Die Trucks auf den Gräbern. Heurigensalat ägyptischer Art. Die Heimniederlage des Rekordmeisters. Und der Fall Mona Thabet. Kairo nach dem Anschlag vor der Hussein-Moschee: eine Blitzvisite.
Hamdi träumt vom Schnee. Einmal, sagt er, nur einmal in Schnee greifen. Oder gar Ski fahren. Seit Jahren, sagt er, sucht er immer wieder um ein Touristenvisum für Österreich an, aber was da an finanziellen Sicherstellungen verlangt wird, das kann er sich nicht leisten. Wir sind unterwegs mitten im tumultigen Stadtzentrum von Kairo, Richtung Gizeh, das Übliche halt. Aber Hamdi, der Fremdenführer, weilt nicht hier, am Nil, sondern in den Alpen, die er sich so wunderbar weiß vorstellt, wie sie in der winterlichsten Wirklichkeit nie sein könnten.
Erst als wir den Nil überqueren, ist er wieder auf der achtspurigen Ringstraße, die rund um die ägyptische 16-Millionen-Kapitale leitet. Das heißt, nicht ganz „rund um“: Knapp zwei Kilometer vor den Pyramiden von Gizeh versackt sie im Wüstensand, um erst etliches dahinter weiterzuführen. Ein Aufschrei der Archäologenschaft verhinderte 1995 den Ringschluss. Was naturgemäß keinen ägyptischen Trucker von halbwegs aufrechtem Charakter daran hindert, auf einer alten Wüstenpiste quer durch das Unesco-Weltkulturerbe die beiden Ringstraßenenden zu verbinden.
So qualmen und stauben die Vierzigtonner eben auf festgefahrenem Sand statt auf Asphalt knapp an Pyramiden und Sphinx vorbei über das jahrtausendealte Gräberfeld. Und keinen der Fahrer kümmert’s, wenn die versammelte Ägyptologenschaft die Ausgräberhände über dem Kopf zusammenschlägt: Wo die eingemahnte Pietät einen Umweg von gut einer Stunde nach sich zöge, da endet offenbar auch der Respekt, der hier sonst so sehr dem Jenseits gezollt wird.
Hamdi allerdings, der Oberägypter, erzählt nichts davon, dafür umso lieber Oberägypter-Witze, und auch ohne seine Erläuterung hätten wir ahnen können, dass die Oberägypter die ägyptischen Ostfriesen oder Burgenländer sind. Und dann, ganz und gar beiläufig, kommt er auf die hohe ägyptische Kunst der Parfumölherstellung zu sprechen, die er mir, selbstredend nur auf Wunsch, gerne an einer besonders hervorragenden der gut vier Dutzend besonders hervorragenden Duftölvertriebsstätten näherbringen ließe. Und selbstredend nur auf Wunsch könnten wir auch in einer besonders originalen der vier Dutzend besonders originalen Papyruswerkstätten einkehren. Nicht zu vergessen das einmaligste aller einmaligen Baumwoll-Outlets. Alles Ehrenmänner ohne Verfälschungsrisiko, alles ohne Kaufverpflichtung, na sowieso. Und alles zufällig entlang der Straße zu den Pyramiden von Gizeh gelegen – wie die vier Dutzend durch und durch erstklassigen Teppichwerkstätten, die ein paar Kilometer weiter im Süden den Weg zu den Pyramiden von Sakkara säumen. Umwegrentabilität auf Ägyptisch.
