen wir „umstrittene“ Amtshandlung in der Karlsplatzpassage an drei „den Roma zuordenbaren“ Personen. Aber wie genau macht man das denn, Personen „den Roma zuordnen“? Oder sagen wir’s doch frei heraus: Wie schaut er denn so aus, da Zigeina?
Jozef sitzt vor mir, nicht gerade wie aus der Operette gerissen: untersetzt, rundliches Gesicht, na gut, aber schon der Teint . . . nicht ganz so dunkel, wie uns die Faschingsschminke „Zigeuner“ seit Kindertagen glauben machen will. Und Geige hat er auch keine in der Hand. Nein, Jozef ist nicht Musiker. Und auch nicht Scherenschleifer. Schon gar nicht – wie heißt das doch gleich? – „Berufsverbrecher“. Jozef hat Maler und Anstreicher gelernt. Er spricht zu Hause nicht Romanes, sondern ungarisch. Seine Staatsbürgerschaft: slowakisch. Als „Fahrender“ immerhin, um ein weiteres Zigeunerklischee abzuhaken, mag er durchgehen, freilich in ziemlich anderer Weise, als man es „Zigeunern“ landläufig nachsagt: Jeden Montag fährt er von seinem Heimatort, Hodejov in der Slowakei, 360 Kilometer nach Wien, jeden Samstag wieder retour: „Kommen Kollega mit Auto, fahren nach Österreich“, erzählt Jozef und: „Meine Kollega Margaretengürtel eine Zimmer, eine kleine Küche, ich kommen hier schlafen. Eine Matratze und schlafen.“
Warum er seit Jahren Woche für Woche den weiten Weg auf sich nimmt? Weil er nur hier die Möglichkeit hat, ausreichend Geld zu verdienen – für sich, seine Frau und seine drei Kinder: „Zwei Jahre zurück große Regen, viele Wohnungen alles kaputt, auch meine Wohnung, muss alles neu machen, die Isolierung. Baustatik kommen, schauen alles an, sprechen: muss reparieren alles. Nix mit drei Kindern: ein Mädchen 19 Jahre, zweites Mädchen zwölf, kleiner Bub elf. Kinder krank, kommt Doktor, nix Geld wegen Reparatur. Ich sprechen Bürgermeister, bitteschön Hilfe. Er: Tut mir leid, aber viele Leute Probleme, nicht nur deine Leute.“ Und weil er zu Hause keine Arbeit bekommt, und weil er in Wien (noch) nicht das tun darf, wofür er ausgebildet ist, verdingt er sich als Verkäufer der Wiener Straßenzeitung „Augustin“. „Das ist Superprojekt“, sagt er und strahlt. Was er vielleicht nicht weiß: wie sehr dieses „Superprojekt“ gerade mit seinem Engagement für Arbeitsmigranten wie ihn derzeit zu kämpfen hat.
„Man kann die Situation durchaus bedrohlich nennen“, meint Robert Sommer, „nicht existenzgefährdend, aber bedrohlich.“ Wir sitzen in der „Augustin“-Redaktion in der Reinprechtsdorfer Straße, Wien-Margareten, und der „Augustin“-Mitbegründer und -Herausgeber gibt ökonomische Daten und Fakten zu Protokoll: „Im Jahr 2005 haben wir die größte Auflage gehabt und rund 40.000 Stück pro Ausgabe verkauft, heute sind es um 10.000 weniger.“ Die Gründe dafür sind für Sommer offenkundig: „Meiner Meinung nach hängt das mit einem Imageverlust zusammen: Unsere Verkäufer stammen mehr und mehr aus Osteuropa, viele von ihnen aus slowakischen Roma-Siedlungen, und die werden hier als die gesellschaftlich Unerwünschtesten wahrgenommen. Wir beim ,Augustin‘ stehen den Menschen, die da kommen, sicher am empathischsten gegenüber, aber gleichzeitig ist das ein großes Risiko für unser Projekt.“
So weit, so klar. Bei anderen Medien läge da die Frage nahe, warum man sich diesem Risiko überhaupt aussetzt. Aber wer sich als „Plattform der Marginalisierten“ definiert, tut sich naturgemäß schwer, mit dem Ausgrenzen zu beginnen, noch dazu an den äußersten Rändern der Gesellschaft. Und außerdem, so Robert Sommer: „Für uns ist es ein großer Wert, dass alle Arten von Armut bei uns berücksichtigt werden. Nicht nur die Obdachlosen, nicht nur die Langzeitarbeitslosen, nicht nur die Flüchtlinge, sondern all diese Gruppen gemeinsam und noch ein paar mehr. Zu dieser Buntheit stehen wir, für mich ist es einer der größten Erfolge des ,Augustin‘, dass das so funktioniert, und das wollen wir auch aufrechterhalten.“ Unausgesprochener Nachsatz: auch wenn dafür womöglich ein gar nicht so kleiner Preis zu zahlen ist.
