Eine Tonne Marmor, eine Bauurkunde auf Pergament und 14 verschwundene Münzen: wie der Grundstein der k. k. Hofoper in ein Depot im Marchfeld kam. Und warum er gegenwärtigen Stands dort bleiben wird.
Zweimal „D’ Ehre!“ grüßt der Buschauffeur. So selbstverständlich altwienerisch, als würde gleich darauf ein „Gschamster Diener!“ folgen. Aber nein, hier, vor dem Bahnhof von Leopoldsdorf, mitten im Marchfeld, zwischen Getreideäckern, Häuselbauerglück und einer Zuckerfabrik im Abendrot ihrer Existenz, bleibt’s bei „D’ Ehre! D’ Ehre!“, auch ohne das vorgesetzte „Habe“, das „D’ Ehre!“ erst zur Begrüßungsformel komplettiert.
„Wo soll’s denn hingehen?“, fragt der Chauffeur, und die Antwort, „Nach Haringsee“, nimmt er zur Kenntnis, als wär’s die erwartbarste, die sich denken lässt. Immerhin dreimal macht der Bus der Linie 541 halt in Haringsee, 657 Einwohner, seit 1970 mit Fuchsenbigl und Straudorf zu einer Großgemeinde vereinigt, und mit „Marchfeldimkerei“, Fachhandel für Kirchenbedarf und einer Bankfiliale, die dreimal die Woche für eine Handvoll Stunden öffnet, ein nachgerade vibrierendes Versorgungszentrum der Region. Nicht zu vergessen, im Südwesten, die Lagerhallen, die sich Richtung Wien strecken, als wollten sie dem Metropolitanen, in dem doch ihre ureigene Bestimmung gründet, zumindest ein Stück weit entgegenwachsen.
In Haringsee nämlich haben in den vergangenen Jahrzehnten Depots Wiener Großkulturinstitutionen eine Heimstatt gefunden: Technisches Museum, Vereinigte Bühnen und vor allem der Bundestheaterausstatter „Art for Art“ versammeln in Haringsee, was in Wien gegenwärtig nicht gebraucht wird. Allgemeinem Vernehmen nach geht der kulturelle Lagercluster auf Josef Kirchberger und nicht zuletzt auf komfortable Grundstückspreise zurück: Kirchberger, seines Zeichens 1999 Gründungsgeschäftsführer von „Art for Art“ und daselbst bis 2020 im Amt, gibt denn auch einem kleinen Platz den Namen, der sich vor der dorfnächsten Halle des „Art for Art“-Geländes öffnet.
Dass hier Dekorationsteile lagern, die teils Jahrzehnte älter sind als die Hüllen, die sie schützen, ist noch gar nichts dagegen, was an ehrfurchtgebietender Altehrwürdigkeit viele Meter weiter hinten auf dem Gelände wartet: ein massiger Marmorblock, eineinviertel Meter lang, knapp 80 Zentimeter breit, halbmeterhoch und geschätzt gut eine Tonne schwer, den die Frakturinschrift an seiner Oberseite keineswegs in die Weiten des Marchfelds, vielmehr tief unter die Erde, in ein historisches Fundament an der Wiener Ringstraße, bestimmt. „Grundstein des Hofopernhauses, gelegt am 20. Mai 1863“, steht da zu lesen. Und wüsste ich’s zu diesem Zeitpunkt nicht schon besser, es wäre schwer zu glauben, dass es damit seine Richtigkeit hat. Schließlich, was anderes hätte denn so ein Grundstein vorzüglich zu tun, als dort zu verharren, wohin ihn die Grundsteinleger platziert haben, jedenfalls solange das Bauwerk darüber steht? Und was sollte jemanden bewegen, ihn aus Wiener Abgründen in eine Marchfelder Dutzendblechhalle, zwischen leere Kunststoffkanister und einen ausgedienten Traktormotor, zu transferieren?
