Willensstark, egomanisch, unwiderstehlich: Drei Jahrzehnte lang raste James T. Kirk, Kommandant des Raumschiffs Enterprise, als maskulines Urbild durch Zeit und Raum. Im neuen Star-Trek-Film ereilt ihn der Tod. Sind die Tage der Helden vorbei? Ein Nachruf in die Zukunft.
Erst war es streng gehütetes Geheimnis. Dann machte es als Gerücht die Runde. Jetzt ist es auch hierzulande Gewissheit: Das Unvorstellbare ist eingetreten – James Tiberius Kirk, Kommandant des Raumschiffs Enterprise, ist nicht mehr. Seine Mission im 23. Jahrhundert, „to boldly go where no man has gone before“, hat ein vielfach beklagtes Ende gefunden.
Die Bilder seines Todes, derzeit zu sehen in den heimischen Kinos, beweisen es: Was uns „Star Trek – Treffen der Generationen“ zeigt, lässt kaum Zweifel offen. Freilich: Sollte James T. Kirk tatsächlich einfach ein Wesen aus Fleisch und Blut, sterblich wie du und ich gewesen sein, jener James T. Kirk, der uns 78 Fernsehfolgen und sechs Kinofilme hindurch untrügliche Beweise seiner jenseitigen Fähigkeiten auf den verschiedensten Gebieten geliefert hat?
Nein, zu genau können wir uns seiner und seiner Taten erinnern: Wie haben wir um ihn gebangt, als er mit dem Einfühlungsvermögen des genialen Psychologen den amoklaufenden Computer M-5 in letzter Sekunde so weit brachte, sich selbst zum Tode zu verurteilen. Wie haben wir um ihn gezittert, als er den übergeschnappten Lieutenant Commander Benjamin Finney durch den Maschinenraum der Enterprise prügelte. Wie haben wir ihn bewundert, als er – durch eine Funktionsstörung des Strahlentransporters in einen Doktor James und einen Mister Kirk gespalten – letztlich doch wieder zu einem großen Ganzen, einem ganz Großen wuchs.
Kein Feind im All, dem er nicht gewachsen gewesen wäre, kein Problem, das er nicht gelöst hätte. Sein Rezept: die Tat. Don’t talk, just do it. Jawohl, wir sind in friedlicher Mission unterwegs, wir sind tolerant, wir sind gesprächsbereit, wir sind zivilisierte Menschen des 23. Jahrhunderts, wir haben aus unserer kriegerischen Vergangenheit gelernt, wir wissen um die Meriten der Diplomatie; aber im Zweifelsfall verlassen wir uns lieber auf Phaser, Photonentorpedos und, wenn es not tut, auf die eigenen Fäuste.
All die heroischen Luke Skywalkers, die Jahre nach Kirk, Jahre nach jenem September 1966 unser Bewusstsein ereilten, da Raumschiff Enterprise sich zum ersten Mal auf den Bildschirmen unseres Planeten zeigte, nahmen sich neben ihm wie Pappkameraden aus, nett anzuschauen, nichts dahinter. James T. Kirk hieß der Maßstab, an dem Generationen vorgeblicher Weltraumhelden zerschellten, nicht zuletzt sein Nachfolger aus dem 24. Jahrhundert, ein gewisser Captain Picard, der 20 Jahre nach Kirk mit „Star Trek: The Next Generation“ in Warpgeschwindigkeit an die Spitzen der US-amerikanischen TV-Zuschauerzahlen raste: jeder Zoll kein Held, eher ein Verwaltungsbeamter seiner eigenen Weltraumabenteuer, die Ärmelschoner im Kopf.
Da war sein Vorgänger fürwahr aus anderem Holz – aus dem Holz, aus dem auch der Western der fünfziger Jahre seine Heroen schnitzte: Marke menschlich, allzu menschlich – und doch übermenschlich. Eine mythische Figur aus der Zukunft: Einem Odysseus des 23. Jahrhunderts gleich, steuert er durch ferne Sonnensysteme, schicksalhaft von Abenteuer zu Abenteuer, von Gefahr zu Gefahr getrieben. Doch seien es Klingonen, die ihm am Wege auflauern, seien es schaurige Weltraummonster oder geheimnisvolle Strahlungsfelder: Nichts und niemand vermag ihn aufzuhalten. Auch nicht die Sirenen, die verschiedentlich am Horizont des Alls auftauchen. Nicht er erliegt ihnen, sie erliegen ihm – und sind am Ende entweder tot oder um die Erfahrung einer schmerzhaften Trennung reicher.