Freilich, es ist nicht die erste Krise, in die der „Augustin“ aufgrund seiner sehr spezifischen Form des Vertriebs gerät. Bei der Gründung, 1995, ist alles noch ganz einfach. Die zunächst monatlich, heute vierzehntägig erscheinende Zeitschrift, von Beginn an Tribüne für Informationen, die anderweitig kaum eine Chance haben, die Öffentlichkeit zu erreichen, soll über ihre Verteilung vor allem Obdachlosen eine Einkunftsmöglichkeit bieten. Dazu wird der „Augustin“ nicht über übliche Wege wie Abonnement oder Trafiken vertrieben, sondern einzig über den Straßenverschleiß: Die Verkäufer erwerben eine (heute auf 300 Stück limitierte) Anzahl von Exemplaren um den halben Verkaufspreis, die andere Hälfte bleibt ihnen nach Verkauf der Exemplare als Einkommen. Wobei das Konzept vom ersten Tag weg nicht auf eine spätere „Integration“ der Verkäufer in ein vermeintlich „geregeltes“ Arbeitsleben zielt. Robert Sommer: „Wir wollten nicht die Illusion verbreiten, dass diese Menschen sozusagen integrierbar sind. Diese Obdachlosen, nicht wenige davon Alkoholiker, manche mit psychiatrischen Diagnosen, die sind nicht erwünscht. Sie brauchten einfach eine Arbeit, wie sie sie bei uns vorfinden. Die meisten von ihnen haben gute und schlechte Phasen. Wenn sie gut drauf sind, verkaufen sie den ,Augustin‘, wenn es ihnen schlecht geht, tun sie halt nix. Und so etwas ist sonst in der Wirtschaft nicht zu kriegen.“
Die „Augustin“-Verkäufer der ersten Generation waren also „eine Handvoll österreichische Sandler, durchwegs Männer. Darunter“ – so Robert Sommer – „richtige Originale, die den ,Augustin‘ geprägt haben. Leute, bei denen man einfach gern den ,Augustin‘ gekauft hat, Leute mit Schmäh. Die Leser haben durch die Verkaufssituation überhaupt erst die Chance gehabt, mit denen ins Gespräch zu kommen, in ein Milieu hineinzuschnuppern, das ihnen sonst verschlossen blieb.“ Und vor allem: „Für viele war es auch sehr wichtig, dass diese Verkäufer Inländer waren.“
Das bekommen die „Augustin“-Macher rasch zu spüren, als sich ums Jahr 2000 die Verkäuferszene drastisch ändert. „Da ist ein ganzer Schwung von Afrikanern nach Österreich gekommen“, erinnert sich Robert Sommer. „Die Organisationen der Flüchtlingshilfe waren überfordert von diesem Ansturm und haben viele zu uns geschickt. Und das war ein erster Bruch. Damals sind viele bisherige Käufer weggefallen, weil sie aus einer schwarzen Hand keine Zeitung nehmen wollten. Manche Anrufer haben sogar mich als Mitbegründer belehrt, wofür ich das Projekt gemacht habe: nämlich ,für unsere Armen‘.“
Auch unter den Verkäufern selbst habe es „Ressentiments gegen die neuen Kollegen“ gegeben: „Die hatten den Vorteil, psychisch und physisch fit zu sein – im Unterschied zu den österreichischen Verkäufern, den Obdachlosen, die ja alle ruinierte Körper haben. Die Schwarzen konnten besser verkaufen, disziplinierter, regelmäßiger, länger und waren dadurch auch erfolgreicher.“
Auf den Verkauf dagegen wirkte sich dieses unfreiwillige Revirement – nach einer Phase der Eingewöhnung – nicht nachteilig aus: „Vor allem Studenten und junge Urbane“, weiß Sommer, „haben bei den Afrikanern lieber gekauft als bei anderen. Die haben uns sozusagen eine neue Leserschicht erschlossen.“ Und heute, Herr Sommer? „Derzeit haben wir 450 registrierte Verkäufer. Die teilen sich grob in drei Gruppen: die Gruppe der Obdachlosen, Langzeitarbeitslosen, Alkoholiker mit einem österreichischen Pass, dann die Gruppe der afrikanischen Asylwerber, die dritte Gruppe sind Armutspendler aus Osteuropa, die meisten aus der Slowakei, darunter viele Roma. Und das ist eine Verkäuferschicht, die nicht mehr wie die Schwarzen ambivalent beurteilt, sondern fast durchwegs abgelehnt wird.“
„Du schmutziger Zigeuner“, soll er gesagt haben, der Herr Polizist. Und misshandelt soll er ihn haben, den, den er „schmutziger Zigeuner“ genannt haben soll. Stimmt nicht, sagt das Einvernahmeprotokoll des „Büros für besondere Ermittlungen“: „Festgehalten wird, dass mit den Beteiligten zu jedem Zeitpunkt der Amtshandlung höflich und respektvoll umgegangen wurde. Es kam zu keinem Zeitpunkt zu einem untadeligen Verhalten seitens des Kollegen X und meinerseits. Der Ausdruck ,Zigeuner‘ wurde weder von mir noch von Kollegen X gebraucht.“
Und so können wir uns also ausmalen, wie da im Oktober 2008 bei einer Amtshandlung in der Polizeiinspektion der Karlsplatzpassage ein Exekutivbeamter innerhalb weniger Minuten insgesamt neun Organstrafverfügungen an drei teils durchaus widerständige Personen verteilt hat: höflich, respektvoll, untadelig. Und dass er die drei ganz bestimmt niemals nicht „Zigeuner“ genannt hat, versteht sich ja eigentlich von selbst. Die Staatsanwaltschaft Korneuburg jedenfalls hat das dazu passende Ermittlungsverfahren im Jänner 2009 eingestellt.