Grundsteingelegt wird ja seit Jahrtausenden. Und war es ursprünglich das Setzen von Ecksteinen, das die Aufgabe übernahm, formell dem künftigen Bau den Grund zu legen, wanderten die entsprechenden Aktivitäten allmählich immer tiefer in die Kellerregionen. Nebstbei wandelte sich, was ursprünglich einfach ein Stein wie viele anderen gewesen war, allmählich zum Behältnis, das allerlei Botschaften und Segenswünsche aufzunehmen hatte: Nachrichten an eine Nachkommenschaft, die irgendwann in fernen Zeiten, musste das Gebäude aus welchem Grund immer weichen, erfahren sollte, wie es ehedem, bei dessen Errichtung, zugegangen sein mochte.
Wenig überraschend, dass es das in Sachen Pomp and Circumstances nicht eben bescheidene 19. Jahrhundert war, in dem der dazu passende Kult zu üppigster Blüte wucherte. Und so dürfen wir uns in Sachen Grundsteinlegung des k. k. Hofopernhauses nicht nur einer historischen Fotografie, sondern auch einer ausführlichen Beschreibung erfreuen, wie man sich derlei 1863 vorzustellen hat. In der Baugrube, „mit Emblemen, Fahnen, Reisig, Teppichen“ angemessen komfortabel ausstaffiert, hätten sich „sämtliche hochwohlgeborenen Herren Minister, Hofkanzler, Hochwürdenträger, Hof- und Staatsbeamte, die Architekten und Baumeister, das gesamte Beamten- und männliche Sängerpersonale des Hofoperntheaters“ versammelt, wissen die „Blätter für Theater, Musik und Kunst“ zu berichten. Und: Nach Verlesung der – überaus ausführlichen – Bauurkunde samt „dreimaligem Hoch auf Seine Majestät den Kaiser“ sei „die Urkunde nebst den Plänen und laufenden Münzsorten in eine gläserne und diese in eine blecherne Kapsel getan und in den Grundstein gelegt“ worden.
Wir haben es also mit einem regelrechten Staatsakt zu tun, der da inszeniert wurde. Einem Staatsakt, der, wie die erwähnte Fotografie zeigt, durchaus die Aufmerksamkeit einer beträchtlichen Zuschauermenge auf sich zog, hoch über den grundsteinlegenden Honoratioren, auf Straßenniveau nämlich, auf eigens errichtete Tribünen platziert. Welch wunderbare Gelegenheit, auf die versammelte Hochlöblichkeit in der Baugrube, in gebührender Demut selbstverständlich, herabschauen zu können. So viel dazu, wann, wie und warum ein Grundstein ins Fundament des k. k. Hofopernhauses kam. Bleibt die Frage: Wann, wie und warum kam er von ebenda wieder heraus? Die Antwort hat sehr wenig mit Kunst und Kultur, sehr viel dagegen mit dem Zweiten Weltkrieg, mit der Zerstörung des mittlerweile zur Staatsoper republikanisierten Gebäudes und seinem Wiederaufbau zu tun. Und erstaunlich genug: Kein Bauakt und keine Chronik kann uns in dieser Angelegenheit Auskunft geben. Einzig Zeitungen haben überliefert, was geschehen ist.
So meldet das „Neue Österreich“ am 30. Mai 1952: „Bei Aushubarbeiten für die Unterbühne der Wiener Staatsoper legten Presslufthammer und Spitzhacken den Grundstein frei. Unterhalb des Decksteines fand man eine von Zinkblech umhüllte Glaskapsel. Darin lagen, umschlungen von einem goldenen Band, die auf Pergament gedruckte Grundsteinlegungsurkunde, ferner Pläne und 14 Geldmünzen, darunter eine Goldkrone, ein Golddukaten, ein Doppelgulden, ein Vereinstaler, ein Silbergulden und einige Kupferkreuzstücke.“ So weit, so durch andere Zeitungsquellen bestätigt. Die finale Prophezeiung des „Neuen Österreich“ scheint dagegen aus heutiger Sicht allzu verwegen: „Der Grundstein wird im neuen Wiener Operngebäude einen würdigen Platz finden.“ Wie man sich täuschen kann.
