9/11 & Co: Geschichte-Crashkurse in kleinen Bildern

Black Power in den 1970ern, Widerstand im besetzten Frankreich, die Anschläge von 9/11: Historisches – und wie es mit den Mitteln des Comics gefasst wird. Neuerscheinungen im Überblick.

Was ist Wahrheit? Nicht erst seit der Abfassung des Johannesevangeliums treibt uns die Frage des Pontius Pilatus um. Und gerade da, wo es um die Beschreibung, Einschätzung, Beurteilung historischer Ereignisse geht, werden wir immer wieder und quasi unvermeidlich mit dem Problem konfrontiert, dass es mehr als eine Sicht auf ein und dasselbe gibt. Ja, schlimmer noch: dass nicht nur das Wie, sondern schon das Was eines Geschehens häufig nicht mehr eindeutig zu klären ist – so denn überhaupt jemals möglich gewesen wäre, es in erhoffter Eindeutigkeit zu klären.

Von absichtsvoller Verfälschung muss da noch gar keine Rede sein. Allein die Auswahl dessen, was berichtet wird und was nicht, beeinflusst unseren Blick auf die Dinge, von deren Interpretation ganz zu schweigen. So müssen wir uns damit abfinden, es nicht mit einer einzigen Geschichtserzählung, sondern nur allzu oft mit mehreren zu tun zu haben, unterworfen dem Wandel der Zeit, unterworfen auch der kulturellen Einbettung des Betrachters, ja im Engeren sogar dessen ureigenster Lebenserfahrung, die hier wie auch überall sonst unsere Wahrnehmung der Welt und dessen, was darauf geschieht, ob wir wollen oder nicht, tief bis ins Innerste prägt.

Stets in Bewegung. Im Lauf der Jahre wachsende Erkenntnis, etwa durch das Entdecken/Öffnen/Erschließen bis dahin nicht zugänglicher Quellen, tut ein Übriges, das Feld des Historischen notorisch in Bewegung zu halten.

Ja, manchmal könnte es fast scheinen, nichts verändere sich vehementer als das, was doch tatsächlich längst geschehen ist. So produziert Vergangenheit fortwährend neuen Stoff der Auseinandersetzung, und das nicht nur fachliterarisch, sondern auch als Massenphänomen: von den Saison für Saison prall gefüllten Buchregalen voller populärhistorischer Neuerscheinungen über mehr oder minder dokumentarische Spielfilme bis hin zu eigenen Fernseh- und YouTube-Kanälen. Was Wunder, dass die Geschichte längst auch im Comic angekommen ist. Wobei Berichte aus der und über die Vergangenheit von manchen formalen Qualitäten der neunten Kunst durchaus profitieren können: insbesondere von der Konzentration aufs Wesentliche, auf textlicher Ebene wie in der grafischen Gestaltung, entwirft doch die Zeichnung stets ein klareres, übersichtlicheres Bild der Wirklichkeit, als es etwa Film oder Fotografie je vermöchten. Im Idealfall wird so, entsprechende Ernsthaftigkeit und Könnerschaft vorausgesetzt, auf vergleichsweise knappem Raum einerseits intensiver Wissenstransfer ermöglicht, der sich andererseits via Bildebene zudem emotional vermittelt. Resultat, überspitzt formuliert: historische Crashkurse mit sinnlich-künstlerischem Mehrwert.

Wer hier unzulässige Vereinfachung fürchtet, wird sich von Bänden wie Chester Browns Biografie des kanadischen Rebellenführers Louis Riel (1844-1885) rasch widerlegt sehen. Wie Brown sich dieser in der Geschichte seines Landes bis heute umstrittenen Figur annähert, für die einen Mörder und Wahnsinniger, für die anderen Freiheitsheld, wie Brown mit wenigen Strichen Riels Kampf für die Rechte der sogenannten Métis, Nachfahren von Pelztierjägern und indigenen Frauen, skizziert und gleichzeitig dem Leser nichts von Riels Widersprüchlichkeit (und jener seiner Kontrahenten auf Regierungsseite) vorenthält, macht das Werk seit seinem Erscheinen in Kanada Anfang der 2000er mit Recht zu den überzeugendsten Leistungen des Genres – was sich seit Kurzem endlich auch in deutscher Übersetzung überprüfen lässt.

So weit werden es Baptiste Bouthier und Héloïse Chochois mit ihrer jüngst erschienenen 9/11-Dokumentation zwar nicht bringen, lesenswert ist freilich allemal, was sie an Informationen zusammengetragen haben. Solang sie sich ganz und gar auf diesen „Tag, der die Welt veränderte“ konzentrieren, vermögen sie mit vielen konkreten Impressionen, wie Einzelne die Anschläge erlebten, immer wieder auch zu überraschen; erst in der Darstellung der nicht weniger fatalen (und bis heute spürbaren) Nachwirkungen bewegen sie sich allzu unkonkret auf längst ausgetretenen Deutungspfaden durchs historische Gelände.

Von Stil und Inhalt völlig anders gelagert ist, wie Hannah Brinkmann die bundesdeutsche Wirklichkeit der frühen 1970er auferstehen lässt. Brinkmann führt uns in die Geschichte ihrer eigenen Familie, genauer in die ihres Onkels, der sich, als Wehrdienstverweigerer an der schikanösen „Gewissensprüfung“ gescheitert, mit 19 Jahren das Leben nimmt. Die Bildermacht ihrer detailliert ausgefeilten Panels, die sich mit feinem Einfühlungsvermögen weit ins Innenleben ihres Protagonisten vorwagen, und die kunstvolle Verschränkung von Recherche und deren Ergebnis lassen manche kleinen Ungelenkheiten der Dialogführung rasch vergessen. Ein in jeder Hinsicht beeindruckendes, ja bewegendes Debüt der 30-jährigen Hamburgerin.

Nicht gerade zu den Debütanten, seit Jahrzehnten vielmehr zu den Großmeistern seines Fachs zählt der Franzose Baru. Seit je sind es eigene Erfahrungen, jene eines Arbeiterkindes aus ärmsten Verhältnissen, die ihn in seinem Schaffen antreiben, was ihm den Ehrentitel „Chronist der Außenseiter“ eingetragen hat.

Zuwanderer-Schicksal. In seinem jüngsten Band, „Bella Ciao“, kommt noch ein anderer Aspekt seines Lebens zum Zug: jener, Sohn eines italienischen Zuwanderers zu sein. Über mehr als 100 Jahre spannt Baru den Bogen, wenn er vom Leben jener Italiener erzählt, auf deren Hände Arbeit sich der Aufstieg der französischen Wirtschaft gründete – und vor allem davon, wie wenig es ihnen von den Einheimischen gedankt wurde. Mit gedanklicher Präzision und zeichnerischer Schärfe fasst Baru im Besonderen seiner Heimat das leider nur allzu allgemein Gültige: dass das, was wir heute beschönigend Mi grationshintergrund nennen, sich vielfach sogar noch nach Jahrzehnten immer wieder aufs Neue schmerzhaft in den Vordergrund der Existenz drängt.

Denn nein: Geschichte hat kein Ende. Und wie immer wir sie zu fassen suchen, sei es nachforschend in den Erfahrungen und im Wissen anderer, sei es autobiografisch: Sie zeigt uns selbst im besten Fall nie nur ihr je eigenes Gesicht, sondern stets auch das unsere, ein Bild, das zugleich Spiegel ist.

Wolfgang Freitag, „Die Presse am Sonntag“, 8. August 2021

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