Seitenspringe, wer kann!

Tugend wider Willen? Ein Spam-Filter – und (noch) keine Affäre.

 

Im Grunde sind wir doch alle Verhinderte. So glücklich (oder so fantasielos) kann einer gar nicht in seiner eigenen Haut sein, dass er sich nicht manchmal wünschen würde, in der eines anderen zu stecken. Der umschwärmte Popstar sehnt sich nach dem einfachen Leben, der einfach Lebende danach, umschwärmt zu sein, der Fließbandarbeiter nach der Lottomillion, der Lottomillionär wiederum, nein, nicht unbedingt ans Fließband, aber mitunter vielleicht in die Zeit ohne Lottomillion zurück.

Interessant ist jedenfalls die Frage, was oder wer uns jeweils daran hindert, der zu sein, der wir gern wären. Ein Redaktionskollege etwa erzählt des Öfteren, er habe Grundseriöses, nämlich Jus, studieren wollen, seine Eltern freilich hätten ihn, unvernünftig, wie Eltern manchmal sind, zur Germanistik genötigt, was ihn heute in ein trauriges Dasein als „Presse“-Redakteur zwingt, statt als Landnotar über die wunderbaren Weiten faszinierender Testamentsablagen zu regieren. Wenngleich die Geschichte wohl nicht ganz so ernst zu nehmen ist, wie sie vorgetragen wird: Wie ernst zu nehmen sind all die anderen Veränderungsbegierden?

Ich für mein Teil bin mit meiner Profession, eben der des „Presse“-Redakteurs, durchaus eins. Doch von Kindesbeinen an zu Sittsamkeit und Ehrbarkeit angehalten, erst vom Elternhaus, dann, gut erzogen, von mir selbst, wünschte ich mir manchmal, nicht immer gar so sittsam und so ehrbar zu sein. Gewiss, regelrecht Don-Juanöses wäre von mir und meiner untersetzt-pyknischen Statur vermutlich zu viel verlangt; ein wenig mehr, sagen wir, Leichtlebigkeit sollte aber selbst mit einem Body-Mass-Index knapp über dem „Normalen“ drinnen sein. Zumal in einem Alter, Mitte 50, da einesteils der elterliche Einfluss passé ist, man andernteils dräuend jene Tage näherkommen fühlt, in denen man entsprechend Verwegenes womöglich nicht mehr kann, selbst wenn man will.

In dieser aufgewühlten Stimmung traf mich dieser Tage unvorbereitet eine E-Mail-Nachricht meiner Bankberaterin: Die bot mir, dem, wie ihr bekannt, bestverheirateten Kindesvater, höchst unverblümt einen „kleinen Seitensprung“ an.

Zwei Gründe legten mir nahe, ob solchem Offert Vorsicht walten zu lassen: Zum einen war ich der jungen Dame davor ein einziges Mal begegnet und hatte keinerlei Erinnerung an sie; zum anderen zielte der insinuierte „Seitensprung“, dem Kontext ihrer Nachricht nach, weniger auf ein amouröses Abenteuer denn auf Geschäftliches, einen Kontowechsel meinerseits zum Vorteil ihres Instituts. Sicher nicht der Boden, auf dem üblicherweise Sinnlichkeiten wachsen.

Allein, eine Bankgeschäftsaffäre ist besser als gar keine, und im Übrigen mochte die für mich das geeignete Terrain abgeben, einschlägigen Sprachgebrauch unter unverfänglichen Voraussetzungen zu trainieren. So mailte ich der Dame keck mein kontoseitenspringerisches Einverständnis zurück – und fand E-Post-wendend die brüske Ablehnung eines „System-Administrators“ in meinem Mail-Eingang: „Aus Sicherheitsgründen“ sei meine Nachricht der Empfängerin nicht zugestellt worden. Anlass der Blockade: die Verwendung des Wortes „Seitensprung“. Ein Spam-Filter hatte meine ohnehin bloß ökonomische Avance kaltherzig aussortiert.

Immerhin: Den elektronischen Tugendwächter hab ich mittlerweile überlistet. Naiv wie alle Moralisten, vermag er nicht mehr den Skandal zu sehen, hat man erst den „Seitensprung“ mit Leerzeichen zum „S e i t e n s p r u n g“ erweitert. Das letzte Bollwerk des Anstands ist gefallen. Da ist es zum Fall der letzten Hemmungen bestimmt auch nicht mehr weit. Lieb Frauen, mailt mir! Ich weiß, wie man zu antworten hat.

 

Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 18. Mai 2013

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