Zu etlichen nicht ganz unwesentlichen Sachfragen enthält sich die zeitgenössische Berichterstattung dagegen jeder Information: Wurde der Grundstein zufällig entdeckt oder womöglich absichtsvoll gehoben? Und warum in aller Welt musste er überhaupt aus dem Fundament weichen? Gäbe es irgendwelche Aufzeichnungen zum Wiederaufbau des kriegszerstörten Opernhauses, wäre derlei leicht herauszufinden, allein: Die haben sich nicht erhalten. Bestens dokumentiert – und im Staatsarchiv nachzulesen – ist dagegen noch die kleinste Kleinigkeit in Sachen laufender Betrieb, damals an der Ersatzspielstätte Theater an der Wien beheimatet: welcher Dirigent welchen Sänger/welche Sängerin in der Direktion zu protegieren geruhte oder wie viele Schilling Vorschuss an welches von Geldnöten geplagte Ensemblemitglied wieder einmal des lieben Friedens willen ausbezahlt wurde. „Der Betrieb war auch später immer viel wichtiger als das Gebäude selbst“, erinnert sich Richard Bletschacher, ab 1959 an der Adresse Opernring 2 beschäftigt, davon 14 Jahre als Chefdramaturg. Und so ist selbst ihm, dem vielleicht längst dienenden Mitarbeiter des Hauses, bis zu meiner Anfrage das Thema Grundstein noch nie untergekommen. Wie auch, dass es, nur vier Jahre vor seinem Dienstantritt, zu einer neuen, zweiten Grundsteinlegung samt neuem, zweitem Grundstein kam. Doch der Reihe nach.
Kehren wir zum Mai 1952 zurück. Der Status quo: ein tonnenschwerer Marmorblock, die dazugehörige Decktafel aus rotem, Salzburger Marmor, eine Kapsel aus Blech, eine zweite aus Glas, dazu mehrere historische Urkunden und Pläne sowie 14 Münzen, ein Teil davon aus Gold. Alles in allem ein recht umfänglicher Bestand, der dennoch, kaum aufgefunden, alsogleich öffentlicher wie veröffentlichter Wahrnehmung entschwindet. Gut möglich, dass man in jenen Tagen, Österreich ist viergeteilt, der Abschluss eines Staatsvertrags wenig mehr als Hoffnung, andere Sorgen hat als die ordnungsgemäße Archivierung noch so gewichtiger Artefakten aus vergangenen Monarchietagen.
Zumindest was den Stein betrifft, wissen wir ja mittlerweile: Der bleibt keineswegs auf Zeit und Ewigkeit verborgen. Es dauert freilich fast vier Jahrzehnte, dass er abermals von sich reden macht. Ende der 1980er wird er, herzlos beiläufig deponiert, von einem Mitarbeiter des Instituts für Österreichkunde, Bernhard Z. mit Namen, in unmittelbarer Nachbarschaft der Staatsoper entdeckt, im hintersten Winkel des Hanuschhofs nämlich, und, wichtiger noch, als das Historicum erkannt, das er nun einmal ist.
Und weil es damals verschiedene Operninteressengruppen bis hinauf zum amtierenden Bundestheatergeneral, dem nachmaligen Kulturminister Rudolf Scholten, für angemessen halten, dem marmornen Schmuckstück ein etwas repräsentativeres Plätzchen zuzuweisen, findet sich dasselbe alsbald halbwegs prominent vor die detto im Hanuschhof beheimateten Bundestheaterkassen platziert.