Das Blut vor der Hussein-Moschee ist weggewischt, die polizeiliche Kontrollroutine hat das Kairoer Zentrum wieder, und der Vorstand des Postamts an der nahen Sharia Al-Azhar kann wieder sanft seinen Postvorstandsschlaf schlafen. Am 22. Februar detonierte hier, unweit des Bilderbuchbasars Khan El-Khalili, ein Sprengsatz, eine 17-jährige Französin wurde getötet, gut 20 Passanten wurden verletzt. Vier Tage später deutet nichts mehr auf das Geschehene. In der Restaurantzeile am Midan Hussein haschen die Kellner wie immer nach jeder noch so kleinen Hoffnung auf geldhaltige Klientel, treiben alles, was sich auch nur einigermaßen unägyptisch ausnimmt, ihren Tisch- und Stuhl-besetzten Gattern zu, als sei nie etwas passiert. Und tatsächlich: War denn was? Das bisschen Blut, das bisschen Tod? 17. November 1997: 62 Touristen sterben bei einem Anschlag in Luxor. 7. Oktober 2004: 34 Tote bei Anschlägen auf zwei Feriensiedlungen der Sinai-Halbinsel. 23. Juli 2005: 70 Tote bei Anschlägen im Badeort Sharm el Sheikh. Und so weiter. Hausgemachter Terrorismus, regelmäßig mit dem Ziel, Ägyptens Lebensnerv, die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr, abzuknapsen. Wem soll da eine einzige läppische Tote noch sonderlich imponieren?
Und doch, vor den Pyramiden verlieren sich die Dutzendschaften, und fast möchte man meinen, hier stünden mehr Kamele als Gäste, die sie tragen könnten; der sonst bedrohlich wimmelnde Khan El-Khalili kommt dieser Tage, mitten in der Hauptsaison, daher wie die Salzburger Getreidegasse an einem verregneten Novembertag; und die Maske des Tutanchamun hat endlich freien Blick auf die Sarkophage an der Wand vis-à-vis, in denen sie jahrtausendelang unbehelligt ruhen durfte – die Belagerung durch fremdländische Legionen im Ägyptischen Museum scheint bis auf Weiteres aufgehoben. Mit dem Terrorismus freilich, meinen Kenner der ortsansässigen Reisebranche, habe all das nichts zu schaffen: Was dem bis dato weitgehend versagt blieb, mit Gästen auch längerfristige Gästezahlen zu dezimieren, das werde derzeit viel effizienter von der Weltwirtschaftsangst erledigt.
Wenn Männer kochen und Frauen weiter nichts tun müssen, als ehrerbietig Fragen zu stellen, dann sind gewiss die Kameras des Koch-TVs nicht weit. Im Abendland seit Jahr und Tag und in Ägypten ebenso. Wer könnte schließlich dem Heimchen am Herd hier wie da besser erklären, was dem nach langer Arbeitsplage heimkehrenden Manne ernährungsmäßig Freude macht, als eben ein Mann? Diesmal steht ein pikanter Snack auf dem ägyptischen TV-Programm: Erdäpfel, gekocht, gewürfelt, Zwiebel, fein gehackt, Gurkenscheiben, Wurst in kleinen Stücken, Essig, Öl darüber, Salz und Pfeffer – und fertig ist ein Wurstsalat, wie er jedem Wiener Heurigenbuffet Ehre machen würde. Kulinarische Exotik, verkehrt herum. Dazu passt, was man in Kairos neuestem Intreff, dem „Tamarai“, so in der Speisekarte führt. Graved Lachs, serviert mit Erdäpfelstückchen im Sesamhemd, oben drauf ein Tupfer Kaviar. Oder Wolfsbarsch, gebraten in Olivenöl, mit roten Linsen auf Mandelbett – während sich ein paar Straßen weiter die Armen um das staatlich subventionierte Billigbrot balgen müssen. Willkommen in der globalisierten Welt, in der überall alles möglich und zu haben ist – soweit man es sich leisten kann.
Dass von der viel beschworenen kulturellen Gleichmacherei dennoch keine Rede sein kann, beweist schon der einfache Blick aufs feminine Straßenbild – und spätestens da beginnt man sich zu fragen, ob denn nicht ein wenig Internationalisierung auch ihre Meriten haben mag. Zugegeben: Wenn der ziemlich ägyptische Mann in dem ziemlich ägyptischen Café, der da neben mir seine ziemlich ägyptische Shisha pafft, an seinem Mobiltelefon angerufen wird und als Klingelton der Donauwalzer erklingt, dann könnte man schon ins Grübeln kommen. Andererseits, bei all dem Gerede vom Kampf der Kulturen und der steigenden Erhitzung zwischen Orient und Okzident, Islam und Christentum: Liegt nicht auch etwas Tröstliches darin, dass die Moschee am Kairoer Flughafenterminal eins als nächsten Nachbarn eine McDonald’s-Filiale hat?