Kirk ist nicht unfehlbar. Kirk hat Schwächen, Kirk irrt, Kirk fällt. Aber er erhebt sich immer wieder, kathartisch gereinigt, abermals ein Stück der eigenen Vollkommenheit näher gerückt. Mächtig thront er auf dem Kommandosessel der Enterprise-Brücke, ein Zeus, unter sich einen Olymp von Nebengöttern: den Vulkanier Spock, Gott des Verstandes, den Arzt McCoy, Herrscher im Reich der Gefühle, die schwarze Offizierin Uhura, den japanischen Steuermann Sulu und den russischen Navigator Chekov, allesamt Beschützer der Rassen- und Völkerverständigung, nicht zu vergessen Chefingenieur Scott, Hephaistos der Enterprise, der die Raumschiffwelt am Laufen hält. Ein antikes, ein archaisches Ordnungsbild, direkt aus der Zukunft in die Sechzigerjahre gebeamt.
Warum eigentlich? Zyniker könnten vermuten, die Reise der Enterprise in die Vergangenheit habe einfach das Ziel verfolgt, im ausgehenden 20. Jahrhundert nach Kräften abzukassieren. 500 Millionen Dollar Einnahmen aus sechs Star-Trek-Filmen, eine Milliarde Dollar aus dem Verkauf von T-Shirts, diversen Modellen und Enterprise-Devotionalien aller Art, ganz zu schweigen von den permanenten Geldflüssen aus den ebenso permanenten Serienwiederholungen in 75 Ländern rund um den Globus: All das wäre gewiss für einen materialistischen Erdling unserer Tage Argument genug, zu kommen – und zu bleiben.
Nicht jedoch für zweifelsfrei idealistischer gesinnte zukünftige Generationen. Captain Kirks Besuch ist wohl eher als erzieherische Maßnahme zu werten: Man schreibt das Jahr 1966. Kaum von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs befreit, zittert die Erde durch die Wirren eines kalten Krieges, der wenig Platz für Hoffnung lässt. Wie gelegen kommt da der Herr aus dem 23. Jahrhundert, der wieder an ein schöneres Morgen glauben macht, an ein Morgen der Harmonie, des Friedens unter den Völkern nicht nur der Erde, sondern des ganzen Alls – sieht man von ein paar kleinen Zwischenfällen mit unbotmäßigen Klingonen oder Romulanern ab, die Kirk mit gottähnlicher (Selbst-)Gerechtigkeit regelt.
Umso erstaunlicher, dass ihm nicht sofort jene Aufmerksamkeit zuteil wird, die er sich wohl erwarten könnte. „Star Trek“ wird 1969 antimateriebeschleunigt aus den Kanälen der NBC katapultiert. Erst im zweiten, dritten Anlauf – Vietnam, Hippiebewegung, 1968 haben ihre gesellschaftlichen Spuren hinterlassen – findet der Friedensfürst mit der starken Hand seine nach wie vor von Jahr zu Jahr anwachsende Anhängerschaft, die ihn einem Messias gleich verehrt. Und die in vielen Fällen nicht wirklich bereit ist zu glauben, hinter James T. Kirk verberge sich bloß ein gewisser William Shatner, seines Zeichens schauspielerisch unterdurchschnittlich begabter Textilkaufmannssohn aus Montréal.
Tatsächlich: Nicht Shatner ist es, der in „Star Trek“ Kirk spielt, Kirk spielt im realen Leben längst Shatner. In Person Captain Kirks wurde Wirklichkeit zur Fiktion und Fiktion zur Wirklichkeit – so lange, bis zahllose Star-Trek-Fans nicht mehr wussten, wo die eine endete und die andere begann (und das beileibe nicht nur in den USA).