Doch wir wissen: Nichts bleibt, wie es ist, nicht einmal in Grundsteinangelegenheiten. Weitere drei Jahrzehnte später sind die Bundestheaterkassen im Hanuschhof Geschichte, die Heidi Horten Collection zieht ein. Und siehe, schon ist der Grundstein wieder weg. Der scheint die längste Zeit auch niemandem zu fehlen – bis Herr Z., mittlerweile im Ruhestand, eines Spätsommertags vergangenen Jahres dem Hanuschhof wieder einmal Besuch abstattet, den Fehlbestand bemerkt und sich per Mail auf die Suche begibt. Fündig wird er letztlich bei der Bundestheater Holding, woselbst man ihn – nach einigen Tagen Verzögerung, die Angelegenheit ist auch dort zunächst niemandem präsent – letztlich beruhigen kann: Der Stein sei „wohlauf“, weil in ein eigenes Lager verbracht, und im Übrigen davor noch vom Bundesdenkmalamt begutachtet und von einem Steinrestaurator gereinigt worden.
Wochen später stehe ich, von Herrn Z. über seine Suche und ihr Ergebnis auf dem Laufenden gehalten, vor der marmornen Trouvaille an deren neuer, nicht ganz standesgemäßer Heimatstatt zu Haringsee und ahne nicht im Mindesten, dass ich keineswegs am Ende, vielmehr am Beginn von Recherchen stehe. Der Stein, gewiss, der ist gefunden; doch was ist eigentlich mit all dem geschehen, was er noch 1952 in seinem Inneren getragen hat? Wohin mag es Bauurkunde, Pläne, nicht zuletzt die besagten 14 Münzen verschlagen haben?
Nachfragen im Theatermuseum bleiben genauso ergebnislos wie jene im Stadt- und Landesarchiv; in der Staatsoper verweist man darauf, sämtliche Archivalien schon vor Jahren dem Staatsarchiv überantwortet zu haben, woselbst wiederum keines der gesuchten Objekte zu finden ist. Und letztlich ist es abermals Zeitungslektüre, die noch am ehesten Erhellung bringt. Am 3. November 1955, zwei Tage vor der feierlichen Wiedereröffnung der Staatsoper, meldet die „Arbeiter-Zeitung“: „Vor dem großen Opernfest begingen einige Angehörige der Opernverwaltung Mittwochvormittag im Vestibül der neu erstandenen Staatsoper eine kleine Feierstunde. Hinter einer Marmorplatte wurden die Baupläne und einige Fotos, in einer Glas- und Kupferrolle wohlverwahrt, in die Mauer versenkt.“ Und vor allem: „Unter den Urkunden befinden sich die alten Bauurkunden, die bei den Fundamentarbeiten für die neue Bühne entdeckt wurden.“
Ende gut, alles gut? Je nun. Zumindest von den 14 Münzen wird nirgendwo wieder die Rede sein. Die bleiben verschwunden, wie heute auch niemand zu sagen weiß, wo genau im Vestibül der Staatsoper die bewusste Marmorplatte eingemauert sein mag, hinter der sich Bauurkunde & Co. befinden müssten.
Ungeklärt bleibt überdies, wie in Sachen Grundstein weiterzuverfahren ist. Seitens der Bundestheater Holding hat man zwar Herrn Z. gegenüber schon vor Monaten versichert, man wolle sich mit dieser Frage beschäftigen; sehr weit gediehen scheint derlei Beschäftigung allerdings noch nicht zu sein. Aus der Staatsoperndirektion wiederum ist in selber Angelegenheit nichts weiter als Schweigen zu vernehmen. Und so bleibt vorerst offenbar alles, wie es ist. Der Grundstein der k. k. Hofoper liegt in einer Lagerhalle zu Haringsee. Und vielleicht ist es zu seinem Besten. Gut möglich, dass er in Gesellschaft von Kunststoffkanistern und einem alten Traktormotor sogar auf mehr Verständnis stoßen wird als die längste Zeit mitten in Wien.
Wolfgang Freitag, „Die Presse“, „Spectrum“, 12. April 2025.