Was wäre denn schon anderes zu erwarten, wo der gesellschaftliche Konsens, „Zigeuner“ betreffend, doch ohnehin nur die Schuldsvermutung kennt. Es gilt die Schuldsvermutung, wenn eine „den Roma zuordenbare Person“ in einer Wiener U-Bahn-Passage einfach nur herumsteht. Es gilt die Schuldsvermutung, wenn in der Nähe einer Romasiedlung gestohlen, geraubt, gemordet wird. Und gar nicht so selten gilt die Zigeunervermutung, wo irgendetwas geschieht, was wir als jedenfalls ungehörig empfinden.
Die ziehharmonizierenden Nervensägen, die seit Monaten Wiener U-Bahn-Passagiere mit ihren durchdringenden Tönen belästigen – das können doch nur Zigeuner sein. Die Bettlerin mit dem Kind, die hinter mir herschimpft, weil ich ihr nichts gegeben habe: Das können doch nur Zigeuner sein. Und der „Augustin“-Verkäufer, der mir das von mir erworbene Exemplar nicht aushändigen will: Na sicher, ein Zigeuner. Weil ja auch sonst alles in unserem großen Zigeunertopf landet, was halbwegs nach östlicher Armseligkeit aussieht. Und wenn dann einer oder mehrere oder ganze Dörfer verfolgt, ausgewiesen, ausgesperrt werden, dann sagen wir: selber schuld. Die haben ja nichts Besseres verdient. Nachzulesen in jedem Online-Forum zu einschlägigen Sachverhalten.
Kein Rauch ohne Feuer? Kann schon sein. Aber was wissen wir wirklich von den Bedingungen, die Menschen, nur so zum Beispiel, dazu treiben, von ihren Kapos in irgendwelche Wiener Abbruchhäuser gestopft zu werden und die solchermaßen anstehende „Miete“ durch Bettelei abdienen zu müssen?
Sicher, selbst ein Empathisant wie Robert Sommer hat keine Freude, wenn unter dem Deckmantel des „Augustin“-Verkaufs das ganz zufälligerweise knapp vor den Wahlen verhängte Wiener Bettelei-Verbot umgangen wird, wenn „Augustin“-Ausweise gefälscht werden, um am Vertrieb mitnaschen zu können. Aber: „Man muss das doch verstehen: Viele dieser Menschen kommen aus slowakischen Romasiedlungen, in denen es eine 90-prozentige Arbeitslosigkeit gibt; wenn sie dort eine Arbeit kriegen, dann kriegen sie nicht die landesüblichen Löhne, sondern eben nur Löhne für Zigeuner, bestenfalls 200 Euro. Im Monat. Da ist sogar betteln noch lukrativ. ,Augustin‘ verkaufen sowieso.“ Und Riki Parzer, „Augustin“-Sozialarbeiterin der ersten Stunde, ergänzt: „Armut erlaubt vieles.“ Richtig. Aber wie vieles. Und was alles. Und was genau erlaubt Armut nicht mehr? Oder besser: Wie könnten Verhältnisse aussehen, in denen nicht mehr erlaubt sein muss, was nicht erlaubt ist?
„Einerseits müssen wir unsere registrierten Verkäufer schützen“, weiß Robert Sommer, „aber wirklich schützen könnten wir sie nur mit polizeiartigen Methoden. Und das kommt für uns verständlicherweise überhaupt nicht in Frage. Wir sind in einem Dilemma.“ Und dieses Dilemma kennt jeder, der heute wachen Sinnes durch Wien geht: Es ist das Dilemma zwischen Offenheit und dem Bedürfnis nach jener Ordnung, die es uns überhaupt erst ermöglicht, offen zu sein.
Jozef schaut mich fragend an. Ob es ihm gut gehe in Österreich? Ja was denn sonst! „Hier viele Leute mit gute Herz. Nix Slowakei, Ungarn, Tschechien. Österreichische Leute gute Leute“, sagt er. Wir stehen, wo er immer steht, in der Stephansplatzpassage. Und wie um Jozef zu bestätigen, drückt ihm eine Frau ein Frühstückssackerl aus der nahen Großbäckerfiliale in die Hand.
Seine Zukunft? Jozef will in Wien bleiben. Auf Dauer. Und er sehnt schon den Tag herbei, an dem der hiesige Arbeitsmarkt für Bürger der Slowakei geöffnet wird. Am 1. Mai ist es so weit. Ab da will Jozef wieder Maler und Anstreicher sein. „Kein Ansturm von Ost-Billigarbeitskräften“ sei für den 1. Mai zu erwarten, stand jüngst zu lesen. Auch Jozef stürmt nicht an. Er ist schon da.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 8. Jänner 2011