Shatner selbst scheint sich mitunter nicht mehr ganz sicher zu sein, wer er denn nun sei: Man denke an seine Aussage, er und Kirk seien „irgendwann miteinander verschmolzen“. Selbst unvoreingenommene Zuschauer müssen zugeben, in Fernsehserien wie „T. J. Hooker“, vorgeblich mit William Shatner in der Titelrolle, weit und breit keinen Shatner, nur einen als Polizisten verkleideten Kirk erkennen zu können. Und mehr nach Verzweiflung denn nach Überzeugung klingt es, wenn Kirk/Shatner in einer Saturday-Night-Live-Show den Besuchern einer „Star Trek Convention“ zuruft, sie mögen doch endlich zur Besinnung kommen, es sei doch „nur eine Fernsehserie“ gewesen.
Viele wissen es besser und lassen sich von solchen Versuchen Kirks, sein Shatner-Inkognito zu wahren, nicht irritieren. Sie kennen die Personalnummer ihres Helden (SC937-0176CEC) und all die Auszeichnungen, die er erhalten hat. Und selbstredend ist ihnen auch seine Biografie geläufig. Am 22. 3. 2233 – welch magisches Datum – erblickt James Tiberius Kirk das diffuse Licht einer zukünftigen Welt, auf jenem Teil der „Föderation der Vereinten Planeten“, den man auch in jenen Tagen „Erde“ nennt. Genauer gesagt: in Iowa. Eine Stadt namens Riverside reklamiert übrigens das Recht für sich, in rund 240 Jahren Geburtsstadt des Heros zu werden. In einem Vierteljahrtausend wissen wir mehr.
Bereits mit 17 tritt Kirk in die „Starfleet Academy“ ein, die er 2254 erfolgreich – was sonst – abschließt. Es folgen Dienstjahre an Bord des Raumschiffs Farragut nebst einigen lebensbedrohenden Situationen, die Kirk allesamt gerade noch meistert. Dass ein leichtes Zögern beim Phaserschuß in eine „Vampir-Wolke“ zwar nicht ihm, aber 200 anderen inklusive seines Kommandanten das Leben kostet, ist nicht mehr als einer der Schläge des Schicksalshammers, die das Kind aus Iowa nach und nach zum unüberwindlichen Weltraumhelden schmieden.
2264 schließlich ist James T. Kirk, mittlerweile zum Captain avanciert, am Ziel seiner Wünsche: Als Kommandant der „U. S. S. Enterprise“ begibt er sich auf seine fünfjährige Reise zur Erforschung des Alls – und wird mit seinen Erlebnissen zur Projektionsfläche menschlicher Sehnsüchte des ausgehenden 20. Jahrhunderts: der Sehnsucht nach Sicherheit in einer unsicheren Welt, der Sehnsucht nach klaren Ordnungsvorstellungen in einer Zeit des Umbruchs, der Sehnsucht nach Zukunftsvisionen in einer Periode, in der alles mit der Verwaltung der Gegenwart ausgelastet scheint. Welche Sehnsüchte auch immer: Kirk stillt sie. Und er wächst zur Symbolfigur jenseits von Zeit und Raum: als männlichster Mann des Universums. Willensstark, radikal egomanisch, unwiderstehlich. Der Jäger der verlorenen Virilität. Vielleicht der Letzte seiner Art. Männerherzen schlagen höher, Frauenherzen werden schwach. Wir genießen den maskulinen Gruß aus einer Zukunft, die längst vergangen scheint – und freuen uns darüber, dem Herrn mit dem archetypischen Seelenprofil zwar auf dem Bildschirm, aber nicht im eigenen Wohnzimmer zu begegnen.
Jetzt dieses Ende nach fast 30 Jahren: das Mannsbild Kirk, gefallen im Kampf gegen einen kaum mehr als durchschnittlich universumsgefährdenden Bösewicht namens Soran. Vielleicht ist die Zeit der großen Helden ohnehin – vorderhand – vorbei: Wie der wilde Kirk den Sechzigern der USA, den Tagen zwischen Kennedy und Nixon, mag sein zahmer Nachfolger, Picard, der Ära von Bush und Clinton angemessen sein.
Also: Kirk ist tot. Lässt man uns glauben. In Wahrheit hat er sich wohl nur unauffällig in ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum zurückgezogen und harrt dort des richtigen Moments für seine Wiederkehr. Und der kommt. Immer wieder. Solange es Menschen gibt.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 25. Februar 1995