Die „Daily News Egypt“ berichtet über die 1:0-Heimniederlage des Fußballrekordmeisters Al-Ahly gegen Ismaili. Über die Verleihung des ägyptischen Oscar. Und auch über den Fall der Mona Said Thabet: über Folter und Vergewaltigungsdrohung in einer Polizeistation des Kairoer Stadtteils Shubra – gegen eine Frau, die nichts weiter tat, als sich für ihren Mann und gegen den örtlichen Polizeikommandanten einzusetzen.
„Am 13. Februar fuhren Polizeibeamte in einem Kleinbus vor ihrem Haus vor, verprügelten sie auf der Straße und rissen ihr die Kleider vom Körper“, heißt es dazu in einem Bericht von Amnesty International, veröffentlicht am 25. Februar. „Mona Said Thabet gab an, dass die Polizei das Feuer auf ihren Mann eröffnete, der daraufhin die Flucht ergriff.“ Der Fall Mona Said Thabet ist kein Einzelfall. Eine Untersuchung des El-Nadim-Centers für die psychologische Rehabilitierung von Gewaltopfern aus dem Jahr 2006 nennt schon in ihrem Titel Folter in Ägypten ein „Instrument staatlicher Politik“. Kein Wunder in einem Land, das seit fast 30 Jahren im permanenten Ausnahmezustand regiert wird.
Tausendundeine Nacht lang erzählt Scheherazade ihre Geschichten. Tausendundeine Nacht lang erzählt sie um ihr Leben, denn die Frauen vor ihr hat der König nach der Hochzeitsnacht töten lassen. Sie erzählt so aufregend, dass der König das Töten vergisst und nach tausendundeiner Nacht und drei gemeinsamen Kindern Scheherazade das Leben schenkt. Und dann, in der tausendundzweiten Nacht?
In der tausendundzweiten Nacht liegen die Geschichtenerzähler nicht mehr in königlichen Betten, sie streifen durch die Basare – „Welcome! Where you come from?“ – auf der Jagd nach naiven Touristen, die sich Nippes aller Art zu absurd überhöhten Preisen andrehen lassen, und erzählen um ihr Leben: „Ah, Vienna! Schön Stadt! I have friend in Vienna!“ In der tausendundzweiten Nacht scheint der Muezzin lauter denn je durch den frühen Morgen zu rufen, die Kairoer Synagoge duckt sich ängstlich hinter Beton, Sandberge und Schutzschilder aus Stahl – und wer weiß denn noch, dass sich unsere ach so christlich-abendländischen Glocken von den ägyptischen Kopten herleiten?
In der tausendundzweiten Nacht haben wir vergessen, woher das alles kam, was da tausendundeine Nacht lang erzählt wurde: aus Indien wie aus Ägypten, arabisch, syrisch, persisch, jüdisch angereichert, islamisch überformt, ein vorderasiatisches Crossover der Völker, Kulturen, Religionen, Traditionen – und in seinen Heimaten erst durch den euphorischen Widerhall des Abendlandes in voller Bedeutung wahrgenommen. In der tausendundzweiten Nacht zählt das alles nicht, zählt nur mehr, was jeder aus seiner eigenen Familie kennen wird: dass nichts wirksamer zu trennen vermag als eine gemeinsame Geschichte.
Hamdis Traum vom Schnee wird Traum bleiben. Und wenn die Sehnsucht ihn wieder einmal besonders plagt, dann kann er allenfalls in die Sharia Adly 21 fahren, ins Schweizer Restaurant „La Chesa“: Da kleben sie seit den Siebzigerjahren an der Decke, die Schneekristalle, handtellergroß, aus Plastik. Gestillte Sehnsucht sieht anders aus.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 7. März 2009